Eines Nachts, als ich von Einsamkeit gequält vor dem Eingang zu einer bereits seit längerer Zeit von einer betagten Yogini bewohnten Höhle wachte, kam mir die Idee, ich könne diese Frau einmal in ihrer Unterkunft besuchen und mir aus der Nähe anschauen. Die Zeit dazu war günstig – nicht nur, weil die Yogini, wie ich fühlte, tief schlief, sondern auch, weil das helle Licht des Vollmonds momentan direkt in ihre ärmliche Behausung schien. Also schlich ich mich hinein und betrachtete die in sitzender Position in einer Art Kiste schlafende Frau. Was die Menschen nicht alles mit ihrem Körper anstellen, um Erwachen zu erlangen!
Die Yogini – eine weißhaarige Alte mit einer wettergegerbten Haut voller Falten – war mit einem ungewöhnlich ausdrucksstarken Gesicht gesegnet. Im Schlaf war sie dazu dermaßen friedlich anzuschauen, dass ich sie auf ihre Art sogar schön fand. Wer jemanden wie sie als Mutter hatte, konnte sich glücklich schätzen. – Welch ein Gedanke! Für mich stellte es bereits ein großes Glück dar, einem menschlichen Wesen derart nahegekommen zu sein wie jetzt hier: ohne trennenden Fels oder andere Verstecke!
Lange hockte ich neben der Alten und lauschte ihren ruhigen, regelmäßigen Atemzügen. Da ich aber wusste, dass die Höhlenbewohnerinnen im Sitzen schliefen, um zwecks Übungen regelmäßig aufzuwachen, blieb ich lieber nicht zu lange. Schließlich wollte ich nicht entdeckt werden und die Yogini dadurch erschrecken.
Bevor ich ging, schaute ich mich kurz in ihrer Behausung um, die ich aus Respekt bisher noch niemals betreten hatte: Die Einrichtung war äußerst spartanisch und rein zweckmäßig. Es gab keinerlei Schmuck, um die Höhle ein wenig wohnlicher zu machen. Das einzig Schöne bestand in einem kleinen, mit Blumen und Butterlampen geschmückten Altar. Bei diesen handgefertigten Leuchten handelte es sich um einen Luxusgegenstand, den Nonnen aus dem Kloster im Tal in regelmäßigen Abständen zusammen mit einigen wenigen Grundnahrungsmitteln wie Gerstenmehl oder Butter hier heraufbrachten.
Es musste eine besondere Nacht sein: Die Butterlampen brannten, obwohl der begrenzte Vorrat normalerweise zur Sparsamkeit nötigte. Als ich mir in ihrem Licht die über dem Altar hängenden, selbst gemalten Bilder genauer ansah, erschrak ich: Dort gab es auch eine Darstellung von mir! Sie war sehr alt und mit einer Blumengirlande geschmückt. Ein im flackernden Schein der Leuchten gut erkennbares Häuflein Asche verriet mir, dass die Alte Räucherwerk davor abgebrannt haben musste. Von diesem Anblick zutiefst verstört floh ich schnellstmöglich aus der Höhle.
Draußen setzte ich mich auf meine Lieblingsklippe. Die kühle Nachtluft und der weite Ausblick taten mir gut. Ich war vollkommen verwirrt. Was sollte das? Ich war kein Gott, kein Erwachter, nicht einmal ein Vorbild – ganz im Gegenteil! Was also machte mein Bild über einem Altar? Wozu die Verehrung?
Da hörte ich vorsichtige Schritte hinter mir. Ohne mich umzudrehen, wusste ich, dass es die Alte war. Ich wollte sie nicht erschrecken, doch was konnte ich tun? Immerhin saß ich auf einer Klippe. Wollte ich vermeiden, die Yogini mit meinem Anblick zu konfrontieren, gab es für mich nur eine Wahl: hinunterspringen.
Als ihr Beschützter wie in Panik Reißaus vor ihr zu nehmen, schien mir jedoch reichlich unpassend, insbesondere nach dem, was ich soeben in der Höhle gesehen hatte. Blieb nur der Weg zurück – dorthin, wo die alte Frau stand. Gezwungenermaßen erhob ich mich und drehte mich so sachte wie möglich um. Auf sie zu ging ich nicht, da ich ihr nicht das Gefühl geben wollte, sie werde eventuell angegriffen. Doch wie staunte ich, als sie mich nur kurz ansah und sich anschließend vor mir niederwarf!
Wie ich die alte Frau so mit ihren über den Kopf gestreckten, wie zum Gebet zusammengelegten Händen vor mir auf dem Boden liegen sah, beschlich mich der Gedanke, dass hier eine Verwechslung vorliegen müsse. Sah ich möglicherweise irgendeinem Dämon ähnlich, von dem jeder wusste, dass es sich bei ihm um einen Erwachten handelte?
Da mir nur allzu bewusst war, wie weit ich von Buddhaschaft entfernt war, beeilte ich mich, die Yogini zum Aufstehen aufzufordern. Da ich davon ausging, dass sie meine Gedanken nicht zu hören vermochte, wehte ich zu diesem Zweck einige winzige Steinchen zu ihr hin. Als sie mich daraufhin anschaute, signalisierte ich ihr durch eine Geste, sich zu erheben. Ohne Hast folgte sie meiner Aufforderung und schaute mir dabei fest in die Augen. Das allein war bereits ein Wunder: Sie hatte weder Angst vor mir, noch ergriff sie die Flucht!
Ein solches Verhalten war mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte. Sie aber beließ es nicht dabei, sondern sprach mich mit vor der Brust zusammengelegten Händen an:
»Oh Tschatų–laq, ich wusste, dass in dieser Nacht etwas Besonderes geschehen würde. Heute ist es genau hundert Jahre her, dass Ihr Guru Rinpotche im Kampf unterlegen seid und er Euch in den Dienst des Dharma gestellt hat. Ich danke Euch, dass Ihr mir die Gelegenheit gebt, mich im Namen all meiner Schwestern für Euren Schutz und Eure Unterstützung zu bedanken. Zwar tun wir das auch jeden Tag vor Eurem Bildnis. Doch habt Ihr auf diese Weise möglicherweise mehr Freude daran. Was mich betrifft, so verspreche ich Euch, mich zu bemühen, den Segen, der mir durch die Gnade der Begegnung mit Euch zuteilwird, durch mein Üben an alle empfindungsfähigen Wesen weiterzugeben.«
Trotz meiner tiefen Erschütterung gelang es mir, mich zusammenzureißen und kein Erdbeben oder dergleichen zu verursachen. Stattdessen hüllte ich die betagte Frau, die barfuß und nur spärlich bekleidet der für Menschen beißenden Kälte trotzte, in eine sanfte, warme Brise. Dies zauberte ein dankbares Lächeln auf ihr Gesicht. Weil ich nicht wollte, dass sie noch mehr sagte, führte ich meinen rechten Zeigefinger an die Lippen. Anschließend legte auch ich die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte mich tief vor der Yogini. Als ich mich wieder aufgerichtet hatte, sah ich Tränen in ihren Augen. Da eilte ich, so schnell ich konnte, an ihr vorbei, hinein in die Dunkelheit.
In dieser Nacht benötigte ich eine der sicheren Stellen, um meinen Gefühlen schadlos für meine Mitwesen freien Lauf lassen zu können. Nicht alle meiner Schützlinge fürchteten sich vor mir, wie die erste Nonne das getan hatte! Ganz im Gegenteil: Die meisten waren mir dankbar. Die Yogini empfand es sogar als Segen, dass sie mich hatte treffen dürfen!
Das rührte mich zutiefst. Ich fühlte mich geliebt. Meine Verwunderung darüber, dass außer Padmasambhava noch jemand fähig war, mich zu lieben, ließ mich wiederum verstehen, dass ich die Lektion meines Lehrers trotz aller Bemühungen nach wie vor nicht gelernt hatte: Ich liebte mich selbst noch immer nicht – nicht wirklich. Im Gegensatz dazu beteten die meinem Schutz Anbefohlenen sogar für mich. Das hatte die Yogini zwar nicht direkt gesagt. Ohne es selbst zu wissen, hatte sie es mir jedoch soeben verraten, indem sie mich »Tschatų« genannt hatte. Oft genug hatte ich ihr und ihren Schwestern zugehört, wenn sie sich allein in der Höhle aufhielten. Daher wusste ich, dass sie für einen, den sie mit diesem schrecklichen Wort bezeichneten, bei Padmasambhava um Beistand beteten, um ihn auf diese Weise darin zu unterstützen, seine Aufgabe gut zu erfüllen. Dass sie mich – den Berggeist – damit meinen könnten, war mir allerdings niemals in den Sinn gekommen. Weshalb sollte jemand für einen Dämon wie mich beten?
Aufgrund dieser Haltung hatte ich niemals weiter darüber nachgedacht, was oder wen die meinem Schutz Anvertrauten eigentlich meinten, wenn sie Beistand für einen Bluttrinker erbaten. Immerhin benutzten die Nonnen und Yoginis dermaßen viele Begriffe, mit denen sie etwas anderes bezeichneten, als deren wörtliche Bedeutung vermuten ließ. In diesem Fall aber hatten sie tatsächlich über jemanden gesprochen, der das Blut anderer getrunken hatte: mich. Wie konnten sie wissen, dass es mir nicht gereicht hatte, den Lebenssaft meiner Feinde zu vergießen, sondern dass ich ihn mir sogar einverleibt hatte?
Dieser verzweifelte Gedanke ließ vor meinem inneren Auge das Bild eines riesigen, in Finsternis getauchten Schlachtfelds erstehen. Es war angefüllt mit kopf- und gliedlosen Leichen, aufgeschlitzten Körpern und allen möglichen, in unzähligen Pfützen und Seen aus Blut schwimmenden Körperteilen – vom kleinsten Fingerglied bis zum ganzen Kopf. Am Rand des Schlachtfelds gab es einen Fluss, in den sich vom Kampfplatz her unzählige Rinnsale von Blut ergossen: Damals, in der Schlacht um Kalinga, waren dermaßen viele Menschen verwundet oder getötet worden, dass ihr Lebenssaft die Wasser des das Schlachtfeld begrenzenden Flusses tiefrot gefärbt hatte.
Mein Bluttrinker-Ich empfand bereits diesen Anblick als unerträgliche Anklage. Doch sollte es noch schlimmer kommen: Plötzlich erschienen in der Finsternis über dem Schlachtfeld zahllose tote Augen und starrten mich durchdringend an. Gleichzeitig hörte ich einen vielstimmigen Aufschrei:
»Trink! … Trink! … Trink! …«
Ich wollte nicht. Kein Blut trinken, nicht diese entsetzlichen Bilder sehen und auch nicht weiter diese Worte hören müssen. Daher schrie ich. Schrie gen Himmel, dass die Berge um mich herum einstürzten, bevor ich mit schier endlosen Tränen dafür sorgte, dass sämtliche Seen in der Umgebung überliefen.
Als ich mich ausgeweint hatte, fühlte ich mich furchtbar leer. Nur das Wort »Bluttrinker« dröhnte ununterbrochen in meinem imaginären Kopf. Da sah ich auf einmal Padmasambhava direkt über mir auf einem der soeben heruntergedonnerten Felsbrocken sitzen.
»Das Wort ›Tschatų‹ stellt doch lediglich eine etwas unglückliche Übersetzung dar«, versuchte er mich mitfühlend zu trösten. »Im Schneeland wird jede zornvolle Erscheinungsform eines Buddhas oder Bodhisattwas so genannt. Du bist zwar weder das eine noch das andere, Berggeist. Doch handelt es sich bei deinen Schützlingen um sehr höfliche, dankbare Menschen. Da du der Wächter dieses Bergs bist, hat dessen Heiligkeit sozusagen ein wenig auf dich abgefärbt. Sie wissen, dass du ein Damtchen bist – ein von mir eingesetzter Schützer dieses Orts und der an ihm Praktizierenden. Dass du den Segen zu deinem Tun ausgerechnet von ihrem geliebten Guru Rinpotche bekommen hast, trägt dazu bei, dich als etwas Besonderes zu betrachten. Dagegen ist deine Vergangenheit hier niemandem bekannt. Nur du und ich wissen, wie du auf diesen Berg gekommen bist. Verschwende deine Energien daher nicht mit verflossenen Zeiten, sondern nutze sie stattdessen, um deinem gegenwärtigen Ruf gerecht zu werden.«
Mit diesen Worten löste sich das Bild meines Lehrers vor meinen Augen in Luft auf. Erst dadurch begriff ich, dass es sich um eine Vision gehandelt hatte!
Die Yogini hatte gesagt, es sei hundert Jahre her, dass Padmasambhava mich im Kampf besiegt habe. Welch sonderbare Vorstellung! Als ob es jemals ein Ringen zwischen diesem so hoch über mir stehenden Mann und mir hätte geben können! Ja, er hatte mich besiegt. Dazu hatte es jedoch weder eines Kampfs noch übernatürlicher Kräfte bedurft. Zwar bezweifelte ich nicht, dass der Yogi über Fähigkeiten verfügt hatte, die weit über das hinausgingen, was allgemein als menschenmöglich angesehen wird. Dessen ungeachtet war das Dämonische in mir allein durch Guru Rinpotches allumfassendes, bedingungsloses Mitgefühl sowie sein tiefes Verständnis allen Seins so weit bezwungen worden, dass es mir gelungen war, den mir von ihm aufgezeigten heilsamen Weg einzuschlagen. Sein Sieg über mich war mir Befreiung gewesen.
Hundert Jahre … Es fiel mir schwer zu glauben, dass bereits dermaßen viel Zeit verflossen sein sollte. Im Vergleich zu der von mir eingesperrt im Berg verbrachten Ewigkeit war mir dieses Jahrhundert recht kurz vorgekommen. Daher wagte ich nicht, daran zu denken, wie viele solcher Jahrhunderte seit der Schlacht von Kalinga wohl vergangen sein mochten!
Der heilige Mann musste längst tot sein. Trotzdem war er mir in meiner höchsten Not erschienen. Wie war das möglich? Bei der Vision konnte es sich nicht um etwas aus meinem eigenen Geist heraus Entstandenes handeln. Schließlich stellten die mir soeben von Padmasambhava gegebenen Erklärungen nichts dar, das ich schon einmal gewusst und später vergessen hatte, sondern waren etwas mir vollkommen Neues.
Da ich mich nicht in der Lage sah, das Rätsel zu lösen, beschloss ich, es einfach dabei zu belassen, dass mir Hilfe zuteilgeworden war, als ich sie dringend benötigt hatte. Dabei hatte ich nicht einmal darum gebeten! Vor lauter Verzweiflung war ich dazu in keinster Weise fähig gewesen. Dementsprechend empfand ich das Erscheinen Padmasambhavas als ein Wunder – eines, für das ich zutiefst dankbar war.