Sobald das unter Platschus Leitung stehende Feldkrankenhaus erobert war, wurden sämtliche Verwundeten ungeachtet ihres Gesundheitszustands getötet. Gefangene zu machen, war in diesem Krieg bereits seit Generationen keine Gepflogenheit mehr. Dies lag weniger daran, dass man es als Verschwendung ansah, Personen mit Nahrung zu versorgen, von denen kein baldiger Nutzen zu erwarten war, als daran, dass Tugenden wie Gnade oder Mitleid bereits vor langer Zeit in Vergessenheit geraten waren. Daher galt es bei sämtlichen Kriegsparteien als völlig normal, Personen, denen das Etikett »Feind« anhaftete, ungeachtet der Situation bzw. ihres Geschlechts, Alters oder Gesundheitszustands unverzüglich das Leben zu nehmen. Ein solches Vorgehen wurde als Kampfhandlung angesehen, nicht als Kriegsverbrechen.
Im Anschluss an die Ermordung der Feinde wurde alles irgendwie Nützliche transportfertig gemacht. Dazu gehörte wie gewohnt auch das medizinische Personal, das sich von nun an mit allergrößter Selbstverständlichkeit der Verwundetenversorgung bei der bisher gegnerischen Partei widmen würde. Doch als Platschu nach dem Zusammenpacken seiner wertvollen chirurgischen Gerätschaften das OP-Zelt verlassen wollte, um sich seinen Kollegen anzuschließen, wurde er von einem Offizier aus den Reihen der bisherigen Feinde daran gehindert.
Auf seinen daraufhin erfolgenden Protest teilte ihm sein neuer Vorgesetzter mit, er glaube ihm nicht, dass er Arzt sei. Echte Mediziner hätten weder einen derartig durchtrainierten Körper noch ein solches Auftreten wie er und schon gar keine Nahkampfnarben im Gesicht. Daher sei es offensichtlich, dass es sich bei ihm um einen feindlichen Kombattanten handele, der in der Uniform eines Sanitätsoffiziers zu entwischen hoffe.
Aufgrund dieser Beschuldigung begann man eine Befragung, die wegen der vermeintlichen Sturheit des Gefangenen schnell zu dessen Folterung führte – zumal die eigentlich der Kriegerkaste vorbehaltenen Tätowierungen schnell entdeckt waren. Dabei hätte eine Gegenüberstellung mit Platschus Mitarbeitern schnell zur Aufdeckung der Wahrheit führen können. Doch hatte man den größten Teil des Personals mittlerweile weggeschafft, ohne Erkundigungen über den angeblichen Betrüger eingezogen zu haben.
Als Platschu nun trotz seiner heftigen Gegenwehr mit einer heißen Messerklinge gezielt an den Stellen Brandwunden zugefügt wurden, an denen sich die für ihn ein ungemein wichtiges Identifikationsmerkmal darstellenden Tätowierungen befanden, gab er seine Versuche auf, beweisen zu wollen, dass er der Leiter des hiesigen Lazaretts war. Stattdessen bemühte er sich vor Schmerzen stöhnend, trotz seiner Betroffenheit die Zähne zusammenzubeißen, um dem Offizier und dessen ihn misshandelnden Untergebenen wenigstens nicht den Triumph zu gönnen, ihn bezwungen zu haben.
Niemals würde man ihm glauben, dass das vierfach mit Goldfarbe in seine dunkle Haut geritzte, ein Rad mit acht Speichen vor einer über Bergen aufgehenden Sonne zeigende Zeichen, dessen wahre Bedeutung als Dharmachakra er selbst nicht kannte, kein Erkennungsmerkmal einer wie auch immer gearteten Spezialeinheit der Streitkräfte des Landes darstellte, auf dessen Seite er bis soeben Dienst getan hatte. In Wahrheit war ihm dieses Symbol als Vierzehnjährigem im Traum erschienen. Zwar hatte er damals beim Aufwachen gemeint zu wissen, dass es untrennbar mit seiner inneren Kraftquelle in Zusammenhang stehe, doch hatte er zu dem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass diese Quelle im Erwachen seiner Vorexistenzen bestand, die sich zu zornvollen Buddhas gemacht hatten.
Während seiner ersten Jahre als männliches Wesen hatte Platschu sich in so manche Schlägerei verwickeln lassen, um den mehr oder weniger gleichaltrigen mit ihm Heranwachsenden seine von ihnen infrage gestellte Männlichkeit zu beweisen. In der romantischen Vorstellung, als Arzt mache er sich zu einer Art heilendem Krieger, wenn er das innere Bild des Rads vor der Sonne auch äußerlich sichtbar mache, hatte er sich dieses in Oberarme, Thymusbereich wie unteren Rücken stechen lassen, obwohl er genau gewusst hatte, dass er damit einen Tabubruch beging.
Allerdings hatte es sich bei diesem nicht um den ersten gehandelt: Um in Zweikämpfen nicht wie zuvor als Mädchen stets unterlegen zu sein, aber auch aus Furcht, ihn könne dasselbe Schicksal ereilen wie seinen zwei Jahre jüngeren Bruder, der als Zehnjähriger entführt worden und nie mehr zurückgekehrt war, hatte er sich, kurz nachdem er dreizehn geworden war, im Schutz der Dunkelheit von fast geheilten Patienten in Nahkampftechniken ausbilden lassen. Im Gegenzug hatte er seinen Lehrern trotz der allgemein schlechten Versorgungslage, die ihn, je mehr er wuchs, umso häufiger hungern ließ und dadurch selbstverständlich auch seine Kampffähigkeit schwächte, einen Teil seiner Lebensmittelrationen überlassen.
Für diese unvorsichtigen Eigenmächtigkeiten seiner frühen Jugend zahlte Platschu jetzt einen hohen Preis: Nachdem die Behandlung mit der heißen Klinge zu keinerlei Geständnissen geführt hatte, wurde ihm mit einem Gürtel der Rücken blutig geschlagen. Trotz seiner tapferen Grundeinstellung schrie er da doch irgendwann vor Pein. Dessen ungeachtet brachten weder Schmerz noch Angst ihn dazu, die Behauptung seines Foltermeisters zu bestätigen, ein ranghoher gegnerischer Offizier zu sein. Und die geforderten militärischen Informationen zu liefern, sah er sich ohnehin außerstande.
Infolge dieser als Verweigerung interpretierten Haltung drohte sein Vernehmer ihm schließlich, ihn mit einem aus dem harten Halm eines Grases gefertigten Schlagstock zu vergewaltigen, den er ihm demonstrativ vors Gesicht hielt. Daraufhin brach Platschu sein Schweigen und flehte den Offizier höchst verzweifelt an, dies nicht zu tun.
Aufgrund des scheinbaren Einlenkens wurde der Arzt ein letztes Mal zu einem Geständnis aufgefordert. Doch ließ Platschu sich trotz seiner entsetzlichen Furcht nicht zu der von ihm erwarteten Aussage zwingen: Hätte er die Unwahrheit gesagt, hätte er sich für den Rest seines Lebens vor sich selbst geschämt.
Da ihm sein Verhalten als Widerstand ausgelegt wurde, löste man den Lazarettleiter schließlich von der Zeltstange, an die er während seiner Auspeitschung angebunden gewesen war. Anschließend wurde er gegen seinen heftigen Widerstand von zwei Soldaten zu Boden gedrückt. Während einer der beiden sich auf seinen Hals und der andere sich auf seinen Rücken kniete, machte der Offizier seine Drohung wahr.
Einem Mann auf diese Weise die Ehre zu nehmen, galt nicht nur bei den Militärs, sondern in der gesamten Gesellschaft, in der Platschu lebte, als größtmögliche Schande und wurde daher bei Vernehmungen gerne als Druckmittel eingesetzt. Da jedoch selbst der Vollzug der Vergewaltigung trotz des davon ausgelösten erstickten Aufbrüllens des Opfers nicht zu dem erhofften Geständnis führte, nahm der Vernehmer letzten Endes ein Messer und zog es mit leichtem Druck vom Hals des am gesamten Leib zitternden Lazarettleiters entlang der Wirbelsäule bis zu einer Stelle zwischen den Schulterblättern, an der er die Klinge oberflächlich einstach.
Der Gedanke, dass sein Leben derartig sinnlos enden sollte, ließ Platschu an seiner Ohnmacht verzweifeln. Aufgrund seiner Jugend gab es viel zu viel Ungetanes und Unerfahrenes, um bereits jetzt zu sterben! Trotzdem bestand das Einzige, das ihm jetzt noch zu tun blieb, um sich seine Selbstachtung zu bewahren, darin, der Wahrheit treu zu bleiben. Daher nahm er seinen Tod trotz des damit verbundenen Bedauerns und seiner großen Furcht vor dem, was ihm nun bevorstand, als Folge des von ihm in aller Klarheit aus eigenem Willen gefassten Entschlusses an, trotz seiner äußeren Hilflosigkeit innerlich ungebrochen und insofern unbesiegt zu bleiben.
Bevor der Offizier seinem Gefangenen den Todesstoß versetzte, gab er ihm von diesem völlig unerwartet eine allerletzte Chance einzulenken. Doch erlitt der angebliche Feind da plötzlich eine Art Krampfanfall, bei dem er einen derartig heißen Schmerz in der rechten Leiste verspürte, als schmelze dort etwas. Gleichzeitig zog sein Herz sich so schmerzhaft zusammen, als reiße etwas darin. Infolge dieser Empfindungen entrang sich Platschu ein entsetzlich gequälter Schrei, dem es anzuhören war, dass der ihn Ausrufende sich in höchster Todesnot befand.
Mit dem Verklingen dieses Lauts schien alles vorüber zu sein: Der Gefolterte blieb stocksteif liegen, ohne weiter ein Lebenszeichen von sich zu geben. Der bei dem Verhör zwangsweise anwesende Arzt stellte daraufhin lakonisch fest:
»Er ist tot.«
Aufgrund dieses Urteils wurde Platschu auf einen von den Leichen der ermordeten Verwundeten gebildeten Haufen geworfen, um später mit ihnen in einer gegenwärtig zu diesem Zweck ausgehobenen Grube verscharrt zu werden.
Bei seinen toten Patienten blieb der Lazarettleiter stundenlang vollkommen reglos liegen, obwohl er entgegen der Aussage seines Kollegen noch nicht verstorben war. Bei diesem Verhalten handelte es sich jedoch nicht um einen in der Erkenntnis begründeten klugen Schachzug, dass dies vorerst das einzige ihm zu tun Mögliche darstellte, wollte er überleben. Vielmehr war es wie der vorangegangene Anfall physischer Ausdruck des emotionalen Schocks über das ihm Widerfahrene.
Es hatte Platschu dermaßen tief getroffen, trotz seiner Unantastbarkeit aufgrund einer völlig aus der Luft gegriffenen Anklage gefoltert und vergewaltigt worden zu sein, dass er nach den unkontrollierten Bewegungen des davon ausgelösten Anfalls in eine ihn gänzlich beherrschende körperliche wie geistige Starre gefallen war, die ihn für Außenstehende wie tot wirken und ihn sogar selbst glauben ließ, er sei wie von seinem Kollegen behauptet gestorben. Diese Vorstellung wurde davon gestützt, dass sein Bewusstsein seit dem Ende des Anfalls über keinerlei Kontakt mehr zu seinem Körper verfügte, sondern diesen von außerhalb wahrnahm, als würde es schräg über ihm schweben.
Daher kam dem Lazarettleiter auch nicht der Gedanke, dass er trotz allen Leids unglaubliches Glück gehabt hatte: Der auf der gegnerischen Seite arbeitende Arzt hatte sein Berufsethos über die Wünsche einer der Kriegsparteien gestellt und Solidarität mit dem zu Unrecht geschundenen Mitglied der Mediziner-Klans geübt, das er zwar nicht persönlich kannte, von dem er aufgrund der auffallenden Narbe im Gesicht jedoch schon einmal gehört hatte. Dementsprechend hatte er trotz seines Wissens darum, dass der Gefolterte noch lebte, die einzige Hilfe geleistet, zu der er in einem Fall wie diesem imstande war: Zum einen hatte er Platschu für tot erklärt. Zum anderen hatte er vorgeschlagen, über die wahre Identität des ermordeten Lazarettleiters Stillschweigen zu bewahren, sofern dieser in seiner Uniform begraben würde. Damit hatte er sichergestellt, dass sein Kollege, sollte sich die Chance zu einer Flucht ergeben, diese nicht vollkommen nackt würde antreten müssen und überdies seine Wunden nicht allzu sehr verschmutzt würden.
Glücklicherweise war die Grube erst mit Einsetzen der schnell hereinbrechenden Dämmerung fertiggestellt. Mit Schwinden des Lichts aber kehrte das Bewusstsein des Gequälten unerwartet in seinen Körper zurück. Die dadurch beförderte plötzliche Erkenntnis, dass er gar nicht tot war, jedoch in Kürze lebendig begraben werden würde, blieb er weiter liegen, versetzte ihn in eine solche Panik, dass es wie ein heftiger Ruck durch seinen gesamten Organismus ging. Dadurch gewann er zu seiner großen Erleichterung die Kontrolle über seinen nun auch wieder als schmerzend empfundenen Körper zurück.
Obwohl er sich unendlich matt fühlte, nutzte Platschu die ihm nun von der Dunkelheit gebotene Gelegenheit, sich so unauffällig wie möglich in die hinter dem Lazarett gelegenen kahlen Berge zu flüchten. Zwar war ihm bewusst, wie unwahrscheinlich es war, dass er dort das für ihn überlebensnotwendige Wasser finden würde, doch empfand er, einsam zu verdursten, statt in einer Leichengrube ersticken zu müssen, als die deutlich bessere Wahl. Immerhin würde er – so wie er das bereits bei seiner Folter gewünscht hatte – halbwegs selbstbestimmt sterben.
Trotz der sein Gehen behindernden Schmerzen im Unterleib sowie des von seiner Schwäche hervorgerufenen Schwindelgefühls schleppte der Geschundene sich mühsam über immer steiniger werdendes Terrain bergauf, bis er einen Felsspalt erreichte. Durch diesen zwängte er sich in der Hoffnung, dass man ihn dahinter nicht so schnell finden würde. Zu seiner Überraschung gelangte er dadurch in eine Höhle, deren immense Ausdehnung ihm nicht nur durch den Klang seines Atems sowie den unmittelbaren Temperaturunterschied verraten wurde, sondern auch durch das von dieser Umgebung hervorgerufene Bauchgefühl.
Um sich so weit wie möglich von seinen Feinden zu entfernen, begab er sich trotz der hier herrschenden Finsternis so tief in den Berg hinein, dass er schließlich nur noch kriechend vorwärtskam. Als er nicht mehr weiterkonnte, legte er sich ergeben in den mit Geröll durchsetzten Staub. Bei dem Gedanken, dass dies ein guter Platz sei, sein Leben in Frieden zu beenden, verlor er vor Schmerzen, Dehydrierung wie Erschöpfung das Bewusstsein.
Zunächst hielt er die Schwärze des Sterbens für einen ungewöhnlichen Traum. Erst als er wahrnahm, wie sich von seiner innersten Mitte her ein weißlich helles Licht in ihm ausbreitete, begriff er, dass etwas vollkommen anderes mit ihm vor sich ging. Daraufhin war dieses Leuchten plötzlich nicht mehr in ihm, sondern kam von außen auf ihn zu – und zwar in Gestalt einer Tageshelle ausstrahlenden Person, über deren Haupt eine goldglänzenden Regenbogenduft verströmende Blüte aus nachtblauem Licht schwebte, aus der mit durchdringendem Blick drei kleine schwärzlich leuchtende Pferdeköpfchen schauten. Ergriffen fragte er die Lichtgestalt, von der er vor lauter weißem Strahlen und buntem Funkeln nicht zu erkennen vermochte, ob es sich bei ihr um ein weibliches oder männliches Wesen handelte:
»Wer bist du?«
Mit einer Stimme, die sich ebenso schwer wie das Aussehen der Erscheinung einem bestimmten Geschlecht zuordnen ließ, ertönte die Antwort:
»Ich bin ein von dir vergessener, mit der letzten deiner Vorexistenzen eng verbundener Teil deines Bewusstseins. Bitte, Platschu, gib dein Leben trotz deiner entsetzlichen Erfahrungen und den daraus resultierenden Schmerzen an Leib und Seele jetzt nicht auf. Es existiert ein Weg aus dem Leiden. Du kennst ihn bereits, doch ist dir dies nicht bewusst. Durch deine Träume vermag ich ihn dir zu enthüllen, so wie ich dir nun den Spalt zeigen werde, durch den du gehen musst, um dein Leben zu retten. Folgst du mir jetzt, werde ich für den Rest deines Daseins bei dir sein und dich auf deinem Weg unterstützen. Kommst du?«
Angesichts der von dem strahlenden Wesen ausgehenden heilenden Zuversicht und Liebe, insbesondere aber der glaubwürdig klingenden Verheißung, das eigene Leiden wie das anderer beenden zu können, erklärte Platschu trotz der von seiner verzweifelten Scham wie seinen körperlichen Schmerzen verursachten Qualen seine Bereitschaft dazu, diesem seltsamen Helfer zu folgen. Dies tat er, obwohl er nicht ganz begriffen hatte, wie dieses Wesen, das er zunächst für eine Art Engel gehalten hatte, gleichzeitig seine Vorexistenz wie ein Teil seiner selbst sein konnte. Zwar hatte das Lichtwesen dies so nicht behauptet, doch aufgrund der ungewöhnlichen Situation sowie des Umstands, dass ihm das Konzept der Wiedergeburt fremd war, hatte der Sterbende die diesbezügliche Aussage seines Helfers missverstanden.
Kaum hatte Platschu seinen Beschluss gefasst, nahm die Intensität des von der strahlenden Gestalt ausgehenden Lichts ab. Stattdessen leuchtete nun die Felsspalte auf, vor welcher der Flüchtling sich zum Sterben niedergelegt hatte. Sobald er sich zu dem Entschluss durchgerungen hatte, hinter dieser nach einem Weg zu suchen, wurde es vollkommen dunkel, und Platschus Bewusstsein kehrte in seinen geschundenen Körper zurück, um sich schlafend zu erholen, bevor seine Reise in ein neues Leben begann.