Außer im Traum hatte der junge Lazarettleiter in seinem gesamten Leben noch nie eine grünende Pflanze gesehen. Nahrungsmittel kamen von weit her – von Orten, an denen aufgrund der Seltenheit fruchtbaren Lands ausnahmsweise nicht gekämpft wurde. In einer solchen Oase war der Zwanzigjährige als hinter wechselnden Fronten aufgewachsener Abkömmling einer Heilersippe allerdings nie gewesen. Trotzdem gehörte er zu den Privilegierten: Einerseits erhielten die großes Ansehen genießenden Mitglieder der Mediziner-Klans – soweit verfügbar – ebenso gute Nahrung wie die Angehörigen der Streitkräfte. Andererseits galten sie als an Leib und Leben unantastbar, da sie durch ihre Arbeit die Einsatzbereitschaft der Truppe sicherstellten. Dies aber galt in diesem Krieg um alles und jedes zum Überleben Brauchbare bei sämtlichen Beteiligten als wichtigste gesellschaftliche Aufgabe nach dem Kampf selbst.
Die Unantastbarkeitsgarantie bedeutete allerdings nicht, dass nicht immer wieder gesamte Lazaretteinheiten zwangsweise die Seite hätten wechseln müssen. Doch waren die Heiler daran gewöhnt und arbeiteten in einem solchen Fall einfach beim bisherigen Gegner weiter. Vom Grundsatz her dienten sie nämlich keiner der Kriegsparteien, obwohl diese letztendlich die Befehlsgewalt über sie hatten, sondern allein den Menschen selbst. Dieser besondere Status hatte mit Fortdauer des nach dem Ende des Maschinenzeitalters vor ungezählten Generationen begonnenen bewaffneten Konflikts dazu geführt, dass die Angehörigen der Mediziner-Klans eine völlig eigene, mehrsprachig aufwachsende Ethnie bildeten, der ihre verwandtschaftlichen Bande zu den vielen verschiedenen sich bekämpfenden Volksgruppen deutlich anzusehen waren.
Das äußere Erscheinungsbild des Lazarettleiters, dem noch nie etwas anderes an Pflanzlichem begegnet war als vereinzelt zwischen Schützengräben stehende, seit Urzeiten verkohlte Baumgerippe, war allerdings selbst für einen Mediziner auffallend: Über seine rechte Wange erstreckte sich eine lange, nahezu senkrecht verlaufende, tief eingefallene Narbe. Dabei handelte es sich um eine Kindheitserinnerung an den Streit mit einem gleichaltrigen Heiler-Sprössling, der das damalige Mädchen in seine Schranken hatte weisen wollen und ihm dabei beinahe das Auge ausgestochen hätte. – Ja, Mädchen: So ungewöhnlich dies scheint, hatte der Lazarettleiter trotz seines jungenhaften Auftretens die ersten elf Lebensjahre als weibliches Wesen gegolten, da männliche Geschlechtsteile sich bei ihm erst mit Einsetzen der Pubertät entwickelt hatten. Aufgrund der vergifteten Umwelt kam dieser Gendefekt recht häufig vor und galt daher im Vergleich zu anderweitigen Erbgutschäden als harmlos.
Da die direkt unter dem Auge beginnende Narbe an die Spur erinnerte, die eine über eine staubige Wange rollende Träne auf dieser hinterlässt, und das vermeintliche Mädchen überdies von klein auf hatte erkennen lassen, dass es vom Leiden nicht so ungerührt blieb wie in seiner Gesellschaft üblich, wurde es bald nur noch »Platschu« genannt – in der Landessprache ein Kurzwort für »weinend«. Angesichts des Umstands, dass es in seinem Geburtsland üblich war, den ursprünglichen Namen durch eine Bezeichnung zu ersetzen, mit der ein für die Allgemeinheit leicht erkennbares spezifisches Merkmal benannt wurde, hatte der Mediziner seinen neuen Namen niemals als Belastung empfunden. Statt bloß sein Äußeres zu beschreiben, wies dieser immerhin zumindest indirekt auf das stets von ihm gezeigte außergewöhnlich starke Mitgefühl hin. Darüber hinaus klang »Platschu« entschieden poetischer als zum Beispiel das bei dem allgemein herrschenden rauen Umgangston ebenso möglich gewesene »Narbenbacke«.
Trotz der Akzeptanz sowohl des Namens als auch der Ereignisse, die zu diesem geführt hatten, verfügte der junge Chirurg über ein zwar freundliches, gleichzeitig jedoch eher verschlossenes Wesen. Die meisten seiner Altersgenossen hatten es ihm nicht leicht gemacht, die mit dem von ihm vollzogenen Wechsel der Geschlechterrolle zusammenhängenden Schwierigkeiten zu bewältigen. Dabei wäre es bereits Herausforderung genug gewesen, mit der grundlegenden Verwandlung der eigenen Physis wie dem davon verursachten Identitätswandel zurechtzukommen. Entsprechend war diese Phase der Persönlichkeitsentwicklung, durch die Platschu sich im wahrsten Sinne des Wortes hindurchgekämpft hatte, für ihn ohne Frage weit komplizierter gewesen, als eine normale Pubertät es mit ihren üblichen Beschwernissen ist. Letzten Endes hatte all das aber auch sein Gutes: die recht früh geglückte Überwindung dieser Hürde hatte ihm zu außerordentlicher Charakterstärke und großem Selbstbewusstsein verholfen.
Ohne die vielen von Platschu des Nachts durchlebten Traumgeschichten wäre es sicherlich nicht zu einem derartig positiven Wandel gekommen. Dabei waren seine Träume weit stärker für seine ausnahmslos freundliche Zurückhaltung verantwortlich als sein für alle sichtbares Ringen mit der eigenen Entwicklung. Denn in ihnen erblickte er Welten, die mit der tagtäglich erfahrenen Realität nichts gemein hatten: Dort floss sauber-klares Wasser in zahlreichen, von prächtig gedeihenden Pflanzen eingerahmten Flussläufen, während die blühenden Landschaften, durch die sich diese schlängelten, von allen möglichen ebenso gesunden wie wohlgestalteten Tieren bevölkert wurden. Neben diesen paradiesisch anmutenden Naturszenen gab es in Platschus Träumen allerdings noch etwas – ein in der Realität vollkommen unvorstellbares Phänomen: friedlich gestimmte Menschen, die fröhlich in achtsamer Eintracht miteinander und mit ihrer wunderbaren Umwelt lebten.
Als kleines Kind hatte der jetzige Lazarettleiter zuerst seinem Vater von diesen Traumwelten erzählt. Der hatte die Tochter wegen ihrer überbordenden Fantasie ausgelacht und weiteres Erzählen unterbunden, indem er sie zurück an ihre Arbeit geschickt hatte. Kinderarbeit stellte nichts Ungewöhnliches dar: Die Nachkommen der Ärzte begannen, ihr Handwerk zu erlernen, sobald sie gehen konnten. Wer von da an nicht arbeitete, so gut es ging, hatte sein Essen nicht verdient.
Diese Regel galt für sämtliche Mitglieder der Gesellschaft, da Nahrungsmittel wie Trinkwasser dermaßen knapp waren, dass man es sich nicht leisten konnte, Leute durchzufüttern, die der Allgemeinheit nichts zurückgaben. Wer zu einem entsprechenden Einsatz auch nach einer Behandlung durch die Ärzte nicht in der Lage war, wurde daher buchstäblich in die Wüste geschickt oder ging sogar freiwillig dorthin. Immerhin starb es sich da vergleichsweise selbstbestimmt und folglich halbwegs friedlich, während Hinderliche, die sich weigerten, den Gang in die Wüste anzutreten, in dieser von Gewalt bestimmten Gesellschaft, in der es entsprechend selten vorkam, dass jemand ein hohes Alter erreichte, grausam ermordet wurden.
Nach dem Versuch, sich ihrem Vater mitzuteilen, hatte die junge Platschu sich an ihre Mutter gewandt. Im Gegensatz zum Vater hatte die nicht gelacht: Ihr war sofort klar gewesen, dass ihr Kind sich in große Gefahr begab, wenn es von Dingen sprach, die zu erwähnen gesellschaftlich geächtet war. Zwar hielten sich hartnäckig ausschließlich von Berauschten verbreitete Gerüchte über eine ferne Vergangenheit, in der es angeblich solch paradiesische Zustände gegeben hatte wie die, von denen das Mädchen träumte. Doch war ein solches Paradies nicht nur nicht als Realität vorstellbar, sondern mit einem derartig großen Verlustschmerz belegt, dass man in nüchternem Zustand nichts davon hören wollte. Ein Bruch des Tabus hätte daher fraglos zu einer gewaltsamen Reaktion geführt. Entsprechend war dem Kind von seiner Mutter strengstens eingeschärft worden, niemals zu irgendjemandem über seine Träume zu sprechen.
Obwohl oder vermutlich sogar weil Platschu seither niemals wieder einen Versuch unternommen hatte, die nächtlichen Erfahrungen mit jemandem zu teilen, wurde er von seinen Mitmenschen als Mann mit einer besonderen Ausstrahlung wahrgenommen: Das nachts erfahrene Gegenbild zu seinem Tagerleben sorgte dafür, dass er trotz seiner kampfgeprägten frühen Pubertät sowie seines Berufs, der ihn von klein auf mit schlimmsten Verletzungen wie ungezählten Toten in Kontakt gebracht hatte, weitaus weniger verroht und abgestumpft war als die Mehrheit. Da er seit Beginn seiner Wandlung zum Mann zudem in jeder freien Minute seinen Körper gestählt hatte, um zukünftig trotz der sein Auftreten kennzeichnenden Sensibilität niemals wieder für ein weibliches Wesen gehalten zu werden, ja sich sehr zum Ärger seiner Eltern und anderer Mitglieder der Heiler-Klans sogar wie ein Kämpfer mit einem aus seinen Träumen stammenden Motiv hatte tätowieren lassen, war seine Gesamterscheinung von einem interessanten Kontrast geprägt: der Kombination der Physis eines ebenso intelligenten wie willensstarken, durchsetzungsfähigen Kriegers mit dem Herzen eines überaus sanft wie einfühlsam Liebenden.
Dass seine Gesichtszüge dabei stets von einer tapfer wirkenden Melancholie überschattet waren, sorgte einerseits für ein verstärktes Interesse seiner Mitmenschen an dem etwas geheimnisvoll erscheinenden, über großes Organisationstalent verfügenden Mann, der als Chirurg ungewöhnlich früh Karriere gemacht hatte. Anderseits nahm die von diesem Energiebündel ausgehende leise Traurigkeit so manchem die von der Narbe im Gesicht beförderte Angst vor Platschus durchdringenden Blick.
Der Hauch von Schwermut hatte seinen Ursprung darin, dass der Heiler die ihm eigene Empfindsamkeit zwar in der Hinsicht als Wohltat empfand, dass sie ihn in die Lage versetzte, auch tagsüber Dinge wahrzunehmen und zu schätzen, die anderen verborgen blieben, wie z.B. die Schönheit eines Glimmersteins, der vom Sonnenschein getroffen in dem ihn umgebenden grauen Geröll hell aufstrahlt. Doch litt der sensible Mediziner dafür weit stärker als seine Mitmenschen unter der in seinem Lebensumfeld herrschenden gewaltgeprägten Atmosphäre, die sich nicht bloß in den endlosen Kriegshandlungen und dem davon angerichteten Leid manifestierte, sondern in nahezu jedem noch so kleinen Detail des Alltags.
Während seine Umwelt solche Zustände als selbstverständlich hinnahm, sehnte der Lazarettleiter sich nach einem anderen Leben und tat sich dementsprechend schwer, seiner grundsätzlich liebevollen Einstellung zu den Menschen über das Berufliche hinaus auch in einer privaten Beziehung Ausdruck zu verleihen. Daher fühlte er sich, seit er vor fast zwei Jahren im Alter von nur 18 Jahren die Leitung einer eigenen Sanitätseinheit übernommen hatte und somit aus dem engeren Familienverband ausgeschieden war, ungeachtet seiner Eingebundenheit in den Mediziner-Klan sehr einsam.
Das änderte allerdings nichts an seinem Widerstand gegen die vielen Verkupplungsversuche seiner auf Nachwuchs drängenden Mitmenschen: Obwohl er in seiner Gesellschaft bereits als überfälliger Heiratskandidat galt, wollte er auf keinen Fall eine Ehe eingehen, in der es keine Liebe gab, wie er sie durch die außergewöhnlich enge und harmonische Beziehung seiner Eltern hatte kennenlernen dürfen. Um sich aber zu verlieben, erschien ihm trotz der bei den Mitgliedern der Mediziner-Klans im Vergleich zum sonstigen gesellschaftlichen Aggressionsniveau herrschenden freundlichen Gutmütigkeit keine der Frauen in seiner Umgebung einfühlsam genug.
Für die leise, sanfte Anbahnung einer Beziehung, wie Platschu sie sich erhoffte, war die gegenwärtige Situation allerdings ohnehin nicht geeignet: Seit mehreren Wochen führte der Feind eine Großoffensive gegen die Seite, auf der er Dienst tat. Seitdem arbeiteten sämtliche Mitglieder der Mediziner-Klans Tag und Nacht, um die unzähligen Verwundeten trotz immer bescheidener werdender Mittel zu versorgen. Dies währte so lange, bis das Lazarett eines Tages trotz der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen von der Front überrollt wurde.