Herzensschulung

Die mir von der sterbenden Yogini erteilte Lektion empfand ich als süß und bitter zugleich. Mit Dankbarkeit hatte ich von ihr gelernt, dass der von mir auf dem heiligen Berg ausgeübte Dienst noch einen tieferen Sinn hatte, als bloß Schutzgeist zu sein. Ging ich bei meinen Übungen richtig vor, vermochte ich möglicherweise tatsächlich das mir von Padmasambhava in meiner Vision beschriebene erwachte Wesen zu werden – oder anders ausgedrückt das, was die Nonnen und Yoginis meinten, wenn sie das Wort »Tschatų« benutzten. Doch während die Sinnhaftigkeit meiner Existenz mich einerseits tröstete, beraubte sie mich andererseits der Hoffnung, in absehbarer Zukunft wieder eine menschliche Existenz annehmen zu dürfen. Hatte ich mich als Mensch wie ein Dämon aufgeführt, sehnte ich mich als Dämon mitt­lerweile danach, ein Mensch zu sein. Nur so, dachte ich, sei es möglich, wahre Humanität zu leben. Und das wollte ich.

Zugegebenermaßen war dabei auch ein wenig Egoismus im Spiel. Obwohl ich mit meinen dämonischen Kräften über Fähigkeiten verfügte, die Menschen normalerweise nicht ihr Eigen nennen, schien es mir verlockender und auch nutzbringender, ein Körperwesen zu sein. Um meine Dämonenkräfte vollumfänglich nutzen zu können, fehlte mir trotz der vielen durch mein Üben mit den Ordinierten gewonnenen Erkenntnisse nach wie vor ein entsprechend fundiertes Verständnis der Beschaffenheit der Welt. Doch war mir das selbstverständlich nicht bewusst. Daher glaubte ich, dass ausschließlich ein materiell manifestierter Körper mir dabei hätte helfen können, die Yogini in vielen ihrer täglichen Verrichtungen zu unterstützen. Darüber hinaus dachte ich, ein solcher Organismus würde es mir ermöglichen, Zärtlichkeit und fühlbaren Trost zu geben – aber eben auch zu empfangen.

Das mir durch die letzten Worte der Yogini geschenkte Mitgefühl hatte mein Herz zutiefst berührt. Darüber hinaus hatte es mich erkennen lassen, dass es den Menschen grundsätzlich möglich war, die ihnen von mir entgegengebrachte Liebe zu spüren und zu erwidern. Das machte mich ungemein glücklich – doch auch ein wenig gierig. Hatte es mir, als ich keine Hoffnung auf Gegenliebe gehabt hatte, mehr oder weniger genügt, Liebe zu schenken, verzehrte ich mich jetzt förmlich danach, geliebt zu werden. Wer jedoch sollte das tun? Die Greisin war tot und eine neue Höhlenbewohnerin noch nicht gekommen. Folglich gab es niemanden, der mir seine Liebe hätte schenken können.

Kaum hatte ich dies gedacht, als der helllichte Tag sich verfinsterte und die gesamte Natur um mich herum in Aufruhr geriet: Die Tiere schrien in allen Tonlagen, die Pflanzen schlugen nur so um sich, die Steine polterten und Wasser wie Lüfte rauschten und zischten. Da erst begriff ich, wie sehr meine gesamte natürliche Umgebung mich liebte – und für wie selbstverständlich ich das gehalten hatte, ohne zu begreifen, dass es sich bei dem jahrein jahraus von mir Erlebten um Liebe handelte.

Mit meiner dummen Gier nach Mehr hatte ich jeden um mich herum zutiefst gekränkt. Das tat mir leid. Der unglaublichen von mir an den Tag gelegten Unachtsamkeit schämte ich mich sehr. Hatte ich bereits vergessen, dass der Berg sich wie Vater und Mutter zugleich zu mir verhielt? Dass die gesamte Natur mir bisher jeden einzelnen meiner Ausbrüche verziehen hatte? Dass sämtliche Geschöpfe im meiner Umgebung mein ungehobeltes Wesen nicht nur duldeten, sondern mir sogar halfen, wo immer sie konnten? Oder hatten sie mir bislang etwa nicht jeden meiner Wünsche erfüllt?

Als ich nun darüber nachdachte, musste ich mir eingestehen, dass ich persönlich der Yogini eigentlich in nichts hatte helfen können. Meinerseits hatte es stets bloß Ideen und Bitten gegeben. Die Ausführung dagegen hatten ausnahmslos meine Brüder und Schwestern aus der Natur übernommen. Und nun saß ich da und jammerte darüber, wie ungeliebt ich sei!

Erst in dem Augenblick, in dem meine gesamte Umwelt sich gegen mich auflehnte, wurde mir bewusst, dass ich bis dahin nicht ein einziges Mal danach gefragt hatte, was ich mög­li­cher­weise für sie tun könnte. Hatte ich die Not anderer Wesen bemerkt, war ich zwar auch früher schon behilflich gewesen, doch nur, soweit ich dazu in der Lage gewesen war. Aufgrund meiner Körperlosigkeit war meine Hilfe in diesen Fällen allerdings nicht nur genauso beschränkt gewesen wie bei der betagten Frau, ich hatte mich überdies niemals ohne äußeren Anlass darum gekümmert, wie ich meiner natürlichen Umwelt von Nutzen sein könnte.

Ja, ich hatte gelernt, der Yogini meine Liebe zu übermitteln. Doch hatte ich das niemals mit dem Quellwasser, den Sträuchern oder anderen nichtmenschlichen Wesen versucht. Nur bei dem Berg, mit dem ich auf wunderbare Weise verbunden war, hatte ich mich wenigstens ab und an entschuldigt oder bedankt. Allerdings kam mir das, was ich bisher als Symbiose empfunden hatte, jetzt mehr wie Parasitismus meinerseits vor. Welchen Vorteil hatte der Hima­laya­riese davon, dass ich in und auf ihm lebte?

Bei dieser Einsicht warf ich mich reumütig auf die Erde nieder und tat so lange Abbitte, bis die Natur wieder vollkommen zur Ruhe gekommen war. Von nun an musste ich mein Leben ändern. Auf Menschen beschränkte Liebe ist nichts Echtes. Wahre Liebe ist grenzenlos und erstreckt sich folglich auf jedes Wesen. Es war höchste Zeit, dass ich mein Herz endlich für meine Umwelt weitete und versuchte, allem Seienden die Liebe zu schenken, die das noch immer sehr tief in mir verborgene Göttliche ausstrahlen wollte.

Während ich mich von nun an um die Schulung meines Herzens bemühte, kamen und gingen die Eremitinnen. Manchmal lebten viele von ihnen gleichzeitig in verschiedenen auf dem Berg verteilten Höhlen, zu anderen Zeiten waren es nur wenige oder sogar bloß eine. Wie mir von Padma­sam­bha­va aufgetragen bemühte ich mich bei einer jeden von ihnen, mit ihrem Geist zu verschmelzen und auf diese Weise an ihren Übungen teilzunehmen.

Mit der Zeit lernte ich dadurch immer besser, wie das komplizierte, den Menschen ausmachende Konglomerat aus psychischen wie physischen Bestandteilen funktioniert – und auch, wie die von den Nonnen und Yoginis durchgeführten Übungen darauf Einfluss nehmen. Durch meine Bemühungen, den inneren Menschen der mir jeweils Anvertrauten zu spiegeln, wuchs zudem mein Verständnis für die vielfältigen Hindernisse, die sich den nach Befreiung aus dem Kreislauf leidvoller Wiedergeburten Strebenden in den Weg stellen. Gleichzeitig gewann ich dadurch aber auch einen großen Erfahrungsschatz darin, wie selbst unüberwindlich scheinende Hürden für ein Vorwärtskommen auf dem Pfad genutzt werden können.

Ging ich tagsüber nahezu ununterbrochen in meinen Schutzbefohlenen auf, gehörten die Nächte größtenteils mir. Zwar beteiligte ich mich auch da an den von manchen Yoginis und Nonnen durchgeführten Übungen. Doch währten die vergleichsweise kurz. Während der viel längeren Zeit, in der die Eremitinnen schliefen, bot sich mir die Gelegenheit, vollkommen bei mir und der mich umgebenden Natur zu sein.

In der überwiegenden Zahl der Nächte machte ich mir diesen Umstand zunutze und durchstreifte das mir anvertraute Gebiet. Während der dabei durchgeführten Meditationen trat ich überdies mit meinen Schwestern und Brüdern aus der Natur in Kontakt. Gegen Morgengrauen kehrte ich dann meist in die Nähe der Behausungen der nach Erwachen Strebenden zurück, die ihre Tagesaktivitäten zum größten Teil bereits vor dem ersten Sonnenstrahl aufnahmen. Auf diese Weise vergingen unzählige Tage und Nächte, während derer ich versuchte, Padmasambhavas Rat zu befolgen und mich statt der Vergangenheit mehr meiner Gegenwart wie Zukunft zu widmen.