Nach dem Weggang des Mannes, der mich aus meinem Berggefängnis befreit und zu einem örtlichen Schutzgeist gemacht hatte, bevor er mein Lehrer geworden war, empfand ich mit unbeschreiblich großer Dankbarkeit, dass ich die Hölle ein für alle Mal hinter mir gelassen hatte. Durch den mit Padmasambhava geschlossenen Pakt war ich nach meiner Wiedergeburt als Höllenwesen in gewisser Weise ein weiteres Mal geboren worden – diesmal als Berggeist mit einer besonderen Berufung.
Doch begriff ich dieses mir durch meinen Lehrer gemachte Geschenk nicht als Selbstverständlichkeit. Dafür stand mir zu klar vor Augen, dass es nun, da ich auf mich allein gestellt war, ausschließlich von mir abhing, wie mein neues Dasein sich entwickeln würde. Ich hatte die mir gestellte Aufgabe zu erfüllen, einen Ort und seine zukünftigen Bewohnerinnen zu schützen. Zu diesem Zweck hielt ich es für ratsam, mich als Erstes mit der mir noch unbekannten Örtlichkeit vertraut zu machen.
So begann ich mein Wirken mit der Erkundung der den Berg umgebenden Landschaft. Bei meinen Streifzügen durch die Natur dieses Gebiets versuchte ich, Tieren, Pflanzen und Steinen zu übermitteln, dass sie sich nicht vor mir zu fürchten brauchten, da ich zu ihrem Schutz da sei. Vor allem bei den Tieren dauerte es trotz meiner Bemühungen seine Zeit, bis sie ihre Scheu vor mir überwunden hatten. Je intensiver ich mich jedoch bemühte, mich in sie hineinzuversetzen, sie zu verstehen und zu lieben, desto besser wurde unsere Beziehung.
Von der Menschheit ausgeschlossen fand ich auf diese Weise nach und nach eine vollkommen neue Welt. Als Padmasambhava gegangen war, hatte ich mich davor gefürchtet, nie wieder mit jemandem sprechen zu können. Doch dadurch, dass ich mich mit meinem gesamten Sein auf die mich umgebende Natur einließ, lernte ich mit der Zeit, mit Tieren, Pflanzen, ja sogar mit Steinen und dem Wasser zu kommunizieren, ohne menschliche Worte oder Gedanken dafür zu benötigen.
Durch dieses langsame Verschmelzen mit meiner natürlichen Umgebung veränderte ich mich. War es mir anfänglich am leichtesten gefallen, mich in Tiere einzufühlen, lernte ich später, die ruhige, langsame, aber trotzdem durchsetzungsfähige Art der Pflanzen zu schätzen. Wie das zugleich sanfte und starke, ruhige wie quirlige Wasser übten die Pflanzen vom großen Baum bis zum kleinen Moos einen beruhigenden und gleichzeitig stärkenden Einfluss auf mich aus. Noch ausgeprägter war die Wirkung des Gesteins auf mich, das trotz seiner scheinbar vollkommenen Unbeweglichkeit über ebenso intensive wie unterschiedliche Ausstrahlungen verfügt: Es schenkte mir Geborgenheit. Wollte ich mich zurückziehen, verschwand ich daher im Felsen.
Denn das hatte ich mittlerweile ebenfalls herausgefunden: Körperlos wie ich war, hatte ich als Teil des heiligen Bergs stets uneingeschränkt Zutritt zu ihm. Dafür war es mir auf der äußeren Ebene versagt, über seine weitesten Ausläufer hinauszugelangen. Dort gab es eine für mich zwar unsichtbare, doch trotzdem nicht überschreitbare Grenze. Daran störte ich mich jedoch nicht. Immerhin wäre es mir unmöglich geworden, meine Aufgabe zu erfüllen, wäre das von mir zu betreuende Gebiet allzu weitläufig gewesen.
Kaum vermisste ich die Menschen allmählich nicht mehr, als die ersten erschienen. Allerdings handelte es sich dabei weder um Nonnen noch Yoginis, sondern um Jäger. Ihr Eintreffen stellte eine eigenartige Erfahrung für mich dar: Lange, bevor ich sie zu hören, sehen oder riechen vermochte, fühlte ich sie. Da hatten sie soeben den heiligen Bezirk betreten. Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, dass es der Berg selbst gewesen war, von dem ich das Gefühl übermittelt bekommen hatte, jemand sei gekommen. Als Teil von ihm war es mir unausgesetzt möglich, Kenntnis von dem zu haben, was er wusste.
Ein wenig aufgeregt machte ich mich daran, meine Pflicht zu erfüllen, die Jäger zu verscheuchen. So schnell ich konnte, eilte ich dorthin, wo sie zu finden waren, um mich ihnen zu zeigen. Zwar hatte Padmasambhava gemeint, bei den meisten Leuten reiche es, wenn ich sie allein durch mein fürchterliches Aussehen erschrecke. Da dies jedoch mein erster Auftritt war, hielt ich es für angemessen, der Menschheit eine deutliche Botschaft zukommen zu lassen, mit welcher Gefahr sie es von jetzt an auf dem heiligen Berg zu tun hatte. Ich wollte die Jäger fühlen lassen, dass ich über Kräfte verfügte, denen sie nicht gewachsen waren.
Diesem Ansinnen entsprechend inszenierte ich eine von einem eiskalten Wind begleitete vorübergehende Verfinsterung gefolgt von einem kurzen, aber dermaßen intensiven Gewitter, dass es eine kleine Gerölllawine auslöste. Im Licht der Blitze zeigte ich mich den unwillkommenen Besuchern und wies ihnen mit ausgestrecktem Arm den Weg.
Die Wirkung war äußerst befriedigend: Die durchgehend wie hartgesottene Burschen aussehenden Jäger überlegten nicht lange, bevor sie ihren doch recht ungeordneten Rückzug antraten. Und nach diesem Ereignis dauerte es verhältnismäßig lange, bis sich erneut jemand nicht Hierhergehörendes auf den heiligen Berg traute.
Mein großer Erfolg war mir allerdings nur in der Hinsicht eine Freude, dass ich meine Aufgabe gut erfüllt hatte: Tiere wie Pflanzen waren von mir gewarnt worden, bevor die Jäger ihnen etwas hatten antun können, und anschließend war es mir mühelos gelungen, die Eindringlinge zu vertreiben. Sobald sich die Nachricht, wer hier hauste, in den Tälern verbreitete, würden die Nonnen und Yoginis sicher mehr Ruhe vor unerwünschten Besuchern haben. Die betrübliche Seite dieses wirkungsvollen Auftritts hingegen betraf mein Gefühlsleben: Wenn man sich eigentlich nach Liebe sehnt, ist es nicht leicht zu ertragen, dass der bloße Anblick der eigenen Person Angst und Schrecken auslöst.
Die Gesichter der Jäger, ja mehr noch ihre entgeisterten Blicke, als sie meiner gewahr geworden waren, hatten in meinem Geist Mienenspiel wie Augenausdruck der von mir erschlagenen Feinde im Moment ihres Todes wiedererstehen lassen. Bei den Jägern hatte ich genau dieselbe Angst, denselben Schrecken wahrgenommen wie bei den Kämpfern der Magadha-Armee. Als Simha hatte dieser Anblick mich in meinem unseligen Tun beflügelt. Jetzt machte er mich unendlich traurig. Doch gab es für mich keinen Trost: Was hier an meinem inneren Auge vorüberzog, gehörte längst der Vergangenheit an.
Obwohl mir bewusst war, dass ich meine Taten nicht ungeschehen machen konnte, bat ich trotzdem sämtliche meiner Opfer um Vergebung. Das Karma wird von Leben zu Leben weitergetragen. Möglicherweise vermochte ich daher doch noch etwas gutzumachen, indem ich meinen ehemaligen Feinden wenigstens ein Zeichen sendete, dass mir mein damaliges Verhalten leidtat. Zwar wusste ich nicht, ob auch nur die geringste Chance darauf bestand, dass diese Hoffnung sich erfüllte. Doch gab es so vieles, das ich früher für unmöglich gehalten hatte, und das trotzdem gelingen konnte, wie zum Beispiel die Kommunikation mit einem Berg. Dies aber war für mich Grund genug, wenigstens den Versuch zu wagen.
Als ich am auf meine Begegnung mit den Jägern folgenden Abend nach Hause zurückgekehrt war – womit ich die Stelle meine, an der ich Padmasambhava zum ersten Mal getroffen hatte und üblicherweise den Ausblick ins Tal genießend saß –, gab es trotz meiner Bemühungen um Fassung eine kleine Überschwemmung in den Bergseen ringsum. In gewisser Weise holte ich nun als Berggeist nach, was ich in der Vergangenheit als Simha versäumt hatte: Ich ließ den von ihm ungeweinten Tränen endlich freien Lauf.
Nicht lange nach meinem Erlebnis mit den Jägern traf die erste Nonne ein. Gleich meine erste Begegnung mit ihr war traumatisch: In dem Glauben, endlich wieder menschliche Gesellschaft zu haben, hatte ich mich bereits von Weitem über ihre Ankunft gefreut. Der Worte Padmasambhavas eingedenk, dass ich von meinen Schützlingen lernen solle, indem ich ihnen zuhörte und mich in sie hineinversetzte, war ich kurz nach dem Einzug der kahlköpfigen Heranwachsenden in eine der vielen Höhlen des Bergs zu ihr gegangen, um sie als ihr Beschützer zu begrüßen.
Die Reaktion der Nonne auf meinen Anblick machte mir jedoch sofort unmissverständlich klar, dass auf ihrer Seite von Freude keine Rede sein konnte: Sie schrie zwar nicht. Dazu war sie viel zu beherrscht. Doch hielt sie sich die geballte Faust in den geöffneten Mund und starrte mich mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an.
Ich hatte mich ihr genähert, als sie gerade aus ihrer neuen Wohnung getreten war. Nun stand sie wie angewachsen im Höhleneingang und rührte sich nicht. Sogar zu atmen schien sie nicht zu wagen. Das konnte nicht gut gehen. Als sie nach einer Weile am gesamten Leib zu zittern begann, dachte ich, es sei höchste Zeit, sie zu beruhigen. Aber wie?
Um ihr zu zeigen, dass ich vollkommen ungefährlich für sie sei, warf ich mich vor ihr zu Boden. Das Ergebnis war allerdings nicht das erhoffte: Statt eines erleichterten Aufatmens hörte ich ein dumpfes, klatschendes Geräusch. Als ich daraufhin aufblickte, lag die Nonne reglos im Höhleneingang. Was sollte ich jetzt tun?
Bei der Suche nach einer Lösung kam mir der Gedanke, ich könne ihr Gesicht mit einer Hand voll Tautropfen von dem Felsen über ihr beträufeln, um sie aus ihrer Ohnmacht zu erwecken. Bei ihrem Aufwachen würde ich allerdings fort sein müssen, damit sie mich nicht ein weiteres Mal erblickte. Da ich nicht in der Lage war, mich unsichtbar zu machen, beschloss ich, im Anschluss an diese Maßnahmen fürs Erste rasch Zuflucht im Berg zu suchen.
Der Plan ging auf: Als die Nonne zu sich kam und mich nicht mehr sah, wischte sie sich die Tropfen aus dem Gesicht, atmete tief durch und setzte sich auf. Unmittelbar darauf begann sie zu weinen. Meine Wirkung auf die Arme ließ mich verzweifeln. Ausgerechnet ich, dessen Aufgabe es war, diese noch sehr junge Frau vor Ungemach zu schützen, hatte sie zu Tode erschreckt!
Entsprechende Selbstvorwürfe ließen daher nicht lange auf sich warten: Es war naiv gewesen zu glauben, dass mein verderbtes Wesen auf eine so reine Kreatur wie diese Nonne anders als abstoßend wirken könnte. Nicht, dass Padmasambhava nicht ebenso reinen Herzens gewesen wäre. Doch verfügte er überdies über große Lebenserfahrung sowie immense spirituelle, ihn zu unbedingtem Mitgefühl befähigende Kenntnisse und Fähigkeiten. Im Gegensatz zu ihm stand diese Heranwachsende hier offenbar noch am Anfang ihres Wegs.
Wie hatte ich vergessen können, dass mein Aussehen der Spiegel meiner blutrünstigen Vergangenheit war? Allein die um meinen Hals hängende Kette aus menschlichen Schädeln musste jeden nur annähernd liebevollen Menschen mit tiefster Abscheu erfüllen. Ich hätte mich bescheiden zurückhalten und Distanz wahren sollen. Um mich in die Nonne einzufühlen, brauchte ich nicht in ihrer Nähe zu sein. Mit ihr verhielt es sich nicht anders als mit allen anderen, sich im Gebiet des heiligen Bergs aufhaltenden Wesen: Selbst ohne sie zu sehen, vermochte ich sie zu spüren. Ich aber war neugierig und selbstsüchtig gewesen, war meine Aufgabe völlig falsch angegangen!
Diese Interpretation der Ereignisse hatte Folgen für die Zukunft: Nie wieder ließ ich mich absichtlich vor meinen Schutzbefohlenen sehen. Wenn sie mich zufällig doch erblickten, eilte ich ausnahmslos davon, um mich zu verstecken. Aus sicherer Entfernung versuchte ich anschließend jeweils festzustellen, ob der Nonne oder Yogini etwas zugestoßen war. Meistens schienen die meiner Obhut Anvertrauten schlicht darüber erleichtert, dass ich schnell verschwunden war. Manchmal grüßten einige jedoch die Stelle, an der sie mich erblickt hatten, indem sie die Hände wie zum Gebet vor ihrem Herzen aneinanderlegten.
Ich war mir nie sicher, was dieses Verhalten zu bedeuten hatte. War es ein Dank dafür, dass ich ihnen kein Leid angetan hatte? Ein Gebet, um auch in Zukunft vor mir geschützt zu sein? Oder handelte es sich um eine Art Gruß? – Bei manchen schien es mir, als freuten sie sich, mich gesehen zu haben. Doch war diese Wahrnehmung möglicherweise lediglich meiner Sehnsucht nach Liebe geschuldet. Um das beurteilen zu können, war ich in den Augenblicken, in denen die Frauen mich kurz zu Gesicht bekamen, stets viel zu aufgeregt. Infolgedessen fand ich nicht in den Zustand innerer Sammlung, der mich sonst in die Lage versetzte, entsprechende Empathie aufzubringen. Dabei gelang es mir in anderen Situationen mittlerweile zunehmend besser, die mir gebotene Einfühlsamkeit für meine Schützlinge zu entwickeln.
Angesichts meiner Unsicherheit wahrte ich zu den nach Erwachen Strebenden lieber vorsichtig Distanz. Da ich mich gleichzeitig jedoch nach Nähe und menschlicher Wärme sehnte, empfand ich dies als zutiefst deprimierend. Nach dem ersten und einzigen wirklichen Zusammentreffen mit einer meiner Schutzbefohlenen hatte mich das Gefühl von Traurigkeit nie wieder verlassen – auch, weil ich ahnte, dass ich durch eine nähere Bekanntschaft mit den Yoginis und Nonnen mehr von ihnen hätte lernen können. Hinzu kam, dass ich trotz meines Wissens um die Unveränderbarkeit meiner Vergangenheit weiterhin großen Kummer über die Gräueltaten empfand, die zu begehen ich als Simha fähig gewesen war. So kam es, dass statt der Wut, die früher mein ständiger Begleiter gewesen war, jetzt die Trauer mein bester Freund geworden zu sein schien.
Dabei war mir allerdings nicht bewusst, dass die von mir empfundene tiefe Traurigkeit ebenfalls einen Ausdruck von Zorn darstellte. Nur handelte es sich diesmal sozusagen um die passive Variante dessen, was beiden Emotionen zu Grunde liegt: Ablehnung. Statt meine Lage anzunehmen, wehrte ich mich nach wie vor gegen sie. Da es mir mittlerweile jedoch immerhin gelungen war, meinen Willen, nicht mit Wut auf irgendetwas zu reagieren, um ein Vielfaches zu stärken, hatte sich meine vorherige heiß nach außen strebende Reaktion nun in etwas schwer und lastend nach innen Wirkendes verwandelt.
Neben meinem starken Willen spielte bei diesem Vorgang sicherlich auch eine Rolle, dass ich mir in der Erkenntnis, weder an meiner grausamen Vergangenheit noch an der von mir anders gewünschten Gegenwart etwas ändern zu können, dermaßen ohnmächtig vorkam, dass ich es einfach nicht weiter fertigbrachte, meine Ablehnung wie vormals als mächtigen Zorn auszudrücken. Und so waren an die Stelle vormaliger Selbstüberschätzung niederdrückende Selbstzweifel getreten.
Trotz der scheinbaren Unüberwindbarkeit meiner Traurigkeit gab ich mein Bestes, ihr zu widerstehen. So versuchte ich zum Beispiel weiterhin mit aller Kraft, inneren Frieden durch Konzentration auf die Natur zu finden. Und auch die Lektionen halfen mir, die ich dadurch erhielt, dass ich den Mädchen, Heranwachsenden und Frauen bei ihrem Tun zuhörte und oft auch von Ferne zuschaute. Auf diese Weise sah ich Generationen von Übenden auf den Berg kommen und nach unterschiedlich langen Zeiten wieder gehen, ohne dass sich an meinem Leben grundsätzlich etwas geändert hätte.
Das gesagt, eins bewirkte die Eintönigkeit meines Daseins doch: Ich wurde insgesamt immer ruhiger und aufmerksamer – selbst noch für kleinste Kleinigkeiten. Meine stetig wachsende Achtsamkeit wiederum ermöglichte mir die Erkenntnis, dass die unveränderlich wirkende Kreisbahn, auf der mein Leben sich zu bewegen schien, in Wirklichkeit einer Spirale glich, bei der man zwar für lange Zeit immer wieder in denselben Bereich gerät, aber doch stets an einen anderen darin gelegenen Punkt.
Trotz aller scheinbaren Wiederholung gab es also doch ein gewisses Maß an Veränderung, auch wenn dieses bis jetzt ausgesprochen winzig war. Dank dieser Erkenntnis hegte ich ungeachtet der unendlichen Langsamkeit meiner Entwicklung große Hoffnung in Bezug auf meine Zukunft, was dazu führte, dass ich mich mit der Zeit weitestgehend mit meinem Dasein als Berggeist aussöhnte. Eine gewichtige Ausnahme davon blieb allerdings auch weiterhin bestehen: meine unstillbare Sehnsucht nach Liebe.