Genau in dem Augenblick, in dem ich meine Sehnsucht nach Befreiung aus dem Fels überwunden hatte, empfand ich auf einmal die Anwesenheit eines fremden Wesens. Von dem Unbekannten ging ein Licht aus, das sogar das mich umgebende Gestein zu durchdringen vermochte. Diese wunderbare Erfahrung übte eine derartig starke Anziehung auf mich aus, dass mir schien, ich werde gerufen.
Kaum hatte ich realisiert, dass es sich bei dem Licht um so etwas wie eine Einladung handelte, als ich mich auch schon auf einem großen Felsvorsprung befand, auf dem ein indisch aussehender Mann mittleren Alters im Lotossitz meditierte. Er war es, von dem das Strahlen ausgegangen war, das ich hier im hellen Schein der Sonne allerdings nicht mehr zu sehen vermochte.
Licht, Luft, Landschaft! Von dem Wunder, nach einer mir unermesslich lang vorgekommenen Zeit endlich wieder etwas anderes wahrnehmen zu dürfen als dunklen, dichten Fels, fühlte ich mich geradezu überwältigt. Wie wunderbar und schön war die Welt! Und wie Ehrfurcht einflößend der langhaarige, vollbärtige Mann, der hier mit seltsam starr geöffneten Augen meditierte! Dabei schien sein Blick bis tief hinein in den Berg zu dringen – unmittelbar dorthin, wo ich mich bis vor einer Minute noch aufgehalten hatte.
In dem Moment, als mir traurig bewusst wurde, dass ich als Geistwesen für den Yogi nicht wahrnehmbar war, schaute er mich an. Dabei erweckte der Ausdruck seiner Augen den Anschein, er könne mich trotz meiner Körperlosigkeit sehen. In ihnen spiegelte sich eine solch mitfühlende Liebe, dass ich weinend vor dem heiligen Mann niedersank. Doch hörte ich da plötzlich ein von mir selbst zu kommen scheinendes, laut dröhnendes Geräusch. Vor Schreck lief es mir wie ein Schauer über den Rücken.
Von mir völlig unerwartet sprach der Fremde mich diesbezüglich an:
»Ja, Berggeist, so klingt dein Zorn. Warum bloß hast du dich zu einer solchen Radikalität hinreißen lassen, dass dein Hass alles Gute in dir zu verbrennen vermochte?«
Einerseits war ich erschüttert und erstaunt: Der Yogi schien mich nicht nur sehen zu können, sondern sogar vom allerschlimmsten Fehler meines Lebens zu wissen. Andererseits verstand ich nicht, wieso ich beim Versuch einer Entgegnung anstelle meiner Worte ein fürchterliches, sämtliches Geröll in der Umgebung in Bewegung versetzendes Donnergrollen vernommen hatte, das noch immer nicht vollkommen verklungen war. Entsetzt, verwirrt und beschämt zugleich zog ich es daher vor zu schweigen, statt die mir gestellte Frage zu beantworten.
Sobald endlich vollständige Stille eingekehrt war, ergriff der heilige Mann erneut das Wort:
»Wisse, dass Mensch und Tier dich genauso sehen, wie ich dich jetzt wahrnehme. Ebenso wenig, wie du bis vor Kurzem verstanden hattest, dass dich niemand jemals in dem dir als Hölle wie Gefängnis erschienenen Berg festgehalten hat außer dir selbst, hast du bis jetzt begriffen, dass du als Geistwesen nicht vollkommen körperlos bist. Entgegen deiner Selbstwahrnehmung verfügst du über einen dein emotional-geistiges Wesen ausdrückenden Scheinkörper. Und obwohl dieser sich deiner Wahrnehmung fürs Erste auch weiterhin entziehen wird, besteht die Möglichkeit, dass du lernst, ihn zu benutzen – zwar nicht gleich jetzt, aber immerhin in der näheren Zukunft.
Für den Augenblick bescheide dich damit, dir vor Augen zu führen, dass entsetzliche Zorneslaute hörbar werden, wann immer du deinen Mund öffnest – und zwar vollkommen unabhängig davon, was du zu sagen glaubst.«
Um durch das zu erwartende Wutgeheul kein Unheil anzurichten, schwieg ich und senkte demütig den Kopf. Da fuhr der Yogi fort:
»Wie du es anstellst, deinen Körper zu benutzen, kannst du von mir lernen. Doch bekommst du diesen dir ein neues Leben ermöglichenden Unterricht nicht umsonst. Ich erwarte dafür eine Gegenleistung. Bist du nicht bereit, auf meine Bedingungen einzugehen, musst du wieder im Berg verschwinden.
Bitte deute meine Worte nicht falsch. Es handelt sich bei ihnen nicht um eine Drohung, obwohl sie sich für dich bestimmt so anhören. Du wirst mich verstehen, sobald du begreifst, was dir im Augenblick nicht bewusst ist: Der Zorn in dir ist nach wie vor gewaltig genug, um dich zu einer immensen Gefahr für sämtliche deiner Mitwesen werden zu lassen, solltest du dich ungehindert in diesen Bergen bewegen. Dass du für andere zu einer Bedrohung wirst, kann ausschließlich durch deine Einwilligung in meine Bedingungen verhindert werden. Schau hier in dieses Wasser, und du wirst erkennen, wovon ich rede.«
Noch während er sprach, hatte der weise Mann mit dem Zeigefinger auf eine kleine Lache neben sich gewiesen. Seiner Aufforderung folgend erhob ich mich, ging zu der Pfütze, beugte mich über sie und sah hinein. Aufs Äußerste betroffen prallte ich zurück. Trotzdem vermochte ich meinen Blick nicht völlig von der Kreatur abzuwenden, deren Spiegelbild das Wasser mir zeigte. Sie war entsetzlich anzuschauen:
Ihr kraftstrotzender, breiter Körper mit seinem vorgewölbten Bauch war von feuerroter Farbe und übertraf menschliche Größe bei Weitem. Beine und Arme hingegen wirkten aufgrund ihrer Stärke eher kurz. Auf einem kräftigen Hals saß ein von einer wilden, in alle Richtungen abstehenden bläulich-schwarzen Haarflut eingerahmter Kopf. Die Stirn zierte ein drittes Auge. Allerdings war dieses fast vollständig geschlossen. Die anderen zwei Augen dagegen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Böse glotzend traten sie aus den von dichten, zusammengekniffenen Brauen überschatteten, kugelrunden Höhlen, während der zu einem boshaften Grinsen verzogene Mund in den Ecken lange, spitze Fangzähne sehen ließ. Finger- wie Fußnägel erinnerten an Krallen. Um den Hals hing diesem Wesen – mir – eine Kette aus frisch abgeschlagenen menschlichen Schädeln. Meine Blöße bedeckte ein Fell. Sonst war ich vollkommen nackt.
Schockiert begriff ich, was der heilige Mann meinte. Ohne dass ich ihm etwas über meine Vergangenheit erzählt hätte, war ich von ihm als dieses schrecklich zornvolle Etwas erkannt worden. Schließlich stellte die von mir im Wasser erblickte Spiegelung nichts anderes dar als seine Wahrnehmung meiner Persönlichkeit.
Obwohl ich aufgrund der von mir in meinem Felsengefängnis gemachten Entdeckungen geglaubt hatte, mich grundlegend geändert zu haben, hatte ich das Göttliche in mir bislang offenbar so unendlich wenig realisiert, dass ich nicht wie von mir gewünscht ein Licht der Liebe in die Welt strahlte, sondern rote Flammen lodernden Zorns. Allein die gute Absicht hatte mein Auftreten und Wirken noch nicht verändert. Der Weg, den ich zu gehen hatte, bis ich mein Ziel erreicht haben würde, schien unendlich weit. Obendrein hatte der Fremde von Bedingungen gesprochen. Wer weiß, was ich da alles auf mich nehmen sollte! Mir sank der Mut.
»Für einen über dermaßen viel Kraft verfügenden Dämon hast du erstaunlich wenig Selbstvertrauen«, kommentierte da der offensichtlich des Gedankenlesens fähige Yogi nachdenklich und fuhr fort:
»Höre, ich meine es gut mit dir. Immerhin ist meine Reise ins Schneeland unter anderem von dem Wunsch motiviert, Wesen wie dich von ihrem unglückseligen Weg abzubringen. Du wiederum hast dich offenbar dermaßen stark von mir angezogen gefühlt, dass es dir gelungen ist, dein Berggefängnis zu verlassen. Dies bedeutet, dass es in dir eine große Sehnsucht nach einem heilsamen Pfad gibt, nicht wahr?«
Um die vorhergesagten Zorneslaute zu vermeiden, beschränkte ich mich auf ein Kopfnicken. Da erklärte der Yogi:
»Durch deine Taten hast du dich jedoch solchermaßen entmenschlicht, dass du als der hier vor mir stehende Berggeist wiedergeboren worden bist. Sicherlich fragst du dich nun, welchen Ausweg es in dieser Lage für dich geben könnte.«
Abermals nickte ich bejahend. Doch ging mir gleichzeitig die Frage durch den Kopf, wer dieser Mann eigentlich war, der mich außergewöhnlich gut zu kennen schien und trotzdem keine Angst vor mir hatte, ja mir sogar helfen wollte. Warum tat er das?
»Wer ich bin, möchtest du wissen?«
Wie bereits von mir vermutet vermochte der Yogi, Gedanken zu lesen. Das stand nach der soeben von ihm geäußerten Frage unstreitig fest – und erschreckte mich zutiefst. Er aber fuhr seelenruhig fort:
»Es stimmt, deine Gedanken bleiben mir nicht verborgen. Ich höre sie wie Worte. Doch brauchst du mich deswegen nicht zu fürchten. Ich meine es wirklich gut mit dir. Hier in den Bergen gibt es viele fehlgeleitete Wesen, die den Menschen das Leben schwer machen. Ihretwegen und selbstverständlich auch um der Menschen selbst willen bin ich den weiten Weg aus meiner warmen Heimat hier hinauf in diese Kälte gekommen. Man nennt mich Padmasambhava. Du hast trotz Kleidung und Sprache richtig erkannt, dass ich aus Indien stamme.«
Das hier war also nicht ein von meiner Heimat Kalinga weit entfernter Teil Indiens. Wohin aber hatte es mich von dort aus verschlagen? Und was hatte es mit der von Padmasambhava erwähnten Sprache auf sich?
Der Yogi antwortete auf meine bloß gedachten Fragen:
»Siehst du den Fluss, der sich dort unten schlängelt? Das ist der im Südosten des Schneelands gelegene Teil des Jarlung Tsangpo. In diesem Leben ist das deine Heimat, Berggeist. Wieso wunderst du dich, dass du den von mir verwendeten Dialekt der Einheimischen verstehst? Anders als wir Menschen bist du als körperloses Wesen nicht auf Sprache angewiesen. So, wie du es mit dem Berg geübt hast, vermagst du, auch direkt mit dem Geist der dich umgebenden Wesen zu kommunizieren. Wenn ein Mensch mit dir spricht, ist es daher nicht wichtig, in welcher Sprache er oder sie das tut. Da du allerdings erst einmal lernen musst, wie du dich den Körperwesen deinerseits verständlich machen kannst, bist du fürs Erste auf das Verstehen dessen beschränkt, was andere zu dir sagen – es sei denn, du triffst jemanden wie mich, der ebenfalls in der Lage ist, direkt von Geist zu Geist zu kommunizieren.«
Nach einer kurzen Pause, während der Padmasambhava mich eingehend betrachtete, fuhr er fort:
»Du willst allerhand wissen, Berggeist. Die wichtigste Frage hast du bei deinem bisherigen Gedankengang jedoch vermieden: Wer bist du?«
»Vivekananda«, ging es mir durch den Kopf.
»Und weshalb nenne ich dich da nicht bei diesem Namen, sondern Berggeist? Wie ist es möglich, dass du nach wie vor nicht begriffen hast, dass der Mensch, der du einmal warst, längst gestorben ist? Obwohl du zweifelsfrei das karmische Erbe dieses Inders angetreten hast, bist du deshalb noch lange nicht derselbe wie er. Und du bist auch nicht noch immer tot, sondern bereits seit einer unermesslich langen Zeit wiedergeboren – allerdings nicht als Mensch, sondern als Dämon. Wenn du das nicht wahrhaben willst, sieh ein weiteres Mal in die Pfütze.«
Den Blick in das Wasser ersparte ich mir. Padmasambhava hatte Recht: Wahre Ewigkeiten lang hatte ich mich mit meinen heftigen Emotionen und Visionen identifiziert, ohne mich jemals zu fragen, wer oder was ich eigentlich wirklich war. Die Idee, dass ein menschliches Wesen ebenso wenig körperlos sein kann, wie es nach dem eigenen Tod als dieselbe Person in einer Hölle zu leben vermag, war mir dabei überhaupt nicht gekommen. Zu stark hatte ich an der Vorstellung von demjenigen festgehalten, der ich einmal gewesen war. Und obwohl ich dieses Selbstbild wahrlich nicht als angenehm empfunden hatte, war es mir trotzdem lieber gewesen, als mir einzugestehen, dass ich unmöglich der tote Vivekananda sein konnte.
Sobald ich diese Tatsache jedoch anerkannt hatte, verstand ich sogleich, dass bereits vor langer Zeit ein neues Leben mit einer ebenso neuen Identität begonnen haben musste. Dass diese die eines Geists oder gar Dämons sein könnte, wäre mir vor meinem Zusammentreffen mit dem Yogi allerdings niemals in den Sinn gekommen. Für meine entsetzliche Einfältigkeit schämte ich mich nun vor ihm.
»Glaub mir, Berggeist«, fuhr dieser darauf Bezug nehmend fort, »du bist bei Weitem nicht der Erste, den sein Zorn dermaßen blind gemacht hat, dass er nicht einmal sich selbst zu sehen vermag. Warum nur musstest du Ashokas fürchterliche Grausamkeit mit einem eigenen Blutrausch parieren? Ist dir denn niemals in den Sinn gekommen, dass das Gemetzel von Kalinga eine tiefere Bedeutung haben könnte?«
Padmasambhava kannte meine Vergangenheit. Das verwirrte mich. Und dass mir schleierhaft blieb, was er mit der tieferen Bedeutung gemeint haben könnte, von der er sprach, machte die Angelegenheit nicht besser. Infolgedessen wuchs meine Verlegenheit um ein Vielfaches. Mir wurde geradezu bange vor diesem Mann, der mein Schicksal in seinen Händen zu halten schien! Der aber versuchte, mich zu trösten:
»Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten, Dämon. Wenn du dem Pfad, den ich dir in Kürze zeigen werde, gewissenhaft folgst, wirst auch du eines Tages in der Lage sein, Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zu erkennen. Möglicherweise hilft es dir für dein zukünftiges Leben zu wissen, dass Chandashoka, wie du ihn nennst, sich in Dhammashoka verwandelt hat. Diesen Schritt zu vollziehen ist ihm gelungen, indem er sich das von ihm in Kalinga verursachte entsetzliche Leid zu Herzen genommen hat.
Und zu Recht hat man ihn als einen bezeichnet, der dem Dharma folgt! Immerhin hat er den Mut gehabt, sich von seinen Ansichten wie Taten abzukehren und den Weg des Friedens einzuschlagen. Dadurch hat er unzähligen Menschen, ja sogar Tieren sowohl in seinem Reich als auch in den daran angrenzenden Staaten zu einem guten Leben verholfen.
Noch bedeutender ist allerdings, dass er sich Gedanken um das Karma seiner Mitmenschen gemacht hat. Damit sie von dem profitieren konnten, was ihm dabei geholfen hatte, seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren, hat er überall in seinem Reich und weit darüber hinaus die Lehren Buddhas verkünden lassen. Gleichzeitig hat er sich selbst ehrlich bemüht, diesen zu folgen.
Verstehst du nun, dass die tiefere Bedeutung des Kriegs um Kalinga darin liegt, den Beweis dafür erbracht zu haben, dass ein Sterblicher allezeit die Möglichkeit hat, sich dem Göttlichen, wie du es nennst, zuzuwenden und ein guter Mensch zu werden? Ungeachtet dessen, was er bisher an Schrecklichem getan hat? Wie sehr verstrickt er in die von ihm selbst mitzuverantwortende Situation auch sein mag?
Berggeist, höre, es ist mir sehr wichtig, dass du begreifst, dass es mir keinesfalls darum geht, das Geschehene kleinzureden. Die unaussprechliche Entsetzlichkeit von Ashokas Taten brauche ich insbesondere dir wohl kaum vor Augen zu führen. Anstatt ihn zu verfluchen, solltest du ihn dennoch lieber segnen, auf dass er durch sein Vorbild dein Lehrer sein könnte, wenn du nur wolltest.«