Der Dämon

 

Blutrausch

»Chandashoka, sei verflucht – für jetzt und alle Ewigkeit! Mögest du das unermessliche Leid, das du anderen zugefügt hast, tausendfach an dir selbst erfahren!«

Mit diesen Worten auf den Lippen war ich gestorben. Doch hallten sie noch weit über meinen Tod hinaus in meinem von versengendem Hass erfüllten Bewusstsein nach. Ohnmächtiger Schmerz und rasende Wut hatten allerdings nicht erst im Sterben Besitz von mir ergriffen: Bereits in der Schlacht, die zu meinem Ende geführt hatte, waren beide Emotionen dermaßen übermächtig geworden, dass sie mich im Augenblick meines qualvollen Todes vollkommen beherrscht hatten. Dies aber bedeutete für einen mir schier endlos erscheinenden Zeitraum, dass die Möglichkeit sonstigen Erlebens für mich in tiefster Finsternis versunken blieb. Daher drang mir nicht einmal die Tatsache ins Bewusstsein, dass ich mich längst nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in einer kalten Hölle befand.

Doch selbst als es meinen Sinnen durch ein kurzes Aufblitzen meines Denkvermögens endlich gelang, die Realität zu erfassen, vermochte ich nicht loszulassen von dem, der Tod und unermessliches Leid nach Kalinga gebracht hatte. Der von mir empfundene Schmerz war zu groß, als dass er mir erlaubt hätte, nicht weiter an meinem mich in jeder Beziehung in die Dunkelheit vollkommener Verblendung stürzenden Hass auf den stolzen und mitleidlosen Herrscher von Ma­ga­dha festzuhalten. Dieser Mann hatte mein Leben zerstört, ja ganz Kalinga in Blut ertränkt! Nicht ich hatte Qualen verdient, sondern er: Chandashoka, mein unsagbar grausamer Todfeind!

Diese Vorstellung bildete das gedankliche Ostinato zu dem von mir unablässig wiederholten Fluch. Infolge dieses Verhaltens blieb es mir versagt zu begreifen, dass mein hasserfülltes Wüten in der Entscheidungsschlacht um das Schicksal meines Heimatlands mich letzten Endes zu einem Spiegelbild des Dämons gemacht hatte, den ich durch meine Kriegsteilnahme hatte bekämpfen wollen. Wie hätte ich ohne die Fähigkeit zur Reflektion auch verstehen können, dass es diese freiwillig an mir vollzogene Selbstentmenschlichung gewesen war, die mich in eine mir allein vorbehaltene Hölle verbannt hatte?

Entsprechend blieb mein Eingesperrtsein in den Stein eines eisigen Himalaya-Bergriesen selbst nach meiner ersten kurzen Wahrnehmung desselben ein von meinen unvermindert rauschhaft starken Negativgefühlen an den äußersten Rand meiner Wahrnehmung gedrängtes und daher mein Begreifen in keinster Weise erreichendes Schattenbild. In meinem einzig um meine Opferrolle kreisenden Empfinden litt ich dermaßen, dass es mir gerechtfertigt schien, meiner Wut maßlos schreiend Ausdruck zu verleihen. Allerdings verfügte ich über keinen Körper und somit auch nicht über eine Stimme. Wie sollte mich da jemand hören? Doch blieb mir sogar die Einsicht in einen derartig simplen Sachverhalt verschlossen – mit der Folge, dass ich die mantrahafte Wieder­holung meiner letzten Worte im Geiste fortsetzte, bis meine hitzige Kraft sich irgendwann von selbst zu erschöpfen begann.

Wie zuvor die Phase unerbittlicher Verwünschung benötigte zwar auch dieser Vorgang bis zu seinem vollkommenen Abschluss noch unaussprechlich lange, doch war mein Zorn eines Tages immerhin geschwächt genug, mir eine erste, dauerhaft den Weg zu meinem Verstand findende Wahrnehmung meiner Umgebung zu erlauben. Als ich mit einem Mal bewusst spürte, wie der Fels mich eisig umschloss, war ich schockiert, da diese Empfindung mir die unerbittliche Gefühlskälte ins Gedächtnis zurückrief, die sich meiner während der Schlacht bemächtigt hatte.

Bevor Ashoka zu meinem Verhängnis geworden war, indem ich seinetwegen zu den Waffen gegriffen hatte, war ich ein ausgesprochen gutmütiger Mensch gewesen, den seine Eltern in der Hoffnung, er werde durch weise Besonnenheit zu einer Freude für sich und andere werden, Vivekananda genannt hatten. Den elterlichen Willen achtend hatte ich stets versucht, diesem Namen durch eine entsprechende Lebensweise gerecht zu werden. Im Großen und Ganzen schien mir dies gelungen zu sein: Bereits in jungen Jahren hatte mein Klan mich zu seinem Anführer ernannt. Das aber hatte nicht an meinem Äußeren gelegen, wie man aufgrund meiner Statur leicht hätte vermuten können. Diese war dermaßen breit und kräftig gewesen, dass ich trotz meiner überdurchschnittlichen Größe eher gedrungen gewirkt hatte. Ähnlich wie später meine Feinde hatten Unbekannte unter dem hierdurch hervorgerufenen Ein­druck roher Kraft häufig eingeschüchtert auf mich reagiert. Dies wäre jedoch in keinster Weise nötig gewesen, hatte ich mich doch durch Langmut und Bedächtigkeit ausgezeichnet.

In diesen zwei Eigenschaften war der Hauptgrund für das Vertrauen meiner Klansleute in mich zu suchen. Mein Naturell war den Mitgliedern meiner Sippe vorteilhaft erschienen, da es mich meist genauer und gründlicher als andere sehen, hören und auch nachdenken lassen hatte. Trotz des äußeren Anscheins war ich nie ein geistig zurückgebliebener Kraftprotz gewesen – obwohl ich gestehen muss, dass meine Mitmenschen sich des Öfteren in Geduld mit mir hatten fassen müssen. Doch hatte dies nicht an irgendeiner Art geistiger Schwäche gelegen, sondern an meiner ausgeprägten, hitzige Übereilungen scheuenden Sorgfalt. Diese beständig von mir geübte umsichtige Achtsamkeit hatte es mir bei Konflikten ermöglicht, zunächst die Standpunkte aller Beteiligten zu verstehen, um diese anschließend mit geduldiger Sanftmut sowie geschickter Diplomatie miteinander auszusöhnen – für meine Mitmenschen unzweifelhaft ein großer Vorteil.

In der Hölle waren die Gedanken an jenen Mann, der ich während der friedlichen Jahre vor dem Krieg gewesen war, leider gänzlich hinter die Erinnerung an den nicht zu bändigenden Hauptmann zurückgetreten, in den ich mich angesichts der von Chandashokas Armee in Kalinga angerichteten Gräuel verwandelt hatte. Ein einziges Bild hatte sämtliche anderen Eindrücke aus meinem Leben als Vivekananda aus­gelöscht: Vor meinem geistigen Auge sah ich mich stets als wil­den Krieger mit einer übermächtig wuchernden, die dunkle Haut kaum sehen lassenden Pracht von starkem, schwarzem Haupt- wie Barthaar, der sein Schwert drohend erhoben hält und dazu seinen markerschütternden Kampfschrei ertönen lässt.

Da diese offenbar eindrucksvolle Erscheinung meine Mitstreiter an einen wütenden Löwen erinnert hatte, war ich von ihnen mit dem Kampfnamen Simha bedacht worden. Dieser Simha hatte mit Vivekananda fast nichts gemein: Im Gegensatz zu dem jeden Aspekt einer Angelegenheit gründlich abwägenden Klanführer war der Hauptmann ausschließlich von dem drängenden Wunsch beherrscht, den noch verbliebenen Kalingas Schutz vor dem das Land verwüstenden Dämon aus Magadha zu verschaffen. Anders als dem versöhnlichen Vivekananda war Simha jedes Mittel recht, um seine Landsleute vor Folter, Schändung und Ermordung zu bewahren. Simha kannte keine Schonung – weder für sich noch für andere. In vollkommener Übereinstimmung mit meinem Ruf hatte ich mich daher wie ein wilder Löwe in die Entscheidungsschlacht um mein Heimatland gestürzt.

Zu Beginn der Kampfhandlungen wurde mein Verhalten noch ganz und gar von dem guten Vorsatz bestimmt, Wehrlose verteidigen zu wollen. Doch je länger das Gefecht dauerte, desto mehr trat dieser Gedanke in den Hintergrund, da mehr, und immer mehr meiner Mitstreiter fielen. Wo ich auch hinschaute, demonstrierte Magadha seine Übermacht auf schauerlichste Weise. Folglich gelangte ich irgendwann zu der Einsicht, dass Kalinga nicht mehr zu retten sei.

Diese für mich äußerst schmerzliche Erkenntnis veränderte mich ein weiteres Mal grundlegend: Alle guten Absichten hinter mir lassend wütete ich von nun an ausschließlich in dem verzweifelten Bestreben, so viele Feinde wie möglich mit in den für meine Leute und mich offensichtlich unvermeidbaren Tod zu nehmen.

Nicht lange nach diesem das Ausmaß meiner Verbitterung offenbarenden Entschluss wurde mein Pferd getroffen. Doch selbst meine erzwungene Verwandlung vom Reiter in einen Fußsoldaten hinderte mich nicht daran, den Kampf fortzusetzen. Zwar drohten die unzähligen Todesschreie, das Geräusch von unter Schwerthieben zersplitternden Knochen sowie der allgegenwärtige Geruch von Blut, Eingeweiden und Tod, mich für einen kurzen Moment zu überwältigen. Doch verwandelte die ohnmächtige Hoffnungslosigkeit, die mich angesichts der grausamen Übermacht des Gegners zunächst hatte ergreifen wollen, sich zunehmend in verzweifelte Wut über die gnadenlose Opferung meiner Landsleute. Dieses Gefühl nutzte ich als Brennstoff für meinen Widerstand. Was hätte zu diesem Zweck auch geeigneter sein können als Zorn?

Ich nährte meinen Stolz, dass Chandashoka und seine Mannen mich niemals besiegen würden – komme, was wolle! Statt mich in mein Schicksal zu ergeben, machte ich es mir zur obersten Priorität, den Tod möglichst wirkungsvoll in die Reihen meiner Feinde zu tragen. Zu diesem Zweck fokussierte ich mein mittlerweile gänzlich aus schmerzgeborenem Hass bestehendes Wesen auf einen einzigen Gedanken: Die Magadha-Armee musste vernichtet werden – um jeden Preis!

Um so viel feindliches Blut wie möglich fließen zu sehen, führte ich meine Klinge unbarmherzig gegen jeden, der sich mir in den Weg stellte. Den Feinden die Köpfe oder andere Körperteile abzuschlagen, bereitete mir wachsende Genugtuung. Das ging so weit, dass ich am Ende sogar den Mund öffnete, um von dem mir entgegenspritzenden Blut zu trinken. Der süßlich-metallische Geschmack des Lebenssafts meiner Widersacher wiederum bewirkte, dass ich mich weiter und immer weiter in meinen blindwütigen Rausch hineinsteigerte: Von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt, laut und unmenschlich schreiend, mit wild um mein grausam verzerrtes Gesicht wehenden Haaren und vor Wut glühenden Augen bot ich nun wahrlich das Bild eines leibhaftigen Dämons – ein Vorteil, den ich zu nutzen wusste: Magadhaer, die mein Anblick schreckte, waren leichter zu töten.

Als mich nach stundenlangem Schwertkampf schließlich die Kräfte verließen, war mein Gehirn bereits dermaßen heiß gelaufen, dass ich in keinster Weise mehr wahrnahm, wie ich nach und nach immer öfter getroffen und verletzt wurde. Da meine Verwundungen nicht allzu schwer waren, hinderten sie mich nicht daran, meinen Kampf fortzusetzen. »Vernichtung!«, dröhnte es unablässig in meinem Kopf. »Vernichtung!!«

Es kam der Zeitpunkt, da ich mich derartig verausgabt hatte, dass ich das Schwert nicht mehr zu heben vermochte. Hilflos taumelte ich meine Waffe hinter mir herziehend über das Schlachtfeld – bis ich von einem Hieb auf die Schulter getroffen wurde, stolperte und zu Boden ging. Obwohl ich mir alle Mühe gab, war ich nicht mehr in der Lage, mich ein letztes Mal zu erheben.

Durch den Nebel meines angeschlagenen Bewusstseins sah ich lange die Schatten von Kämpfen, hörte das Toben der Schlacht. Später wurde es um mich herum stiller und immer stiller. Inmitten von Leidensgenossen lag ich eine mir wie Ewigkeiten erscheinende Zeit langsam sterbend in der sengenden Sonne. Außer dem unregelmäßigen leisen Stöhnen und den vereinzelten erstickten Schreien der wenigen noch Lebenden schien das gelegentlich von Geierschreien übertönte Summen der Fliegen das einzige Geräusch um mich herum zu sein. Zu meinem Glück war die Mehrzahl der anderen Verwundeten bereits tot und damit für die Raubvögel von weit größerem Interesse als ich. Wehrlos, wie ich war, ergriff mich trotzdem bei jedem von mir gehörten Flügelschlag die Angst, bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen zu werden.

Als Sonne wie letzte Geräusche sich allmählich verabschiedeten, war mein qualvolles Sterben bereits dermaßen weit fortgeschritten, dass ich mich weder zu bewegen noch irgendwelche Laute von mir zu geben vermochte. Da rückten Leichenfledderer auf der Suche nach Kriegsbeute heran gefolgt von den Raubtieren der Nacht. Bevor diese Totengräber aus der Natur mich erreichten, näherten sich allerdings noch andere: Menschen, die nicht auf Beute aus waren.

Obwohl ich mittlerweile nahe daran war, die Schwelle des Todes endgültig zu überschreiten, sollte ich schnell herausfinden, was das für Personen waren: Wie ein spitzer Dolch drang Magadha Prakrit an mein Ohr! Hatten diese verdammten Magadhaer nicht genug damit, uns Kalingas allesamt umgebracht zu haben? Weshalb mussten sie ihren grausamen Erfolg jetzt auch noch begutachten?

Trotz meiner außerordentlichen Schwäche, die bewirkte, dass es mir nicht einmal mehr gelang, meine Lippen zu bewegen, verdichtete sich der klägliche Rest der mir verbliebenen Lebenskraft zu einem allerletzten Ausbruch von Hass: Aus tiefstem Herzen verfluchte ich den Mann, der dieses Blutbad angerichtet hatte!

Es sollte meine letzte Tat im Leben als Vivekananda sein – und meine erste im Tode.