Im Felsen

Als nach einem mir wie Ewigkeiten erscheinenden Aufenthalt in der Hölle mein Widerstand gegen das von Ashoka und seiner Armee in Kalinga angerichtete Leid endlich brach, geschah dies auf vollkommen unspektakuläre Weise: So, wie ein stetes Tropfen letztendlich den härtesten Stein aushöhlt, hatte mein Zorn über einen langen Zeitraum ebenso unmerklich wie kontinuierlich nachgelassen. Daher bedurfte es am Ende keines außergewöhnlichen Ereignisses, um seine starre Absolutheit doch noch durchlässig zu machen. Eines Tages war er einfach weit genug abgekühlt, mir erste Sinneseindrücke zu ermöglichen.

Diese betrafen jedoch nicht nur meine Umgebung und die dadurch ausgelöste schmerzhafte Erinnerung an Simhas versteinertes Herz, sondern bewirkten, dass mir darüber hinaus die unvermutete Entdeckung einer mir mittlerweile vollkommen ungewohnt erscheinenden Empfindung gelang: Ich war müde. Nach einer unendlichen Phase ununterbrochenen Wütens fühlte ich mich mit einem Mal zu erschöpft, mein Fluchmantra weiter aufzusagen.

Doch hatte ich es kaum aufgegeben, mich endloser Verwünschung hinzugeben, als ich plötzlich von Bildern meiner Vergangenheit heimgesucht wurde. Ausnahmslos von denselben. Immer und immer wieder. Sie zeigten mich in der Schlacht – so, als würde einer meiner Feinde oder Mitstreiter mich beobachten.

Es war entsetzlich, mein von Hass wie unmenschlicher Wut bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Antlitz anschauen zu müssen, nicht fähig zu sein, die Augen davon abzuwenden, wie ich einen Menschen nach dem anderen mit meinem Schwert niedermähte – kaltblütig und mit grausamer Präzision. Was ich bei dieser widerlichen Selbstschau erblickte, war kein Held oder Märtyrer, sondern das schrecklich gesteigerte Ebenbild dessen, was ich zu bekämpfen geglaubt hatte.

Erst als diese Erkenntnis endlich bis zu meinem Verstand vordrang, erfasste ich den Grund für meine Verbannung in die Hölle: Ich – und niemand anders – hatte den fürsorglichen Klanführer, der ich einmal gewesen war, noch zu Lebzeiten in ein bestialisches, bluttrinkendes Höllenwesen verwandelt!

Die abgrundtiefe Hilflosigkeit, die ich aufgrund der Tatsache empfand, die entsetzliche Pervertierung Vivekanandas nicht mehr ungeschehen machen zu können, schürte erneut meinen Zorn. Doch war der nun gegen mich selbst gerichtet – und vermochte mir ebenso wenig anzuhaben, wie er in meiner heißen Phase Chandashoka oder seine Streiter hatte treffen können. Durch meinen Selbsthass änderte ich nichts. Wie hätte das auch möglich sein können? Was ich sah, war vergangen, unabänderlich geschehen!

Als ich das nach langer, langer Zeit endlich erfasste, verwandelte die Hitze meiner Wut sich schlagartig in die eisige Kälte der Selbstaufgabe. Mein Kampf war sinnlos gewesen. Mein Leben war sinnlos gewesen. Das Dasein überhaupt war durch und durch sinnlos!!

Von nun an waren Herz und Verstand in einem neuen Mantra gefangen: »Sinnlos! Sinnlos! Sinnlos!«, tönte es unaufhörlich in meinem gequälten Bewusstsein. Mir fehlte die innere Größe, mir selbst mutig einzugestehen, dass ich lediglich an diese von mir so eindringlich beschworene allumfassende Sinnlosigkeit glauben wollte, weil ich dadurch vermied, mich meinem eigenen Versagen stellen zu müssen. Ich weigerte mich zu akzeptieren, dass ich vollkommen in die Irre gegangen war, als ich im Namen der Verteidigung meiner Heimat schreckliches Leid heraufbeschworen hatte – bei unzähligen mir völlig Unbekannten wie auch bei mir selbst.

Infolge dieser Haltung hielten meine Emotionen mich eine weitere Unendlichkeit lang gefangen. Diesmal verharrte ich in einem Zustand, als sei mein Fühlen und Denken gänzlich in Sinnlosigkeit eingefroren. Der dauerte so lange an, bis der Berg mich schließlich aus ihm herausschüttelte: Das Beben war dermaßen stark, dass es für einen Augenblick meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Dadurch befreite es mich aus meiner mentalen wie emotionalen Festgefahrenheit – nicht aber von der Gefangenschaft im dunkel-kalten Fels.

Bisher hatte ich nie an die Gegenwart und schon gar nicht an die Zukunft gedacht. Doch in dem Augenblick, als das Jetzt sich mit der Macht des Erdbebens in mein Bewusstsein drängte, erfasste ich meine Lage zum allerersten Mal halbwegs sachlich. Ich war gefangen, und das zu Recht: Schädlich für die Menschheit war ich verderblich für mich selbst. Das Eingesperrtsein im Felsen war das einzige Mittel, andere und mich vor mir zu schützen.

Mit dieser Einsicht empfand ich plötzlich tiefe Reue – nicht nur über mein Verhalten nach meinem Beitritt zur Kalinga-Armee, sondern auch über mein bisheriges Betragen hier in der Hölle. Sie war lediglich, was sie war, weil ich sie dazu gemacht hatte. Ohne mich war der Felsen, in dem ich festsaß, einfach ein Berg, weiter nichts. Erst mein Hass, meine Wut, meine Flüche hatten das mich körperlosen Geist umschließende Gestein in einen Ort der Verdammnis verwandelt. Musste es nicht eigentlich zu einem heiligen Berg gehören, wenn es sich dazu hergab, einem Wesen wie mir Unterschlupf zu gewähren, um die Welt vor mir zu schützen?

Als ich mir diese Frage stellte, war es mir gleichgültig, was auch immer andere von dem Gedanken halten mochten, ein Berg könne etwas Heiliges darstellen. Für mich persönlich war der Himalayariese in dem Moment dazu geworden, in dem ich begriff, dass er mich vor mir selbst bewahrte. Die unermessliche Wut, der enorme Hass der bereits vergangenen Ewigkeiten – welchen Schaden hätten sie angerichtet, welches Karma für mich geschaffen, hätte ich ihnen freien Lauf lassen können!

Mit dieser Erkenntnis gesellte sich Dankbarkeit zur Reue. Da endlich begann das Eis in mir zu schmelzen: Ich weinte. Hätte ich einen Körper gehabt, wäre das jedenfalls so gewesen. Doch war mir keiner gegeben. Daher blieb mein Weinen bloß ein Gefühl, von dem ich allerdings wünschte, es möge seine physische Verkörperung darin finden, dass dem Stein eine neue, Segen spendende Quelle entspränge.

In der auf den Wandel in meinen Einstellungen folgenden, von Dankbarkeit wie Reue geprägten Zeit lernte ich allmählich, meine Sinne für den Berg zu schärfen und ihn dadurch viel umfassender wahrzunehmen als ausschließlich in seiner Funktion als mein Gefängnis. Dadurch gelang mir die Entdeckung, dass er über ein unmerkliches Innenleben verfügte. So war zum Beispiel den einzelnen das Gestein bildenden Mineralien jeweils eine vollkommen individuelle Ausstrahlung eigen. In gewisser Weise dienten sie als eine Art Nervensystem, über das Informationen innerhalb des Bergs ausgetauscht wurden. Allerdings geschah dies auf eine derart langsame und subtile Weise, dass menschliche Sinne vermutlich kaum in der Lage wären, etwas davon zu bemerken.

Auf mein eigenes erhitztes wie verstörtes Gemüt hingegen hatte die ruhig-freundliche Kühle des mich umschließenden Felsens einen positiven Einfluss. Gleichzeitig wirkte die unmerkliche Bewegung des Wassers innerhalb des Gesteins beruhigend auf mich ein. Nur, wer über dermaßen wenig Ablenkung und viel Zeit verfügte wie ich, sich auf dieses langsame Sickern und Steigen zu konzentrieren, hatte die Möglichkeit zu bemerken, dass sogar die Wasseradern ihren Weg zwar nur leicht, dafür aber stetig veränderten, neue hinzukamen und alte versiegten.

Neben diesen kaum wahrnehmbaren Vorgängen im Bergesinneren fiel mir noch etwas Erstaunliches auf: Der Berg als Ganzes bewegte sich ebenfalls! Doch war sein Vorwärtsschreiten von einer derart ausgeprägten Langsamkeit, dass es vom menschlichen Auge unbemerkt bleiben musste. Lediglich die vergleichsweise häufigen, bisweilen extreme Verwerfungen erzeugenden Erdbeben waren stark genug, bis ins Bewusstsein der Menschen zu dringen. Für mich fühlten sie sich stets irgendwie zornig an – vermutlich, weil schmerzgeborener Zorn mir nach wie vor das vertrauteste aller Gefühle war.

Durch die endlose Beobachtung der mich umgebenden Naturphänomene hatte meine Wahrnehmung sich zuletzt derartig geschärft, dass selbst die leiseste Temperaturveränderung im Stein nicht länger meiner Aufmerksamkeit entging. Nach einer mir unermesslich erscheinenden Zeitspanne versetzte die Möglichkeit der Berechnung des Sonnenstands anhand der Gesteinstemperatur mich endlich in die Lage, Himmels­richtungen sowie Tages- und Jahreszeiten zu bestimmen und dadurch mein eigenes Sein in einen Kontext weit jenseits der Dunkelheit des mich noch immer fest umschließenden Gesteins einzubetten.

Durch die Verschiebung meines Fokus vom eigenen Inneren auf die Umgebung und das Jetzt entfernte ich mich zwar nur schrittweise, dafür aber unablässig von meiner Vergangenheit und somit auch von den mit ihr verbundenen Emotionen. Es kam der Tag, an dem ich zum ersten Mal über meine Zukunft nachdachte. Gab es eine solche überhaupt? Oder sollte ich für immer und ewig hier eingeschlossen bleiben? – Nein, das konnte ich nicht glauben. So einfach entkommt man dem Samsara nicht! Es würde eine Wiedergeburt geben – aber wann?

Die bisher von mir durchlaufene Entwicklung hatte sicher ihren Sinn. Worin aber sollte der bestehen, wenn nicht darin, die in meiner persönlichen Hölle gemachten Erfahrungen in einer wie auch immer gearteten Existenz anzuwenden? Wie das vonstattengehen könnte, überstieg allerdings meine Vorstellungskraft. Nur eines wusste ich mittlerweile trotz aller Zweifel genau: Ich wollte nicht länger eingesperrt bleiben!

Mit der Frage nach der Zukunft war kurz Hoffnung in mir aufgeflammt. Der Eindruck, meiner Lage völlig hilflos ausgeliefert zu sein, bewirkte allerdings, dass diese sogleich wieder von dumpfer Resignation erstickt wurde. Vom Bewusstsein meiner Ohnmacht befeuert folgte auf die Apathie der Hoffnungslosigkeit erneut das Gefühl unbändigen Zorns. Wie sehr auch immer ich mich gegen meine Gefangenschaft auflehnen mochte, ich sah keine Möglichkeit, ihr zu entrinnen. War ich denn noch immer nicht genug für meine Irrtümer bestraft?

Aufs Neue durchlief ich den gesamten Zyklus der bisher von mir in der Hölle genährten Emotionen. Diesmal geschah dies allerdings sozusagen im Zeitraffer: Auf Ohnmacht, Wut und Verzweiflung folgten Ermüdung, Einsicht und Reue. Als ich am Ende zu der Erkenntnis gelangte, dass ich trotz der langen Zeit meiner Gefangenschaft und der dabei erfolgten Entwicklung zu einem solchen Rückfall in alte Verhaltensweisen fähig gewesen war, schämte ich mich vor mir selbst: Von Strafe konnte doch überhaupt keine Rede sein! Hatte ich nicht bereits vor dem Wunsch, den Berg zu verlassen, erkannt, dass der Sinn meines Aufenthalts hier nicht darin bestand, mich zu quälen, sondern darin, mich behutsam zu unterstützen, mich von alten Verhaltensmustern zu lösen? Darin, meine Umwelt und auch mich so lange vor mir zu schützen, bis ich nicht mehr schädlich war?

Dieser Gedanke ließ mich mit einem Mal begreifen, dass ich nicht länger in meinem Felsengefängnis würde bleiben müssen, als bis ich endlich wieder zu einem heilsamen Umgang mit mir und anderen gefunden hatte. Es gab also eine Aufgabe für mich! Die war ich bis jetzt allerdings noch gar nicht angegangen. Wie sollte ich das auch? Ich war körperlos, auf sonderbare Weise winziger Teil eines riesigen Bergs. Etwas auf Menschenart zu tun, entsprach folglich nicht meiner Natur.

Daher fiel mir fürs Erste nicht mehr ein, als mir friedliche Alternativen zu dem von mir in meinem Leben als Vivek­ananda bzw. Simha Getanen vorzustellen, meine gegenwärtige Lage aus vollem Herzen anzunehmen, wie sie war, und mich meine Zukunft betreffend in Geduld zu üben. Letzteres fiel mir ungeheuer schwer: Dazu war Vertrauen nötig. Doch aufgrund der Erinnerung an das grauenvolle Wesen, das ich aus dem friedliebenden Vivekananda gemacht hatte, traute ich mir mittlerweile nicht mehr im Geringsten. Wenn man aber nicht einmal sich selbst gegenüber Vertrauen aufbringt, wie soll man es dann in jemand anderen haben? Und wer oder was könnte dieser andere sein, wo es ausschließlich Fels um mich herum zu geben schien?

Da ich in mir keine Antwort fand und es niemanden gab, den ich hätte fragen können, wandte ich mich nach einigem Zweifeln und Zögern an den Berg:

»In wen oder was soll, darf und kann ich mein Vertrauen setzen?«

Lange lauschte ich in die steinerne Finsternis. Hatte er mich gehört? War ein Berg überhaupt dazu in der Lage, die Gedanken eines Geistwesens zu vernehmen? Schon wollte ich noch einmal fragen, als ich mich daran erinnerte, wie ausgeprägt die gemächliche Art meines Hüters war. Wieso sollte der jetzt schneller sein als üblich, bloß weil es mir an Geduld mangelte?

In dieser ungewöhnlichen Situation erschien es mir hilfreicher, die Hoffnung zu nähren, ein Berg sei imstande, mit mir zu kommunizieren, als mich der Verzweiflung und Einsamkeit hinzugeben, die ein Ablehnen dieser Möglichkeit mit sich gebracht hätte. Dementsprechend beschloss ich, meinen bisherigen Beobachtungen zu trauen und auf Antwort zu warten – oder besser gesagt, mich dazu zu befähigen, die mir vom Berg erteilte Auskunft wahrzunehmen und zu verstehen, sollte ich eine bekommen. Zu diesem Zweck bemühte ich mich darum, mich in das innerste Wesen des Bergs hineinzuversetzen. Dies aber war nicht möglich, ohne dass ich mich vollkommen entspannte, um mich mit einer der Aufgabe angemessenen Haltung auf meinen Hüter einzulassen.

Je mehr ich mich dem Felsen hingab, desto leichter fiel es mir mit der Zeit, mich in ihn einzufühlen. Paradoxerweise lernte ich das Geduldigsein also durch meine ungewöhnliche Suche nach der Geduld. Ein Nebeneffekt dieser Übung bestand darin, dass ich mich nicht länger allein fühlte. Ganz im Gegenteil erkannte ich, dass es sich bei dem Berg nicht um irgendein unbelebtes Ding handelte, sondern um ein um mich bemühtes Wesen. Die geistige Verbindung mit diesem Wetter wie Erdbeben ungeschützt ausgesetzten Riesen, dessen Macht der majestätischen Gelassenheit entsprang, mit der er das Walten der Naturkräfte über sich ergehen ließ, gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. Es tat mir – dem Wütenden – gut, dass der Berg seine Kraft nicht aus Aggressivität bezog, sondern aus der gelassenen Gemächlichkeit seiner gesamten Lebensaktivitäten.

Ja, das fühlte ich: Dieser Felsen lebte, wenn auch auf vollkommen andere Art als Menschen, Pflanzen oder Tiere. Bei ihm handelte es sich nicht bloß um zu Materie verdichteten Geist, sondern wie bei allem Lebenden um ein Zwitterwesen aus beidem. Manchmal schien es mir sogar, als habe er Gefühle. Aufgrund meiner eigenen starken Emotionalität sowie seiner enormen Subtilität und ebensolchen Langsamkeit war das für mich allerdings weder gefühls- noch verstandesmäßig eindeutig fassbar. Dachte ich jedoch an seine außerordentliche Lebensdauer, wunderte es mich nicht, dass dieses Felswesen sein Dasein sozusagen in einer anderen Zeitzone fristete als ich.