Eines sehr frühen Morgens, als ich wieder einmal meditierend und wachend in der Berglandschaft unterwegs war, spürte ich auf einmal, dass ein mir unbekanntes Wesen den heiligen Bezirk betreten hatte. Bei diesem handelte es sich weder um eine Nonne oder Yogini noch um einen Jäger oder Verirrten. Aber auch sonst schien an diesem Vorgang nichts zu sein wie üblich: Kurz vor Morgengrauen war bisher noch nie jemand hier oben eingetroffen. Seltsamerweise war ich diesmal nicht in der Lage zu fühlen, ob es sich bei dem Besucher um jemanden handelte, dem Zutritt zu gewähren war oder nicht. Der Berg schien mir so etwas wie Ehrfurcht zu empfinden.
Trotz meiner von dieser ungewöhnlichen Reaktion ausgelösten Verwirrung begab ich mich, wie es mir meine Wächterpflicht gebot, so schnell wie möglich zu der Stelle, an der ich das fremde Wesen spürte. Sobald ich erkannt hatte, dass es sich um einen Mann handelte, schrie ich ihn mit meiner Gedankenstimme an:
»Wer bist du? Und was willst du hier?«
Mehr zu sagen, gelang mir nicht, da der Fremde – ein um die vierzig Jahre alter, mit einer Mönchsrobe angetaner Tibeter – mich unerschrocken unterbrach:
»Kommst du deiner Aufgabe etwa immer derart halbherzig nach? Wen willst du mit einem Auftritt wie diesem schrecken?«
Die Stimme des Mönchs hatte trotz des etwas spöttisch-anklagenden Tons sanft und liebevoll geklungen. Ich war fassungslos – nicht nur über die Furchtlosigkeit des Fremden, sondern vor allem darüber, dass er meine Gedanken zu hören vermochte. Überdies empfand ich tiefe Scham. Denn der Mönch hatte mit seinem Vorwurf Recht: Im Gegensatz zu meinem üblichen Verhalten hatte ich es ihm gegenüber tatsächlich nicht übers Herz gebracht, als dämonisch-zornvoller Bluttrinker aufzutreten. Als ich mich nach dem Grund für mein sonderbares Betragen fragte, wurde mir bewusst, dass ich den Unbekannten am liebsten fürsorglich umarmt hätte.
Über diesen Gedanken zutiefst erschrocken, schaute ich meinen Besucher anstelle einer Antwort bloß verlegen an. Genau in diesem Augenblick erhellte der erste Schein der Morgendämmerung sein Antlitz: Es war rundlich, mit einem ausgeprägten Kinn und großen, etwas abstehenden Ohren. Mit dem Licht meinte ich plötzlich, das sich auf diesem Gesicht ausbreitende verschmitzte Lächeln zu erkennen. Gerührt fiel ich vor dem Mönch zu Boden und bat:
»Vergebt mir, mein Lehrer. Ich habe Euch nicht sogleich wiedererkannt. In der aktuellen Wiedergeburt scheint Ihr dem indischen Yogi von damals in nichts zu ähneln. Das gesagt geht von Euch noch immer dieses wunderbare Strahlen aus. Wie könnte ich Euch da verjagen wollen?«
»Schon gut, Berggeist. Allerdings muss ich dich auf einen Irrtum aufmerksam machen: Anders als du glaubst, bin ich nicht die Wiedergeburt unseres allseits verehrten Padmasambhava. Er ist mit seinem Tod ins Parinirwana eingegangen. Doch ehrt es mich, dass du mich spontan für seine Wiedergeburt gehalten hast. Möglicherweise liegt dies daran, dass ich mich Guru Rinpotche aufs Engste verbunden fühle. Auf gewisse Weise ist er auch mein Lehrer und sendet mir in dieser Funktion des Öfteren Visionen. Vor Kurzem hat er mir dabei seine Begegnung mit dir gezeigt und mich gebeten, der Übertragung seines Teils eures Lehrer-Schüler-Verhältnisses auf mich zuzustimmen. Meine Anwesenheit hier ist wohl Hinweis genug darauf, wie meine Antwort auf diese Bitte ausgefallen ist.
Wie ich sehe, hast du seit deinem Zusammentreffen mit Guru Rinpotche bereits einige Fortschritte gemacht. Bitte erheb dich, damit ich die Gelegenheit erhalte, dich einmal eingehend zu betrachten.«
Ich folgte dem Wunsch des Mannes, in dem ich fälschlicherweise die Wiedergeburt des von mir sehr verehrten und geliebten Padmasambhava erkannt zu haben geglaubt hatte. Daraufhin ließ der mir so seltsam vertraut scheinende Fremde seinen Blick prüfend über mich gleiten. Als direkte Folge davon erntete ich sogleich abermals Kritik:
»Berggeist, warum schaust du mir nicht ins Gesicht, sondern starrst über meinen Kopf hinweg?«
»Verzeiht, mein Lehrer, das habe ich nicht aus Missachtung getan. Ich bin nur dermaßen erstaunt über Eure Kopfbedeckung: Über der von Euch getragenen Mütze scheint eine weitere zu schweben.«
»Wirklich?«
Mein Lehrer schien amüsiert. Ich aber antwortete ernsthaft:
»Ja. Sie ist blauschwarz und aus einem mir unbekannten Material hergestellt. Auf jeden Fall wirken die einzelnen verarbeiteten Fäden sehr lang.«
Auf diese Beschreibung hin betrachtete mein Besucher mich aufmerksam, bevor er sagte:
»Berggeist, ich freue mich, dass du in der Lage bist, meinen Hut zu sehen. Dies bedeutet, dass ich zum richtigen Zeitpunkt bei dir erschienen bin. Nebenbei zeigt mir die Art deiner Wahrnehmung, dass du mittlerweile unbestreitbar zu einem Sohn dieses Bergs geworden bist. Immerhin ist es nur hier, an diesem Kreuzungspunkt unterschiedlicher Daseinsbereiche möglich, selbst als tief in den Kreislauf leidvoller Wiedergeburten verstricktes Wesen wie du einen Blick in rein geistige Dimensionen zu tun.«
Mein Besucher sprach in Rätseln. Von dem, was er gesagt hatte, war mir lediglich seine Andeutung verständlich, er sei meinetwegen hierhergekommen. Das jedoch vermochte ich nicht zu glauben. Auf diesen Gedanken hin entgegnete er:
»Doch, Berggeist, ich bin in der Tat deinetwegen hier. Komm, setz dich neben mich und lass dir erklären, was du wissen musst.«
Während dieser Aufforderung hatte der Mönch sich auf einem ebenso hohen wie breiten, flachen Stein niedergelassen. Ergriffen von der großen Gnade eines persönlichen Besuchs tat ich, wie mir geheißen, und lauschte anschließend zu Füßen dieses rätselhaften Mannes sitzend seinen Worten:
»Bei deinem Zusammentreffen mit Guru Rinpotche war es für einige wichtige Dinge zu früh, sie dir mitzuteilen, da du seinerzeit noch nicht in der Lage warst, sie zu verstehen. Du hattest bereits genug damit zu tun, das umzusetzen, was er dich damals gelehrt hatte. Erinnerst du dich?«
Und ob ich das tat!
»Seit jener Zeit hat es einiges an Veränderungen in der Welt gegeben. Was nun meine Person betrifft, so nennt man mich …«
»Düssum Tjenpa!«, fiel ich meinem neuen Lehrer ins Wort. Dabei hatte ich keine Ahnung, wie ich auf diesen Namen gekommen war und wieso ich die Dreistigkeit gehabt hatte, den ehrwürdigen Lama zu unterbrechen. Die Worte waren mir einfach entschlüpft – so, als spreche jemand anders durch mich. Diese äußerst seltsame Erfahrung war mir sogleich ungemein peinlich.
Der Mönch aber sah mich abermals voller Erstaunen an. Glücklicherweise war er ein äußerst gutmütiger Mann. Ohne mich für mein Fehlverhalten zu rügen, kommentierte er meinen Einwurf:
»Wenn du mich so nennen möchtest, Berggeist, soll es mir recht sein. Du scheinst mit Gaben gesegnet, von denen du selbst noch gar nichts weißt. Offenbar ist dir bisher nicht einmal bewusst, welch großer Segen es ist, ausgerechnet an diesem Ort wiedergeboren worden zu sein und darüber hinaus sogar Guru Rinpotche zum Lehrer gehabt zu haben.
Doch zurück zu meiner Person: Ich komme gerade aus dem gar nicht so weit von hier entfernten Kloster Daqlha Kampo. Mein Besuch dort diente dem Zweck, Kampopa, dem vor Kurzem verstorbenen Gründer jenes Klosters, den ich als meinen Lehrer hochgeschätzt habe, die letzte Ehre zu erweisen. Augenblicklich befinde ich mich auf der Reise nach Kampo Gangra, einer Gebirgsregion im äußersten Südosten Khams, um ein Tche Kampopa in einer Vision gegebenes Versprechen zu erfüllen. Mein Weg führt mich also ohnehin bei dir vorbei.
Guru Rinpotche den Gefallen zu tun, sich um einen seiner Dämonen-Schüler zu kümmern, stellt daher keine Last für mich dar. Ganz im Gegenteil ist es mir eine große Freude, dass du in deiner Entwicklung bereits weit genug fortgeschritten bist, dich für rein geistige Dimensionen zu öffnen. Ich sehe dein Unverständnis. Also gut, ich erkläre es dir: Bei der von dir als materiell vorhandene Mütze wahrgenommenen nachtblauen Kopfbedeckung handelt es sich um nichts physisch Existierendes, sondern lediglich um eine meine bisherige geistige Entwicklung symbolisierende, scheinmaterielle Erscheinung von Ushnisha. Sie versinnbildlicht die Weisheit der Wolke des Dharma.«
Trotz der vielen mir völlig unbegreiflichen Andeutungen, war ich tief beeindruckt. Düssum Tjenpa hatte mich soeben wissen lassen, dass er es zur höchsten Vollendung eines Bodhisattwas gebracht hatte. Von meinen Schützlingen hatte ich erfahren, dass ein Bodhisattwa jemand ist, der danach strebt, den Kreislauf leidvoller Wiedergeburten zu durchbrechen und dabei sein gesamtes Sein in den Dienst sämtlicher anderer Wesen stellt, um auch ihnen das Erlangen dieses Ziels zu ermöglichen. Ferner hatte ich gelernt, dass es auf dem langen Weg eines Bodhisattwas zur eigenen Buddhaschaft zehn verschiedene Etappen gibt, die er in seiner Entwicklung eine nach der anderen durchläuft. Dies tut er durch das Üben vieler verschiedener Varianten der sogenannten sechs Paramitas – für die Geistesschulung von Bodhisattwas als besonders geeignet geltender Übungen.
Nach seinem eigenen Bekunden hatte mein Lehrer sämtliche der zehn Stufen des Bodhisattwapfads gemeistert. Dies erkannte ich daran, dass er den Begriff »Wolke des Dharma« verwandt hatte. Darunter versteht man die letzte Etappe, auf der ein Bodhisattwa den Dharma zu einem solchen Grade verinnerlicht hat, dass es ihm zur zweiten Natur geworden ist, ihn zum Wohl aller Wesen ausübend vorzuleben und zu lehren – so wie es der Natur einer Wolke entspricht, segensreichen Regen zu spenden. Der nächste Schritt wäre das vollständige Erwachen.
Voller Verwunderung fragte ich mich, weshalb ein solch außergewöhnlicher Mann sich die Mühe machte, ausgerechnet mich zu besuchen.
»Ach Berggeist,« sprach Düssum Tjenpa daraufhin, »lass das bloß nicht dein Ego kitzeln! Ich versuche lediglich zu erfüllen, was ich als meine Aufgabe zum Wohl aller fühlenden Wesen erkannt habe. Darüber hinaus nutze ich die Gelegenheit, durch den Besuch deines heiligen Bergs und seiner Umgebung das Wirken meines geliebten Vorbilds Guru Rinpotche auch aus physischer Nähe zu spüren …
Kürzlich hatte ich eine Vision von einem Dämon, der nach dem Gespräch mit einer betagten Yogini begriffen hat, dass er von den Menschen als Tschatų betrachtet wird. Erinnerst du dich an den Rat, den Padmasambhava diesem daraufhin zutiefst verzweifelten Geistwesen gegeben hat?«
In Gedanken antwortete ich:
»Selbstverständlich, war ich doch selbst besagter Dämon! Der Guru Rinpotche in meiner Vision meinte, ich solle danach streben, meinem bei den Menschen genossenen Ruf gerecht zu werden, auch wenn ich in Wirklichkeit noch gar kein solch fortgeschrittener Damtchen sei, wie die Einheimischen das freundlicherweise von mir glaubten. Das habe ich seitdem getan. Doch verstehe ich nach wie vor nicht, was das mit Eurem Besuch hier auf dem heiligen Berg zu tun hat.«
»Nur Geduld. Ist dir bekannt, wie viel Zeit seit deinem Gespräch mit der Yogini vergangen ist?«
Diese Frage brachte mich in Verlegenheit. Doch versuchte ich nicht, dies vor meinem Besucher zu verbergen, sondern antwortete aufrichtig:
»Ich fürchte, Zeit ist etwas, das sich irgendwie meiner Wahrnehmung entzieht. Möglicherweise läuft sie bei mir auch einfach anders ab als bei den Menschen, und ich kann sie deshalb nicht entsprechend einschätzen. Zwar ist mir selbstverständlich bewusst, dass sich seit meiner Vision von Padmasambhava Generationen von Nonnen und Yoginis zur Klausur auf den von mir geschützten Berg zurückgezogen haben. Trotzdem vermag ich die verflossene Zeit nicht zu beziffern. Durch die Aussage der Yogini damals weiß ich allerdings, dass ich den Rat Guru Rinpotches genau hundert Jahre nach meinem ersten ihm gegebenen Versprechen erhalten habe.«
»So wisse, dass seit deiner Vision in jener besonderen Nacht mehr als drei Jahrhunderte vergangen sind.«
Ich war schockiert: Wenn mir bereits eine dermaßen ausgedehnte Zeit vergleichsweise kurz vorgekommen war, wie lange war Vivekananda da wohl schon tot? Angesichts der offensichtlichen Langsamkeit, mit der ich mich von meinem Aufenthalt in der Hölle in Richtung Beendigung des Kreislaufs leidvoller Wiedergeburten bewegte, wollte mich Verzweiflung packen.
Düssum Tjenpa spürte dies anscheinend sofort, tröstete er mich doch unverzüglich:
»Es gibt keine Veranlassung, den Mut zu verlieren, Berggeist. Oder hast du etwa vergessen, dass Dämonen alles im Extremen machen? Von dieser Regel bildet auch die Zeit keine Ausnahme. Ferner solltest du bedenken, dass du zu einem Teil dieses heiligen Bergs geworden bist. Berge aber leben nicht in derselben zeitlichen Dimension wie Menschen. Insofern besteht kein Grund, dich zu beunruhigen. Alles, was du benötigst, ist ein wenig Unterstützung deine Übungen betreffend. Und genau dazu bin nun ich hergekommen.«