Ein Schutzgeist übt sich in Liebe
Auf die Nacht, in der zunächst die betagte Yogini mit mir gesprochen hatte, bevor mir im Anschluss an die daraufhin erlebte Schlachtfeldvision mein Lehrer Guru Rinpotche erschienen war, folgte mit Einsetzen der Dämmerung sanft und leise ein neuer Morgen. Während die Sonne dabei am Himmel aufstieg, schien auch in mir ein Licht aufzugehen. Die Yogini hatte Recht gehabt: Es war eine besondere Nacht gewesen. Hundert Jahre nach meiner Befreiung durch Padmasambhava war ich in dieser auf gewisse Weise noch einmal befreit worden.
Dessen ungeachtet blieb ich auch weiterhin ein Dämon. Hätte ich dies nicht von selbst eingesehen, ich hätte mich nur umschauen müssen: Die von mir in meiner Umgebung angerichtete Verwüstung war beredtes Zeugnis der in mir wohnenden zerstörerischen Kräfte, denen ich letzte Nacht freien Lauf gelassen hatte.
Außerdem war ich aber auch ein Schutzgeist. Dass mir dies solch großes Ansehen bei meinen Schützlingen einbringen könnte, hätte ich vor den Ereignissen dieser unvergesslichen Nacht nie gedacht. Wie das Vertrauen Padmasambhavas in mich mir Segen und Verpflichtung zugleich war, verstand ich auch den von mir bei den Menschen genossenen Ruf als eine Aufgabe, der ich gerecht zu werden hatte. Von nun an wollte ich die meinem Schutz Anvertrauten nicht nur noch besser unterstützen und vor jeglichem Ungemach bewahren, sondern ihnen auch zeigen, dass ich sie liebte.
Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht so recht wusste, wie ich das anstellen sollte. Dessen ungeachtet war ich diesen dankbaren Menschen gegenüber meinerseits von grenzenloser Dankbarkeit dafür erfüllt, dass ihre Großherzigkeit es ihnen ermöglichte, das Bild eines derartig furchteinflößenden und schuldbeladenen Wesens wie mir über ihren Altar zu hängen. Daher war ich fest entschlossen, einen Weg zu finden.
Die vergangene Nacht hatte mir unmissverständlich vor Augen geführt, zu welch abstoßender Unmenschlichkeit ich mich als Mensch hatte hinreißen lassen. Es war an der Zeit, nicht weiter vor dem Bild dieses das Blut seiner Opfer trinkenden Monsters wegzulaufen. Ich musste mich endlich meiner Vergangenheit stellen – nicht in dem Sinn, dass ich meine unermessliche Schuld anerkannte und jegliche Strafe dafür akzeptierte. Das hatte ich längst getan. Nein, darüber hinaus hatte ich endlich mit aller Kraft meines Herzens zu versuchen, den Bluttrinker, der ich als Mensch gewesen war, wahrhaft zu lieben – obwohl er es weder verdient hatte, noch es irgendetwas an ihm gab, das ich auf welche Art auch immer anziehend gefunden hätte.
Es ging nicht darum, die Taten Simhas – meine Taten – schönzureden oder meine Schuld zu mindern, indem ich Gründe fand, die meine entsetzliche Verirrung irgendwie rechtfertigen würden. Meine Schuld stand außer Frage. Trotzdem hatte das Göttliche auch damals in mir existiert. Nur war es nicht mehr erkennbar gewesen, da ich es im Blut meiner Opfer ertränkt hatte.
Durch die Geschehnisse der letzten Nacht begriff ich es nun als meine Aufgabe, endlich mit dem Herzen so zu werden wie die alle Wanderer unterschiedslos tränkende Quelle. Nur wenn ich das dämonische Wesen, zu dem ich mich als Mensch gemacht hatte, wirklich zu lieben begann, würde ich das Göttliche in mir von den durch mein damaliges Ich geschmiedeten Fesseln befreien können. Daher beschloss ich, von nun an jeden Tag mein Spiegelbild in einer Pfütze oder einem See zu betrachten, ohne davor zurückzuschrecken. Das Wesen, das ich war, benötigte viel Liebe, wollte es eines werden, das zum Wohl aller existierte. Und wer anders als ich sollte damit beginnen, ihm die zu schenken? Wollte ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen, blieb mir nur zu versuchen, endlich das mir einst von Padmasambhava offenbarte Bild liebzugewinnen.
Mit diesen Gedanken machte ich mich zurück auf den Weg zu meiner Aufenthaltsstelle im Felsen, von der ich die Yogini üblicherweise bei ihrem Tun beobachtete. Meditierte sie, versuchte ich wie bisher, mich mit ihrem Geist zu verbinden. Widmete sie sich aber den Aufgaben des täglichen Lebens wie zum Beispiel Wasserholen oder Beerensammeln, sandte ich ihr meine Liebe und bat Tiere wie Pflanzen, Steine und Erde, Wasser wie Luft, ihr bei ihrem Streben nach Erwachen behilflich zu sein, indem sie die betagte Frau mit Liebe und Ehrfurcht behandelten.
Viele der Nonnen und auch manche der Yoginis blieben nur einige Monate oder Jahre zur Klausur auf dem heiligen Berg. Danach widmeten sie sich anderen Aufgaben, meist in ihren Klöstern. Die weißhaarige Yogini aber, die mir die Augen darüber geöffnet hatte, wie ich von den Menschen wahrgenommen wurde, harrte bis zu ihrem Lebensende hier aus. Als sie immer schwächer wurde, unterstützte ich sie in ihren täglichen Verrichtungen, so gut es ging. Doch körperlos, wie ich war, vermochte ich ihr bei den meisten Tätigkeiten, bei denen sie Hilfe gebraucht hätte, leider nicht wirklich zur Hand zu gehen. Ich war ja nicht einmal fähig, Wasser für sie zu holen! Das einzige in meiner Macht Liegende bestand darin, die Quelle zu verlegen, sodass sie näher zur Höhle lag. Zwar bat ich die auf dem Berg lebenden Tiere, der Greisin Beeren wie Kräuter vor die Tür zu legen. Doch konnte ich der Siechenden das Feuermachen und Kochen des täglichen Breis ebenso wenig abnehmen wie ich die Schmerzen zu lindern vermochte, die das Alter bei den Menschen mit sich bringt.
Es kam der Tag, da die Yogini ihre Schlaf- und Meditationskiste nicht mehr verließ. Als mir klar wurde, was das bedeutete, wusste ich nicht so recht, was ich nun tun sollte. Immerhin konnte ich nicht ahnen, ob sie überhaupt je bemerkt hatte, dass ich mich seit unserer Begegnung darum bemüht hatte, ihr meine Liebe zu schenken. Doch dann dachte ich an ihr dankbares Lächeln, als ich damals bei unserem nächtlichen Treffen versucht hatte, sie ein wenig aufzuwärmen. Von dieser Erinnerung ermutigt beschloss ich, die sterbende Frau in ihrer Höhle zu besuchen.
Um sie nicht unnötig zu erschrecken, betrat ich ihre Wohnstätte wie ein Mensch durch den Eingang und näherte mich ihr langsam und vorsichtig. Sobald sie meiner gewahr wurde, ging ein Leuchten über ihr eingefallenes Gesicht. Ihre Augen strahlten, und der mittlerweile fast zahnlose Mund lächelte schwach, aber froh. Davon bestärkt setzte ich mich zu ihr. Wie gern hätte ich ihre Hand gehalten und ihr über das Haar gestrichen! Da mir dies aufgrund der Tatsache, dass es sich bei meinem Körper bloß um eine Illusion handelte, leider nicht möglich war, beschränkte ich mich darauf, ihr tief in die Augen zu sehen. Obwohl ich wusste, dass der zornvolle Ausdruck in meinem Blick sich unabhängig von meinen tatsächlichen Empfindungen niemals abmilderte, hoffte ich, ihrem Geist die Botschaft meiner Liebe einzig durch äußerste Konzentration auf die von mir gehegte Absicht erfahrbar machen zu können.
Mit einem Ausdruck tiefer Meditation starrte die Siechende zurück. Nach einer Weile vernahm ich auf einmal kaum hörbar ihre Stimme, obwohl sie ihre Lippen nicht zu bewegen schien. Sich statt wie bisher im höflich-offiziellen nun zärtlich im vertrauten Sprachstil an mich wendend flüsterte sie:
»Ich höre dich, Tschatų-laq. Schon immer habe ich gewusst, dass du diese fürchterliche Gestalt lediglich aus Liebe zu uns Menschen angenommen hast. Damit wir leichter verstehen, welch schreckliche Auswirkungen der Zorn hat. Auf dass wir uns nur dein Bild vor Augen zu führen brauchen, wenn uns die Wut zu erfassen droht, um unsere verblendete Aufgebrachtheit mithilfe deines erwachten Zorns in Mitgefühl zu verwandeln. Um uns in die Lage zu versetzen, unser Herz so weit und durchlässig zu machen, dass es selbst für die Personifikation von Hass noch positive Gefühle der Akzeptanz entwickelt.
Ich danke dir für die Gnade, die du mir durch die mannigfachen Beweise deiner Liebe erwiesen hast. Und auch dafür, dass ich nicht allein zu sterben brauche, sondern diese Welt mit Mitgefühl und Zufriedenheit im Herzen verlassen darf. Tschatų-laq, bitte geleite mich sicher in eine neue Existenz, damit die jetzige, der Zwischenzustand und das neue Leben zum Wohl aller empfindungsfähigen Wesen gereichen.«
Mit diesen Worten hatte die Yogini Abschied von ihrem bisherigen Dasein genommen – jedoch nicht von mir. Schließlich war es ihr Wunsch, dass ich bei ihr bleiben und ihr auf ihrem zukünftigen Weg beistehen möge. Obwohl ich wusste, dass der Dämon, der ich in Wirklichkeit war, nicht würde mit ihr gehen können, wünschte ich ihr trotzdem, dass das, was sie beim Gedanken an den Bluttrinker eigentlich gemeint hatte, sie geleiten würde, wohin auch immer ihr Weg sie führte. Gleichzeitig war mir bewusst, dass dieser Wunsch eigentlich unnötig war. Denn nur, weil die Greisin sich bereits entsprechend weit für das Göttliche in sich geöffnet hatte, war sie in der Lage gewesen, es auch in mir zu erblicken. Darum hatte sie von erwachtem Zorn gesprochen.
Trotz ihrer wohlwollenden Worte war mir nur allzu bewusst, dass ich nicht erwacht und mein Zorn von wahrhaft dämonischer Natur war. Sie aber hatte mit ihrer großen Liebe die durch meine Taten wie Einstellungen geschaffene Erscheinung zu transzendieren vermocht und hinter dem Schleier meines abstoßenden Scheinkörpers verborgen das auch in meinem Herzen wohnende Göttliche gefunden. In ihrem Dasein als Yogini hatte sie Padmasambhava alle Ehre gemacht.
Da ich im Gegensatz zu der Verstorbenen tief in den ewigen Kreislauf leidvoller Wiedergeburten verstrickt war, sah ich mich außerstande zu beurteilen, ob sie Befreiung davon erlangt hatte. Obwohl es mir so schien, versuchte ich aus Liebe und Dankbarkeit trotzdem, ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Dieser Absicht entsprechend warf ich mich vor ihr auf dem Boden nieder und betete so lange dafür, dass sie ihr Ziel erreiche, eine dem Wohl aller fühlenden Wesen dienende Existenz anzunehmen, bis die Nonnen kamen, die in der letzten Zeit alle paar Wochen nach ihr gesehen hatten, und für den Abtransport der Leiche sorgten.