Bergmeditation

Die bei meinem steinernen Hüter festgestellte Eigenschaft einer vom menschlichen Erleben unterschiedenen Zeitlichkeit war mir bereits von alten Bäumen her bekannt. Deshalb ging ich davon aus, dass es wie bei den in meiner Heimat Kalinga vielfach als heilig geltenden grünen Riesen auch bei dem mich umschließenden Berg die Möglichkeit einer unmittelbaren Verständigung von Geist zu Geist gebe. Allerdings war ich es gewöhnt, hauptsächlich vermittels meinen logischen Verstands zu kommunizieren. Daher war mir bewusst, dass ein Versuch der Direktkommunikation für mich nicht leicht werden würde. Schließlich erforderte ein Austausch mit dem Bergriesen, dass ich anderen Teilen meines Geistes als meinem Intellekt Zugang zu meinem Bewusstsein verschaffte.

Erwartungsgemäß machte ich zunächst lediglich schleppende Fortschritte. Je mehr ich mich jedoch auf den Berg konzentrierte und umso weniger ich an mich selbst und die mir bekannte Welt mit ihren Regeln dachte, desto besser gelang es. Mit der Zeit verstand ich sogar, weshalb die mir aus vielen Sagen bekannten Götter genauso wie unzählige Menschen sich mit dem Himalaya das höchste Gebirge, das sich auf Erden finden lässt, als Ort für ihre Meditationen erwählt hatten: Neben dem Geschenk der Abgeschiedenheit und Herausforderung durch schwierige Lebensbedingungen schien mir vor allem die Wesensart der Berge selbst für eine kontemplative Versenkung förderlich zu sein.

In meinem Leben als Vivekananda hatte Kontemplation eher eine geringe Rolle gespielt, war ich doch ein vorwiegend praktisch orientierter Mensch gewesen. Infolgedessen drang es mir nun nur allmählich ins Bewusstsein, dass das, was ich in Erwartung einer Antwort auf meine Frage an den Berg tat, unter Umständen »Meditation« genannt werden könnte. Davon unberührt nahm ich das mich umgebende Gestein umso positiver wahr, je länger ich mich dem von mir geübten Einfühlen und Hineinhorchen hingab. Bald schon empfand ich tiefe Bewunderung für das mich beherbergende Wesen, das um ein Vielfaches komplexer war, als man es gemeinhin von einem Stück Stein erwartet. Mit Fortschreiten meiner Übung wurde der Himalayariese sogar allmählich zu meinem Lehrer und Vorbild. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich mich regelrecht in ihn verliebte – und noch mehr in das, was ich eines Tages nach unendlich viel Mühsal in ihm fand: das in allen Lebewesen wohnende Göttliche.

Da war sie endlich, die lange von mir gesuchte Antwort! Das, worauf ich vertrauen sollte, war etwas, das gefühlt mit tiefer Liebe verbunden ist, sich mit Worten jedoch nur schwer fassen lässt. In tiefer Ehrfurcht nannte ich es »das Göttliche«.

Sobald ich es erst einmal gefunden hatte, begriff ich, dass es sogar in mir, dem Massenmörder vorhanden war. Eigentlich war dies schon immer der Fall gewesen. Doch hatten sowohl meine Geisteshaltung als auch die daraus geborenen Taten dieses auf unerklärliche Weise in mir existierende Wunder dermaßen für mein Bewusstsein verdunkelt, dass es für mich nicht mehr wahrnehmbar gewesen war. Als ich seiner Existenz nun endlich gewahr geworden war, wusste ich intuitiv, dass es mich auch in Zukunft niemals verlassen würde. Dabei lag es allerdings an mir, den Kontakt zu pflegen. Wenn ich nur wollte, konnte das Göttliche durch mich liebevoll in die Welt strahlen. Es wartete lediglich darauf, von mir aktiviert zu werden, und brachte mit seiner bedingungslosen Liebe lang ersehnte Vergebung.

Nachdem die erste Welle meiner Freude und Dankbarkeit ein wenig abgeebbt war, kamen mir allerdings Zweifel, ob ich Vergebung so unverdient überhaupt annehmen durfte. Bei der Betrachtung dieser Frage hatte es gleichgültig zu sein, wie sehr ich mich nach dieser Gnade sehnte und darüber freuen wollte. Daher machte ich es mir nicht leicht und überdachte die Angelegenheit auf Vivekananda-Art – also mit äußerster Gründlichkeit.

Nach einiger Zeit kam ich zu der Einsicht, dass es im Wesen der Vergebung liegt, dass sie nicht verdient werden kann. Dass sie andererseits aber nur zu echter Transformation führt, wenn der sie Empfangende ebenfalls bereit ist, Gnade walten zu lassen – zunächst sich selbst gegenüber und später anderen. Zwar war ich das grundsätzlich. Doch gab es da einen Gedanken, der mich davon abhielt, die vom Göttlichen ausgehende Vergebung anzunehmen: War Verzeihung für meine Taten nicht ungerecht gegenüber den von mir in der Schlacht Verletzten und Getöteten sowie auch ihren Angehörigen?

Das war ein Einwand, über den ich lange nachdachte. Vor der verdienten Strafe dafür, dermaßen viele Leben erbarmungslos zerstört zu haben, wollte ich mich auf keinen Fall drücken. Daher war ich innerlich zerrissen: Einerseits wünschte ich wie jedes Wesen, bedingungslos geliebt zu werden, und empfand die mir entgegengebrachte Liebe als heilsam und Segen bringend. Andererseits pochte mein schlechtes Gewissen darauf, dass ich dieser Liebe in keinster Weise wert sei – gerade weil damit die scheinbar ungerechte Vergebung meiner Missetaten einherging.

Mein Glaube an das Gesetz des Karmas – also daran, dass alles in der Welt auf der Grundlage von Ursache und Wirkung geschieht – war stark. Mein Verständnis davon war bisher allerdings eher schlicht gewesen: Schlechte Taten generieren schlechtes Karma, gute gutes. Insofern, dachte ich, schafft Kar­ma Gerechtigkeit, auch wenn dies in Dimensionen geschieht, die ein Mensch mit seinem flüchtigen Leben und seiner davon verursachten Kurzsichtigkeit meist nicht zu erkennen vermag.

Diese nicht sehr tiefgründige Auffassung von Karma warf für mich die Frage auf, wie die von mir durch das vielfache Morden in der Schlacht begangene schlechte Tat zum guten Karma der Vergebung führen könne. Aufgrund dieser Ver­wirrung bedurfte mein Verstand meines Herzens, um die Antwort durch ein mir vor Augen geführtes inneres Bild zu finden: So, wie das Wasser einer Quelle jeden Wanderer speist – ob Heiligen oder Verbrecher –, existiert die göttliche Liebe in allen Wesen – und zwar immer, ohne Anfang oder Ende. Sie ist insofern bedingungslos, als dass ihre Existenz nicht davon abhängt, ob ein Wesen richtige oder falsche Einstellungen hat und sich zum Wohl oder zum Schaden seiner selbst sowie seiner Mitwesen verhält. Doch wie der Wanderer die Quelle aufsuchen und sich niederbeugen muss, um zu trinken, hatte auch ich mich erst für die Liebe zu öffnen, damit sie auf und durch mich wirken konnte.

Unter diesem Aspekt betrachtet war sie also nicht bedingungslos, genauso wenig wie Vergebung es war. Beidem hatte ich erst durch eine entsprechende innere Einstellung den Weg zu mir zu bereiten und durfte auch in der Folge nicht bei dieser nach wie vor egoistischen Haltung stehenbleiben. Schließlich gab es eine weitere Bedingung, damit der von mir beabsichtigte Wandel auch wirklich gelang: Ich hatte mich der Vergebung bringenden Liebe als Medium für ihr Wirken in die Außenwelt hinein zur Verfügung zu stellen.

Liebe und Vergebung gab es nur ganz oder gar nicht. Wollte ich beides für mich, musste ich selbst wie die Quelle werden und auch meinen Mitwesen Liebe schenken, ohne nach deren Verdienst zu fragen oder gar den Quell versiegen zu lassen, wenn jemand hineinspuckte. Bei der von mir entdeckten Liebe handelte es sich unstreitig um ein Geschenk. Doch war dieses unteilbar und somit auch nicht auf mich selbst beschränkbar. Hätte ich versucht, die gefundene Liebe und die mit ihr einhergehende Vergebung für mich allein zu behalten, hätte beides sich unweigerlich hinter den alten Schleier zurückgezogen, von dem ich es soeben erst befreit hatte.

Zwischen den von mir begangenen Morden und ihrer Vergebung gab es keinen ursächlichen Zusammenhang. Das gute Karma von Liebe und Verzeihen, das ich hatte erfahren dürfen, war einzig dadurch geschaffen worden, dass ich diesen beiden Eigenschaften mein Herz in einem ihr Entstehen ermöglichenden Maß geöffnet hatte. Allein meine innere Wandlung hatte also Vergebung bewirkt. Insofern stand Verzeihung weder im Gegensatz zum Gesetz des Karmas, noch war sie ungerecht. Ganz im Gegenteil war meine Erkenntnis mir Beweis dafür, dass Karma ausnahmslos für Gerechtigkeit sorgt – und auch dafür, dass sowohl Vergebung als auch Liebe, die auf der absoluten Ebene jeweils existieren, ohne irgendwelchen Bedingungen unterworfen zu sein, auf der relativen Ebene genauso dem Gesetz des Karmas unterliegen wie sämtliche anderen Geisteshaltungen auch.

Erst als ich all diese Zusammenhänge verstanden hatte, war ich endlich bereit, mich dem Göttlichen vollends zu öffnen und ihm mein gesamtes Sein zu schenken. Dies bedeutete eine weitaus größere Hingabe, als ich sie jemals mit dem Berg geübt hatte. Als direkte Folge der Umsetzung meines Entschlusses in die Tat empfand ich zum ersten Mal seit unermesslichen Zeiten wieder, wie es ist, glücklich zu sein. Doch handelte es sich um ein Glück, wie ich es im Leben nie gekannt hatte: Ich fühlte mich, als würde ich vollständig in Liebe aufgehen, als wäre ich gänzlich von einem klaren, hellen Licht durchdrungen. Da­durch wurde mir bewusst, dass es keine Grenze gab, dass niemals jemand anders mich in diesem Berg festgehalten hatte als ich selbst. Allerdings fühlte ich mich nunmehr dermaßen wohl, dass ich keinerlei Bedürfnis mehr verspürte, den mir über die Maßen lieb gewonnenen Berg zu verlassen.