Der angestrebte Wandel

Der mir von Padmasambhava gemachte Vorwurf der Lieblosigkeit mir selbst gegenüber, den er aus dem Umstand abgeleitet hatte, dass ich mich letztendlich zur Meditation hatte zwingen wollen, brachte mich völlig durcheinander. Ich sollte mich mit all meinen entsetzlichen Eigenschaften lieben und gleichzeitig daran arbeiten, diese unbedingt loszuwerden. Wie konnte er das von mir verlangen?

Auf dieses konfuse Aufbegehren hin entgegnete mein Lehrer entschieden:

»Ich verlange gar nichts von dir. Du bist selbst für dich verantwortlich und musst folglich deine Entscheidungen eigenständig treffen. Meinerseits versuche ich lediglich, dich in dem zu unterstützen, was du von dir aus anstrebst.«

Was ich anstrebte? Nach dem missglückten Versuch der Meditation fühlte ich mich von unserem Gespräch mittlerweile dermaßen überfordert, dass ich in keinster Weise mehr wusste, was ich eigentlich wollte. Oder sollte? Und wozu war ich unabhängig vom Wollen oder Sollen überhaupt in der Lage?

»Halt ein, Berggeist! Beruhig dich erst einmal.«

Als Padmasambhava dies sagte, klang seine Stimme dermaßen liebevoll, dass ich in Tränen ausbrach – Wasserfälle hin oder her. In meiner Verstörtheit fühlte ich mich derartig hilflos, dass ich vor lauter Scham am liebsten wieder im Berg verschwunden wäre. Mein Lehrer aber tröstete mich:

»Mein lieber Berggeist, das ist doch nicht nötig. Vertrau mir und lass uns noch einmal von vorn anfangen.«

Impulsiv dachte ich: »Nicht schon wieder«. Doch durch die Art, auf die mein Guru zu mir sprach, war es mir, als nähme er mich liebevoll an die Hand wie ein kleines Kind. Dies bewirkte, dass ich mich fügte und mir Mühe gab, nicht nur richtig zuzuhören, sondern vor allem zu verstehen, was der heilige Mann mir sagen wollte. Der fuhr daraufhin fort:

»So ist es gut. – Du bereust, dich in deinem letzten Leben von einem gutmeinenden Menschen in einen blutrünstigen Dämon verwandelt zu haben, richtig?«

»Ja«, nickte ich.

»Durch achtsame Einfühlsamkeit ist es dir gelungen, Liebe und Vergebung in dir selbst zu entdecken – auch richtig?«

Abermals bejahte ich.

»Die Sehnsucht nach der Möglichkeit, diese von dir neu entdeckte Liebe in deinem Leben zur Entfaltung kommen zu lassen, hat dich zu mir hinausgetrieben. Stimmt auch das?«

Ein weiteres Mal nickte ich meine Zustimmung. Da kommentierte der Yogi:

»Dazu gibt es Folgendes zu sagen: Du allein bist es, der den Wandel möchte, bedeuten deine positiven Antworten auf meine Fragen doch nichts anderes, als dass du in Zukunft nicht mehr wutbestimmt agieren willst. Sobald du verstanden hattest, dass auch du Liebe und Vergebung verdienst, hat dich das in die Lage versetzt, meine Ausstrahlung wahrzunehmen und davon angezogen dein Felsengefängnis zu verlassen.

Sämtliche Initiative, dein Leben zu verändern, geht also von dir selbst aus. Nicht ich verlange, dass du dich änderst, du willst es. Daher versuche ich, dich in deinen Bemühungen zu unterstützen. Dabei besteht meine einzige Forderung an dich darin, dass du dich an die von mir gestellten Bedingungen hältst – und auch dies nur, weil diese sicherstellen, dass du dein Ziel erreichst, ohne dir oder anderen zu schaden.«

Padmasambhavas Erklärung rührte mich zutiefst. Dieser Mann liebte mich tatsächlich. Sonst hätte er kaum solche Geduld aufgebracht, mir zu beweisen, dass ich – ein Dämon – der Liebe grundsätzlich wert war. Gleichzeitig verstand ich jedoch auch die in seinen Worten enthaltene Botschaft, dass es die von mir aufzubringende Liebe zu mir selbst war, die eine Veränderung zum Positiven für mich erst möglich machen würde.

Bevor ich im Berg begriffen hatte, dass es auch in mir Liebe gab, hatte ich an eine Veränderung meines Wesens nicht einmal denken können. Jetzt war es an der Zeit, die Theorie, dass ich ein Liebender sein könnte, in die Praxis umzusetzen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass ich erst einmal meinen derzeitigen Status quo akzeptierte. Ohne eine solche Akzeptanz gab es keinerlei Möglichkeit zum Wandel.

Schließlich bestand die Art der mir von Padmasambhava aufgezeigten Veränderung nicht in der Vernichtung meiner bisherigen Persönlichkeit, sondern in ihrer Transformation. Er hatte davon gesprochen, Wut in Liebe umzuwandeln, nicht davon, irgendwie meinen Zorn zu bekämpfen, um nach dem Sieg darüber die Liebe einzuführen. Diese von ihm intendierte Umgestaltung war jedoch nur möglich, erkannte ich das, was jetzt war, liebevoll als das Material an, mit dem ich arbeiten wollte.

»Vergiss aber nicht, was du außerdem benötigst«, unterbrach Padmasambhava meinen Gedankengang.

»Wie – noch mehr als Akzeptanz und Liebe?«, fragte ich mich erstaunt.

»Ja. Erinnere dich. Was kam vor den beiden?«

Allmählich glaubte ich doch, ein wenig begriffsstutzig zu sein. Worauf wollte der Yogi denn nun schon wieder hinaus?

»Du warst im Stein und hast Liebe und Vergebung in dir gefunden. Wie ist dir das gelungen?«

Wieso »gelungen«? Eigentlich war beides plötzlich einfach so da gewesen.

»Aber nein!«, entfuhr es meinem Lehrer ärgerlich. »Wieso bleibst du so sehr an der Oberfläche? Schau tiefer. Was hast du getan, bevor dir die Erkenntnis gekommen ist?«

Im Grunde hatte ich nichts Besonderes gemacht. Ich hatte bloß wie schon seit Langem in den Felsen hineingehorcht und versucht, ihn zu verstehen.

»Aber genau das ist es doch! Bei diesem Versuch hast du dich aus Dankbarkeit dafür, dass der Berg sich väterlich um dich gekümmert hat, mit großer Achtsamkeit darum bemüht, die gelassene Haltung dieses Himalayariesen zu verstehen, indem du dich in ihn hineinversetzt hast. Da Gelassenheit aber nichts anderes darstellt, als das positive Annehmen dessen, was ist, hast auch du dadurch letztendlich Akzeptanz gefunden – und zwar in dir selbst. Dazu hast du allerdings überaus große Geduld benötigt. Verstehst du nun, worauf ich hinauswill?«

Glücklicherweise schien Padmasambhava keine Antwort auf diese Frage zu erwarten, sondern fuhr sogleich fort:

»Bemühung um die drei Eigenschaften Achtsamkeit, Gelassenheit und Geduld ist nötig, damit mitfühlende Liebe und als deren Ergebnis auch Vergebung aufblühen können. Erst wenn du diese fünf Voraussetzungen sämtlich erfüllst, ist eine echte Transformation möglich.«

Das klang anspruchsvoll. Doch hatte ich keine Gelegenheit, lange darüber nachzudenken, ob ich jemals in der Lage sein würde, solch hohen Ansprüchen zu genügen, da mein Lehrer unverzüglich einwarf:

»Obwohl dieser Wandel nicht leicht werden dürfte, solltest du die von dir bereits unternommenen Bemühungen um Gelassenheit, Geduld wie Achtsamkeit nicht unterschätzen. Seit du den Berg verlassen hast, bist du einer solch großen Anzahl von neuen Eindrücken ausgesetzt gewesen, dass dein Leben im Felsengefängnis dadurch in den Hintergrund getreten ist.

So verständlich diese Reaktion auch ist, halte ich sie trotzdem nicht für wünschenswert. Das von dir im Berg Erlernte ist ungemein wichtig für die Aufgabe, die du hier draußen erfüllen möchtest. Wende die drei dort eingeübten Tugenden dir selbst gegenüber an, und es wird dir ein Leichtes sein, dich zu lieben sowie dir selbst zu vergeben. Übe sie anderen gegenüber, und du wirst die Befähigung erlangen, diese in mitfühlender Liebe anzunehmen – unabhängig davon, wie sie dich behandeln.«

Schade, dass ich keinen echten Körper hatte! Zu gern hätte ich Padmasambhava umarmt. Da ich dazu aber leider nicht in der Lage war und mir kein besserer Liebesbeweis einfiel, ließ ich mich mit Nachdruck im Lotossitz nieder, um durch diese Haltung zu zeigen, dass ich zur Fortsetzung unserer gemeinsamen Meditation bereit war. Daraufhin nickte mein Lehrer zustimmend und setzte die meinetwegen unterbrochene Übung in innerer Versenkung fort.

Nach diesem Fehlstart in Sachen Kontemplation folgte ich Pad­ma­sambhava noch drei Tage. Diese Zeit nutzte er, um mir zu zeigen, wie ein Yogi seinen Körper zur Schulung seines Geistes benutzt. Dadurch sollte ich ein Verständnis dafür entwickeln, was ich von den zukünftig hier übenden Yoginis zu erwarten hatte. Für mich persönlich besonders wertvoll war sein Unterricht darin, wie diese Körperübungen ausschließlich im Geist nachzuvollziehen sind. Dies erschien mir allerdings dermaßen kompliziert, dass ich die Anleitungen nicht sogleich umzusetzen vermochte. Damit war jedoch auch nicht zu rechnen gewesen.

Meine Unzulänglichkeiten wohl erkennend, schärfte der heilige Mann mir ein, dass es für den Augenblick lediglich darauf ankomme, das zu Grunde liegende Prinzip verstanden zu haben und mir die verschiedenen Anweisungen zu merken. Die Umsetzung könne ich später üben, wenn er nicht mehr bei mir sei.

Welch schrecklicher Gedanke! Ich vermochte mir gar nicht vorzustellen, wie ich ohne meinen Lehrer leben sollte. Doch beruhigte Padmasambhava mich sogleich:

»Berggeist, du wirst niemals ohne mich sein müssen. Solltest du in Not geraten, verlier dich nicht in Panik, Wut oder sonstige negative Emotionen, sondern lass dich im Lotossitz nieder und konzentrier dich mit aller Macht auf mich. Bittest du mich auf diese Art um etwas, wird dir Hilfe zuteilwerden.«

Mir war bewusst, dass das von dem weisen Yogi Gelernte mir Hilfe für viele Lebenslagen versprach. Doch nahm ich es darüber hinaus auch als Verpflichtung, den von mir mit Verlassen meines Felsengefängnisses eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen, bis ich eines Tages sein Ende erreicht haben würde. Als mein Lehrer schließlich Abschied von mir nahm, empfand ich daher zwar große Traurigkeit, mich von diesem von mitfühlender Liebe gänzlich erfüllten Wesen trennen zu müssen, war gleichzeitig jedoch auch voller Optimis­mus, dass ich meine neue Aufgabe zukünftig gut ausüben würde. An das mir gegebene Versprechen glaubte ich fest, wusste ich tief in meinem Innern doch, dass, wo auch immer Padma­sambhava sich physisch aufhalten mochte, er im Geiste stets bei mir sein würde, solange ich mich nicht von ihm abwandte.

Um ihm und mir den Abschied in diesem Sinne festlich zu gestalten und auch, um ihm zu zeigen, dass ich bereits etwas gelernt hatte, benutzte ich meine neu gefundenen Kräfte und ließ statt Lawinen, Hagelschauern oder dergleichen einen Regenbogen über seinem Weg erstehen. Wo immer er seinen Fuß hinsetzte, öffneten die Blumen am Wegesrand ihre Blütenköpfchen und nickten ihm zu. Mit einem liebevoll-freudigen Lächeln drehte er sich daraufhin ein letztes Mal zu mir um:

«Übrigens, Berggeist, wenn Ajatashatru eines Tages zu dir zurückkehrt, erinnere dich an das, was du über Liebe und Vergebung gelernt hast. Vergiss dich selbst dabei nicht!«

Nach diesen Worten wandte der Yogi sich abermals in die ursprünglich eingeschlagene Richtung und setzte seinen Weg fort. Nur wenige Schritte um einen Felsen weiter bergab und er war meinen Blicken entschwunden.

Was er mit seinen Abschiedsworten gemeint haben könnte, war mir vollkommen rätselhaft. Trotz der eindeutig indischen Herkunft des Namens Ajatashatru kannte ich niemanden, der so hieß. Doch da Padmasambhava sich seine Bemerkung bis zum allerletzten Augenblick aufgespart hatte, musste es sich um etwas Wichtiges handeln. Daher tat ich mit seinen Worten, was er mir aufgetragen hatte, bevor wir mit unserem Unterricht begonnen hatten: Ich bewahrte sie in meinem Herzen. Eines Tages würde dieser Ajatashatru kommen, da war ich mir sicher. Für den Fall würde ich vorbereitet sein müssen.

Nachdem meine Gedanken sich genug mit Padma­sam­bha­vas letzter Botschaft beschäftigt hatten, wurde es stiller in mir. Nein, eigentlich nicht wirklich in mir. Es verhielt sich vielmehr so, dass mir allmählich zu Bewusstsein kam, dass niemand mehr mit mir sprach. Wer weiß, wie lange es dauern würde, bis überhaupt jemals wieder jemand mit mir redete!

Bei diesem Gedanken überkam es mich siedend heiß, dass die Frauen, die sich auf ihrer Suche nach Erwachen hier einfinden sollten, bestimmt nicht über solch außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen würden wie mein Lehrer. Zum Gedankenlesen wären sie bestimmt nicht in der Lage. Und selbst wenn, würden sie mit dieser Gabe sicherlich nicht zu erfassen vermögen, was einem Dämon in seinem imaginären Kopf umhergeht. Nie wieder würde ich mich jemandem mitteilen können! Daran vermochte auch meine dämonische Fähigkeit nichts zu ändern, die Natur um mich herum zu benutzen, um meinem Innersten Ausdruck zu verleihen. Mit dem weisen Yogi hatte ich auf sonderbare Art einen Gedankenaustausch unterhalten. Nun aber war ich allein.

Infolge dieser Gedanken fühlte ich mich plötzlich so unendlich einsam, wie ich es mir zuvor niemals hätte vorstellen können. Selbst in Gegenwart anderer Wesen würde ich stets isoliert bleiben!

»Du denkst zu viel an das, was du dir für dich selbst wünschst«, hörte ich da plötzlich Padmasambhavas Stimme in meinem Kopf. »Widme dich besser deiner Aufgabe.«

Über diese Mahnung war ich erschrocken, betreten und erfreut zugleich, war sie mir doch Beweis, dass es so etwas wie eine Fernverbindung zwischen meinem Lehrer und mir gab. Obwohl ich ihn um nichts gebeten hatte, hatte er mir soeben geholfen. Offenbar hörte er meine Gedanken noch immer. Da man einen heiligen Mann jedoch nicht mit unnötigem Geschwätz stört, nahm ich mir vor, mehr zu meditieren, um weniger Gedanken zu haben. Gleichzeitig verspürte ich das beruhigend gute Gefühl, dass da jemand sei, an den ich mich würde wenden können, sollte ich es wirklich einmal vor Einsamkeit nicht mehr aushalten. Seltsamerweise genügte bereits dieses Wissen, dass ich mich niemals mehr so allein fühlte, wie in jenem Augenblick, da Padma­sam­bha­va mich verlassen hatte.