Die Übereinkunft mit Padmasambhava

Nachdem der berühmte indische Yogi, der sich ausgerechnet den Ort meiner persönlichen Hölle als Stelle für seine Meditation ausgesucht hatte, mich erst aus dem Felsen und anschließend von meinem illusionären Selbstbild befreit hatte, war nun auch noch das Feindbild von ihm demontiert worden, dem ich wahre Ewigkeiten lang angehangen hatte. Von den Ausführungen Padmasambhavas über meinen einstigen Widersacher fühlte ich mich am Boden zerstört. Ashoka hatte sein Leben für sich und viele andere zum Guten gewendet! Dagegen hatte ich, dem das Wohlergehen seiner Mitmenschen eigentlich immer am Herzen gelegen hatte, mich durch meine Reaktion auf das von diesem Mann angerichtete Leid in das grässliche Wesen verwandelt, das ich soeben in der Pfütze erblickt hatte, neben welcher der indische Yogi meditierte. Was für eine Strafe, dass ausgerechnet mein ehemaliger Erzfeind nun mein Vorbild und Lehrer sein sollte!

Das geschah mir recht. Mein Leiden und Sterben wie das meiner Landsleute hatte einen Sinn gehabt. Doch hatte ich den nicht erkannt. Im Gegenteil: Da die Magadhaer das Leid nach Kalinga gebracht hatten, war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, der Tod möglichst vieler von ihnen sei das einzig Sinnvolle, was es in diesem Krieg und dessen grausamer Entscheidungsschlacht hatte geben können. Folglich hatte ich die Eroberer bekämpft. Nein, diese Aussage stimmte lediglich bei einer vordergründigen Betrachtungsweise: Im Grunde hatte mein erbitterter Widerstand dem Leid selbst gegolten.

Als ich jetzt vor dem Scherbenhaufen meiner früheren Überzeugungen stand, dachte ich nicht wie noch vor Kurzem im Berg an Liebe und Vergebung, sondern ausschließlich an meine große Schuld. Aufgrund des von Padmasambhava Gesagten fühlte ich, dass ich weit mehr zu verantworten hatte, als ich mir bislang eingestanden hatte. Daher trieb mir nun die Verzweiflung über das von mir angerichtete, nicht wiedergutzumachende Unheil die Tränen in die Augen. Doch während ich glaubte, herzzerreißend zu weinen, vergoss der mir von dem Yogi entdeckte Scheinkörper nicht eine einzige Träne. Stattdessen schwollen die Wasserfälle am Berg zu wahren Fluten an, die sich unter immer lauter werdendem Getöse die Abhänge herunterstürzten. Erschrocken von der Wirkung meiner Gefühlsaufwallung bemühte ich mich darum, mich zusammenzunehmen.

»He, Dämon«, versuchte der heilige Mann da sanft, aber bestimmt meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, bevor er mich aufforderte:

»Lass die Vergangenheit dort, wo sie hingehört. Würdest du dich mehr der Gegenwart widmen, würdest du schneller verstehen, wie dein neuer Körper funktioniert und wie nicht. Denk immer daran, dass es sich bei ihm lediglich um ein Scheingebilde handelt, dessen Zweck es ist, deiner Umwelt zu ermöglichen, dich wahrzunehmen und in Kontakt mit dir zu treten. Was auch immer du äußern willst – seien es Gedanken oder Gefühle –, wird nicht von ihm wiedergegeben. Doch dürftest du bemerkt haben, dass der Felsen, in dem du bisher ein­geschlossen warst, dein Innerstes offenbart, sobald du versuchst, dich mitzuteilen. Das verhält sich so, weil du durch deine beharrlichen Bemühungen zu einem Teil dieses heiligen Bergs geworden bist. Hier liegt der Anfang zu dem dir offenstehenden segensreichen Pfad. Es liegt an dir, ob du ihn beschreiten möchtest.«

Da ich dies unbedingt wollte, nickte ich meine Zustimmung. Daraufhin erklärte Padmasambhava:

»So lass uns jetzt endlich zu den Bedingungen kommen, die du zu diesem Zweck zu erfüllen hast: Dafür, dass du dich im Umkreis des heiligen Bergs frei bewegen kannst, musst du mir versprechen, die Nonnen und Yoginis, die in Zukunft hier Zuflucht suchen werden, um in aller Abgeschiedenheit von der Welt nach Befreiung aus dem Kreislauf leidvoller Wiedergeburten zu streben, vor jeglichem Ungemach zu bewahren und sie in ihren Bemühungen zu unterstützen. Für Letz­teres wird vermutlich bereits deine bloße Anwesenheit genügen. Wenn deine Schutzbefohlenen dich sehen, werden sie hart an sich arbeiten müssen, um sich nicht nur nicht vor dir zu fürchten, sondern sogar Mitgefühl für dich zu empfinden.

Weiterhin sollst du den heiligen Berg davor schützen, von anderen Menschen oder gefährlichen Tieren bewohnt oder besucht zu werden, damit diejenigen, die danach trachten, dem Buddha nachzufolgen, dies hier gefahrlos und ungestört tun können. In einigen Fällen wird ein bloßes Zeigen nicht ausreichen, und du wirst aktiv eingreifen müssen. Tu dies stets mit Nachdruck, aber ohne Gewaltanwendung. Denn selbst wenn du jemanden verjagen musst, soll dabei mitfühlende Liebe für dieses Wesen in deinem Herzen sein. Bedarf es also zum Beispiel einer Lawine, um Eindringlinge loszuwerden, sieh zu, dass du niemanden ernstlich verletzt.

Begegne den Yoginis und Nonnen ausnahmslos mit Respekt und Dankbarkeit dafür, dass sie danach streben, Erwachen nicht nur für sich selbst, sondern für alle Wesen zu erlangen – also auch für dich. Versuch, deinen Geist mit dem ihren zu verschmelzen, wie du es mit dem Berg geübt hast. Auf diese Weise wirst du vieles lernen, das du später auch zu deinem eigenen Heil anwenden kannst. Hab Geduld mit dir selbst, wenn du etwas nicht verstehst, und bedenke immer, dass der Berg reagiert, falls du dich vom Zorn übermannen lässt. Das aber kann katastrophale Folgen haben.

Sollte es trotzdem geschehen, dass du wütend wirst, unterdrück das Gefühl nicht. Dadurch würde es lediglich stärker werden. Geh stattdessen ein Stück weit weg, wo der von dir ausgehende Schaden keinen treffen kann und lass, sagen wir, eine Hand voll Steine den Abhang herunterdonnern. Ich werde dir eine Stelle zeigen, an der diese Steine nichts treffen als einige Felsbrocken, bevor sie im Wasser des Flusses versinken.

Also, Dämon, versprichst du mir, der Schutzgeist dieses Bergs sowie seiner nach Befreiung strebenden Bewohnerinnen und Besucherinnen zu sein, um dadurch gutes Karma für dich anzuhäufen?«

Zwar hätte ich die mir von Padmasambhava angetragene Aufgabe liebend gern übernommen. Doch war ich mir in Anbetracht meines enormen Wutpotenzials nicht sicher, ob ich mir die geforderte Selbstbeherrschung und das verlangte liebevolle Handeln wirklich zutrauen durfte. Was, wenn ich jemanden verletzte oder gar tötete?

»Ach Dämon«, unterbrach der Yogi meinen Gedankengang, »war deine Liebe etwa nicht groß genug, den Weg aus dem Berg heraus zu mir zu finden? Und meinst du nicht, dass ich weiß, was ich tue, wenn ich dir vertraue?

Ich gebe zu, du wirst es nicht leicht haben. Doch wird es dir helfen anzuerkennen, dass die Triebkraft deines dämonischen Wesens im Augenblick noch in Zorn besteht. Hast du aber erst einmal erkannt, was dich bewegt, versetzt dich dies in die Lage, es zu etwas anderem umzuformen. – Sag, wenn dich die Wut überkommt, hast du dann weiterhin Kontakt zu der in deinem Herzen wohnenden Liebe?«

Verneinend schüttelte ich den Kopf.

»Und als du die Liebe erfahren hast, war dein Herz da noch dermaßen versteinert und kalt wie während deiner Zornesausbrüche?«

Abermals verneinte ich durch Kopfschütteln.

»Investierst du deine Energie also in Wut, verschwindet die Liebe und umgekehrt. Mach dir diese Erkenntnis zu­nutze, Dämon, und lenk deine Lebenskraft willentlich um, sobald du den Ärger in dir wachsen fühlst. Hab den Mut, die vernichtenden Zorn zu erzeugen trachtende Hitze zu deinem vor Gefühlskälte versteinern wollenden Herzen zu leiten, um beides zusammen in die lebensspendende Wärme der Liebe umzuwandeln.

Lass den Mut nicht sinken, falls dir diese Übung nicht sofort gelingt. Mit der Zeit wird sie dir leichter fallen – insbesondere, wenn du gar nicht erst auf das Eintreten einer Situation wartest, in der deine Wut dich überwältigt. Viel wirkungsvoller wird es sein, kannst du zu jenem Zeitpunkt bereits auf möglichst große Übungserfahrung zurückgreifen. Dies wird aber lediglich der Fall sein, solange du das mögliche Geschehen bereits vorwegnehmend in deiner Vorstellung geübt hast. Zu diesem Zweck malst du dir aus, wie es ist, wenn du in Rage gerätst, und versuchst anschließend, die aufsteigende Hitze in Liebe zu verwandeln. Diese Art, dich der richtigen Technik zu bemächtigen, ist dem Trockenschwimmen vergleichbar. Verstehst du, was ich meine?«

Kaum hatte ich meine Zustimmung genickt, als Padma­sam­bhava auch schon fortfuhr:

»Du wirst viel Zeit zum Üben haben. Weshalb beginnst du nicht gleich jetzt damit? Das würde dir die Gelegenheit geben, einiges an Erfahrung zu sammeln, bis die erste Einsiedlerin auf diesem Berg erscheint.«

Die Worte des weisen Inders klangen überzeugend. Gleichwohl waren meine Zweifel nicht ausgeräumt. Ungeachtet meiner Bemühungen konnte es bei der Verteidigung des Bergs und seiner Bewohnerinnen doch trotzdem zu Verletzten oder gar Toten kommen!

»Ja, da hast du Recht: Es kann immer alles Mögliche geschehen«, entgegnete Padmasambhava, fuhr jedoch sogleich fort:

»Bei deinen Bedenken hast du allerdings nicht berücksichtigt, wie wichtig die deinem Handeln zu Grunde liegende Absicht ist. Du bist hier in dieser Existenzform wiedergeboren, weil es im letzten Leben dein Bestreben war, möglichst vielen Menschen zu schaden, ja sie sogar grausam zu vernichten. Handelst du hingegen vorsichtig, mit mitfühlender Liebe wie heilsamer Intention, und es kommt trotzdem zu einem Unfall, generierst du kein schlechtes Karma. In dem Fall machst du dich nicht schuldig, sondern stellst lediglich das Mittel dar, durch das sich das Karma des Unfallopfers erfüllt.

Du darfst nicht dermaßen viel Angst vor deiner eigenen Courage haben, Geist. Schau mich an. Fürchte ich etwa dein Versagen? Täte ich das, würde ich dir meinen Vorschlag nicht unterbreitet haben. Bedenke, dass, wenn du auf meine Bedingungen eingehst, ich in gewisser Weise die Verantwortung für das trage, was später hier geschieht. Schließlich vertraue ich dir und verlasse mich auf dein Wort – das Wort eines Dämons. Ist das etwa kein Risiko?«

Der heilige Mann beschämte mich. Er war um ein Vielfaches verständiger und weitblickender als ich. Sein Vertrauen darin, dass ich zu dem mir Vorgeschlagenen fähig war, hätte mir gleich Hinweis darauf sein können, dass ich mehr zu leisten vermochte, als ich mir zutraute. Daher fasste ich den Beschluss, auf seine Bedingungen einzugehen. Als ich mich dazu durchgerungen hatte, stieg eine Bitte in mir auf. Doch bevor sich die Gelegenheit bot, diese zu äußern, sagte der Yogi:

»Ich freue mich, dass du in meine Bedingungen eingewilligt hast. Damit betrachte ich unseren Pakt als geschlossen. Sei versichert, dass du meinen Segen für deine zukünftigen Bemühungen hast.«

Als Padmasambhava diese Worte sprach, war es mir, als könne ich den von ihm gespendeten Segen als ein helles, auf mich übergehendes Licht wahrnehmen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass der Yogi mein Herz außer mit diesem Licht auch mit großer Wärme gefüllt habe. Beides empfand ich als so etwas wie eine Rüstung, die mich in den mir bevorstehenden Kämpfen mit mir selbst vor schlimmen Verletzungen bewahren würde. Dafür empfand ich dem weisen Mann gegenüber immense Dankbarkeit.

Trotzdem hatte meine Bitte auch weiterhin Bestand. Angesichts dessen, dass Padmasambhava mich bereits dermaßen reich beschenkt hatte, wagte ich es jedoch nicht, mit dieser an ihn heranzutreten. Das war allerdings auch nicht nötig, wie seine weiteren Worte zeigten:

»Schon gut. Ich weiß, worum du mich bitten willst. Und ich verstehe, dass dein Begehr seinen Ursprung nicht in Maßlosigkeit hat, sondern dem Eifer und der Sorgfalt entspringt, mit denen du dich deiner neuen Aufgabe widmen möchtest. Ich freue mich, dass ich dich nicht extra auffordern muss, von mir zu lernen, sondern dass du darum nachsuchst, belehrt zu werden, wie du dich am besten auf deine neuen Pflichten vorbereitest.

In meiner nunmehr offiziellen Funktion als dein Lehrer werde ich dir als Erstes den optimalen Umgang mit deinem Scheinkörper zeigen. Daran anschließend wirst du mir einige Tage auf Schritt und Tritt folgen und versuchen, dich möglichst ohne eigene Gedanken in mich hineinzuversetzen, wie du es mit dem Berg getan hast. Wenn ich meditiere, bleib einfach bei mir sitzen, und nimm alles auf, was bei dir ankommt. Tu dies auch in dem Fall, dass du etwas noch nicht verstehst. Bewahr es in deinem Herzen und komm darauf zurück, wann immer du es zukünftig benötigst. Später, wenn ich gegangen bin, wirst du viel Zeit haben, über alles nicht Verstandene oder dir befremdlich Vorkommende zu meditieren. Verhältst du dich die bald hier erscheinenden Ordinierten betreffend in derselben Weise, wird der Tag kommen, an dem du nicht nur vollkommene Klarheit über das erlangst, was du in den nächsten Tagen erleben wirst, sondern letztendlich auch über dich selbst.«