Tamdin, der Bodhisattwa

Der von mir gefasste Beschluss, ein wahrer Dharmapala werden zu wollen und zur Verwirklichung dieser Absicht die zwei von meinem neuen Lehrer vorgeschlagenen Wege zu gehen, sollte genauso weitreichende Folgen für mein weiteres Dasein haben wie der vor langer Zeit mit Padmasam­bha­va geschlossene Pakt. Doch war dies für mich im Augenblick noch nicht erkennbar.

Sobald ich Düssum Tjenpas Vorschlägen zugestimmt hatte, begab der sich zunächst einmal für kurze Zeit in tiefe Meditation. Dieses In-Sich-Hineinschauen war derart in­ten­siv, dass die geschlossenen Augenlider des Mönchs dabei in schnellem Rhythmus zitterten. Als mein Lama die Augen anschließend wieder öffnete, richtete er sie abermals auf mich. Nie zuvor hatte mich jemals jemand mit einem derartig durchdringenden Blick angesehen, dass ich meinte, dieses Schauen tief in meinem Innersten zu spüren. Dadurch fühlte ich mich, als sei ich gläsern für Düssum Tjenpa. Da mir das etwas unangenehm war, empfand ich eine gewisse Erleichterung, als die Augen des Mönchs kurz darauf einen freudigen Ausdruck annahmen. Mit einem dazu passenden strahlenden Lächeln fragte er mich:

»Berggeist, erinnerst du dich daran, was du gefühlt hast, als du noch im Felsen gefangen die Liebe in dir gefunden hattest?«

»Mir war, als sei die gesamte Sphäre der mich bereits seit Unendlichkeiten umgebenden steinernen Finsternis plötzlich mit einem hellen, klaren Licht erfüllt. Dieser winzig kleine Schimmer schien aus mir selbst zu kommen. Kurz darauf nahm ich ein derartiges Strahlen auch von außen wahr – nur in weit größerem Ausmaß. Die Quelle jenes Lichts war Padma­sam­bhava, der hier meditierend auf einem Felsvorsprung saß.«

»Bei dem hellen Strahlen hat es sich einerseits um deine Wahrnehmung der soeben in dir selbst entdeckten Liebe gehandelt und andererseits um die Wirkung von Guru Rinpo­tches grenzenlosem Mitgefühl. Seine mitfühlende Liebe ist dermaßen stark gewesen, dass sie sogar bis in deine Hölle zu reichen vermocht hat. Dass du in der Lage bist, des Mitgefühls auf diese Weise gewahr zu werden, zeigt mir deine starke Affinität zum Buddha des Unermesslichen Lichts, Amitabha. Wahrscheinlich hast du ihn durch deine Schutzbefohlenen bereits unter seinem tibetischen Namen Ööpaqme kennengelernt. In gewisser Weise ist dein Bezug zu diesem Buddha logischer Ausdruck deines bisherigen Seins.«

Auf meinen fragenden Gesichtsausdruck hin erklärte mein Lehrer mir:

»Berggeist, du bist in diesem heiligen Berg als Höllenwesen geboren worden, da du zuvor Vivekanandas Welt in einen Ort unendlicher Qual verwandelt hattest. Das wiederum konnte lediglich geschehen, weil du dich von dem durch Ashoka und seine Streitmacht erfahrenen Leid dazu hattest verleiten lassen, nur noch die der Hölle zugehörigen Seiten des Daseins wahrzunehmen. Dadurch – nicht durch dein Leiden selbst – ist dir die gesamte Welt zu einem Reich des Todes geworden. Du hattest deine eigene, durch und durch persönliche Hölle also bereits erschaffen, bevor du dich in der Schlacht zum Dämon gemacht hast. Insofern waren dein Verhalten im weiteren Verlauf des Gefechts ebenso wie deine spätere Wiedergeburt in der kalten Hölle dieses Bergs logische Konsequenz deiner vorausgegangenen Selbstverbannung in den Abgrund.

Angesichts dieser Ausführungen fragst du dich sicher, was all das mit Ssangtje Ööpaqme zu tun hat. Um dies verstehen zu können, ist es nötig zu wissen, dass dieser Buddha uns dazu aufruft, die Welt als Paradies zu betrachten. Begreifst du, was das bedeutet – insbesondere für dich? Ööpaqme gibt dir die Chance, die Hölle vollkommen hinter dir zu lassen, indem du selbst im schlimmsten Leiden die paradiesischen Seiten deiner Existenz erkennst – was nicht heißt, dass du dich einer illusionären Heile-Welt-Vorstellung hingeben sollst. Es geht in dieser Übung nicht darum, erkannte leidvolle Realitäten zu leugnen. Das zu verstehen, ist überaus wichtig.

Durch deine eigene Einstellung zum Sein hast du als Vivek­ananda einen Ort der Verdammnis geschaffen und dich anschließend zum Bewohner und Akteur dieses Schattenreichs gemacht. Ööpaqme hingegen ermöglicht es dir, die Absicht, in jedem Fall die dem Paradies zugehörigen Aspekte des Seins wahrnehmen zu wollen, dazu zu nutzen, deine Welt in einen makellosen Ort inneren Friedens zu verwandeln – und zwar unabhängig davon, wie schrecklich es draußen zugehen mag.

Ein durch die starke Absicht eines Buddhas geschaffenes Paradies nennt man ›Buddhafeld‹ oder auch ›Reines Land‹, weil es sich dabei um etwas rein Geistiges handelt. An einem solchen nicht-physischen Ort sind sämtliche Voraussetzungen für ein völlig ungestörtes Studieren wie Ausüben des Buddha-Dharma gegeben. Das von Amitabha durch sein eigenes Üben der paradiesischen Weltsicht geschaffene Buddhafeld heißt ›Su­kha­vati – Das Land reiner Freude‹. Möglicherweise hast du die auf deinem Berg Übenden schon einmal von ›Dewatchen‹ reden hören. Dabei handelt es sich um den tibetischen Ausdruck für Ööpaqmes Paradies.

Genauso, wie du als Vivekananda in der von dir selbst geschaffenen Hölle zum Höllenwesen geworden bist, besteht für dich also die Möglichkeit, dich in dem von dir mithilfe Ööpaqmes zu gestaltenden Paradies zu einem Bewohner des von ihm geschaffenen Reinen Lands zu machen. Dies wiederum wird dir ein entsprechend heilsames Denken wie Handeln ermöglichen. Verstehst du, Berggeist? Deine Verbindung zu Ööpaqme besteht darin, dass mit ihm für dich die Chance besteht, deine früheren Ansichten und Absichten sowie die daraus erwachsenen Denk- und Handlungsmuster zu überwinden, indem du ihr genaues Gegenteil übst. Während du das tust, solltest du allerdings stets im Auge behalten, was ich dich soeben über den Umgang mit Illusionen gelehrt habe.

Zwar gilt das dir von mir in Bezug auf Ööpaqme Erklärte im Großen und Ganzen für alle Wesen, ist aber gleichwohl in erster Linie für den menschlichen Geist und das menschliche Zu­sammenleben konzipiert. Nun bist du allerdings kein Mensch, sondern ein aus einem Dämon entstandenes Geistwesen. Daher übst du besser mithilfe der zornvollen Erscheinungsform Ööpaqmes. Sie wird Tamdin genannt. Das ist dein Jidam. Versuch, so zu werden wie er.«

Obwohl die Nennung des Namens Amitabha vorübergehend einen mir unerklärlichen Schatten von Traurigkeit durch mein Gemüt gejagt hatte, versprach ich mit Freuden, dem für mich gefundenen Jidam nachzueifern. Im Anschluss an dieses Versprechen legte ich außerdem mein Bodhisattwa-Gelübde vor Düssum Tjenpa ab. Der machte es mir leicht, indem er darauf hinwies, dass er diesbezüglich seinem verehrten Lehrer Kampopa folge, der die Motivation bei diesem Versprechen für weit bedeutender gehalten habe als alle möglichen einzelnen Regeln. In Übereinstimmung mit dieser Ansicht erlegte mein Lama mir nur eine einzige Grundregel auf: Ich sollte unermüdlich alles tun, um sämtlichen Wesen zu ermöglichen, den Kreislauf leidvoller Wiedergeburten zu durchbrechen. Allerdings hielt Düssum Tjenpa es für notwendig, diese Regel zu kommentieren:

»›Alles‹ bedeutet in diesem Zusammenhang ausnahmslos die Gesamtheit sämtlicher vorstellbarer Handlungen in jeder erdenklichen Hinsicht und ungeachtet möglicher unangenehmer Konsequenzen für dich, mein Schüler. Dein Versprechen schließt folglich auch die Möglichkeit eigenen Leidens ein.

Zum einen kann dieses wie bei allen noch nicht erwachten Wesen von einer illusionären Vorstellung vom Selbst her­rühren – wobei es keine Rolle spielt, ob es dabei um dein eigenes Ich oder das der anderen geht. Eine entsprechend verblendete Auffassung muss dir allerdings nicht unbedingt bewusst sein. Denn selbst wenn der Verstand erfasst hat, was der Buddha mit Anatman meint, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass im Unterbewusstsein weiterhin noch zu überwindende Widerstände gegen diese Erkenntnis existieren. Solch ein in gewissem Sinn gespaltener Zustand ist unter anderem daran zu erkennen, dass ein Bodhisattwa trotz seiner bewusst gefassten heilsamen Absichten das Leiden eines anderen mit durchleidet – dem Leiden gegenüber also unbewusst Anhaftung zeigt, statt aktives, die Situation zum Besseren veränderndes Mitgefühl. Um ein derartiges Hindernis zu überwinden, helfen ausschließlich große Achtsamkeit und ständiges Üben.

Zum anderen ist Leiden bei einem Bodhisattwa aber auch oft durch zu wenig Geduld und Zuversicht angesichts des unendlichen, unvorstellbare Ausmaße annehmen könnenden Leids verursacht, dem er bei der Verwirklichung seines Versprechens notgedrungen begegnet. Deshalb ist es immens wichtig, dass du überdies lernst, eine äußerst gelassene Haltung gegenüber von dir erfahrenen Leidensempfindungen einzunehmen.

Berggeist, ich sehe, wie aufmerksam du mir zuhörst. Trotzdem möchte ich dich bitten, diesen Punkt besonders zu beachten. Es ist von größter Wichtigkeit, dass du mich hier nicht missverstehst. Mit der von mir erwähnten gelassenen Haltung meine ich lediglich, dass du dein Karma und auch das der anderen positiv annimmst, selbst wenn dein Versprechen dich vom Karma anderer verursacht in eine Hölle führen sollte. Es geht auf keinen Fall darum zu versuchen, bereits entstandenes Leid zu bekämpfen. Aufgrund dessen karmischer Beschaffenheit ist das vollkommen unmöglich. Leiden kann ausnahmslos nur vor seinem Entstehen verhindert werden. Ebenso wenig ist es deine Aufgabe, Leid aktiv zu suchen oder, falls es dich treffen sollte, daran festzuhalten. Schließlich soll dein Handeln das Wohl aller Wesen zum Ziel haben, also auch dein eigenes. Das darfst du niemals vergessen, hörst du?«

Zum Zeichen meiner Zustimmung nickte ich mit dem Kopf. Dass Guru Rinpotche entschieden hatte, mir einen höchstvollendeten Bodhisattwa als Lehrer zu senden, hatte mir den Entschluss erleichtert, diesen Pfad gleichfalls zu beschreiten. Dasselbe galt für die Akzeptanz der möglichen Folgen meines Eids. Das Beispiel Düssum Tjenpas zu sehen, ermutigte mich trotz seiner Warnungen, von ganzem Herzen zu versprechen, ihm auch in dieser Hinsicht nachzueifern.

Kaum hatte ich das entsprechende Gelübde abgelegt, erklärte mein Lama mir im weiteren Verlauf seiner Belehrung alles, was ich seiner Meinung nach über Tamdin wissen musste. Dabei lernte ich vor allem, das vorgestellte äußere Erscheinungsbild dieses Jidams für die Meditation der ihm zugeschriebenen geistigen Eigenschaften zu nutzen.

Nachdem Düssum Tjenpa zum Abschluss seiner Belehrung und Einweihung die entsprechenden formellen Ermächtigungshandlungen durchgeführt hatte, geleitete er mich zu guter Letzt zu dem von ihm in einer Vision erblickten Versteck des die erwähnte Ngöndro-Kurzfassung enthaltenden Termas. Als er mir den Text reichte, starrte ich voller Bewunderung auf die vielen Zeichen dieser wunderschönen Handschrift und musste schockiert feststellen, dass ich nicht lesen konnte. Da tröstete mein Lehrer mich:

»Ach, mein lieber Berggeist das macht doch nichts. Wozu ist es nötig, in deiner Lage das Lesen zu beherrschen? Alles, was du im Augenblick wissen musst, hast du bisher ohnehin schon einmal gehört. Daher verfahren wir mit diesem Terma hier folgendermaßen: Ich lese dir vor und du sprichst mir nach, bis du die jeweilige Textstelle auswendig weißt. Danach rezitierst du den Text, und ich erkläre dir den Sinn. Einverstanden?«

Kaum hatte ich meine Einwilligung gegeben, als Düssum Tjenpa sich auch schon daran machte, das Terma mit mir durchzugehen. Als er mir die vielen äußeren wie inneren Übungen erklärte, fiel mir auf, dass ich sie durch meine geistige Begleitung der Praxis der Nonnen und Yoginis tatsächlich alle schon einmal kennengelernt hatte. Trotzdem hielt mein Lehrer es für wichtig, dass ich sie mir einmal vollkommen bewusst in ihrer Gesamtheit und ihrem inneren Zusammenhang in Erinnerung rief, da diese Übungen unter anderem zur Vorbereitung des Devata Yogas dienen. Als ich dank der Hilfe meines wunderbaren Lamas in der Lage war, den Text, dessen Sinn ich durch unser Üben mittlerweile verstanden hatte, auswendig zu rezitieren, verbarg der weise Mönch das Terma erneut.

Damit war meine Belehrung eigentlich beendet. Doch hatte Düssum Tjenpa mir noch eine wichtige Mitteilung zu machen:

»Berggeist, bis jetzt hast du die dir übertragene Aufgabe, diesen Ort und die hier Übenden zu schützen und zu unterstützen, ausgefüllt, indem du dich um die Nonnen und Yoginis gekümmert hast, deren Rückzugsort dieser Berg ist. In der Welt der dem Buddha Folgenden hat es sich jedoch mittlerweile herumgesprochen, dass dieses Land hier durch Guru Rinpo­tche besonders gesegnet ist – und dass er und seine Schüler in der Umgebung deines Bergs eine Menge Termas versteckt haben. Folglich wirst du in Zukunft immer wieder einmal Besuch bekommen. Diejenigen, die den von dir geschützten Ort zu finden verstehen, werden Fortgeschrittene auf dem Pfad sein. Daher weise sie auf keinen Fall ab, selbst wenn es sich nicht um weibliche Wesen handelt, die hier einen Teil ihres Lebens verbringen möchten.

Behandle die zu erwartenden Yogis, Tulkus und Rinpotches jeglicher Art stets mit großer Achtung und Liebe. Begegne ihren Worten oder auch ihrer schweigsamen Anwesenheit mit offenem Geist und Herzen. Auf diese Weise wirst du viel von ihnen lernen – für den Fall, dass du diese Fähigkeit in Zukunft benötigen solltest, möglicherweise sogar das Lesen. Versprichst du mir, diese besonderen zukünftigen Besucher angemessen zu behandeln?«

»Ja, mein Lehrer, das ist doch selbstverständlich! Vielen, vielen Dank für die große Hilfe, die Ihr mir für mein Fortkommen auf dem Pfad gewährt habt! Ihr könnt versichert sein, dass ich die heute von mir gemachten Versprechen ernst nehme und mich stets um ihre Erfüllung bemühen werde … Allerdings hätte ich noch eine Frage«, wandte ich mich nach einer kurzen Pause abermals verlegen an Düssum Tjenpa.

»Und die wäre?«

»Sollte ich Euch nicht besser mit ›Tche‹, ›Rinpotche‹ oder einem anderen Ehrentitel anreden, statt einfach immer nur ›mein Lehrer‹ zu sagen?«

»Aber nein, mein lieber, lieber Schüler! Ich spüre auch so, welch große Achtung du für mich empfindest. Wichtiger, als mir die durch irgendwelche Titel zu erweisen, ist mir, dass du mich liebst. Dass du das tust, empfinde ich deutlich. Noch wichtiger für einen Lehrer ist allerdings, dass der Schüler das beherzigt und anwendet, was er von seinem Lehrer lernt. Weißt du, selbst Buddha Shakyamuni wollte keine Verehrung – trotz des großen Beispielcharakters, den er für uns alle hat. Stattdessen war es sein Wunsch, dass wir uns bemühen, seine Botschaft zu verstehen und ihm auf dem von ihm erfolgreich gegangenen Pfad zu folgen.

Dass wir ihn anbeten wie einen Gott oder Heiligen und auf ein von ihm zu wirkendes Wunder warten, hätte er voller Entrüstung abgelehnt. Schließlich würde das in krassestem Widerspruch zu Jeglichem stehen, das er jemals gelehrt hat. Daher ist mir die von dir soeben gemachte Zusicherung, dich um die Umsetzung deiner Versprechen in die Tat bemühen zu wollen, viel, viel mehr wert als jeder Titel!«

Mittlerweile neigte sich der ungemein früh begonnene Tag seinem Ende zu. Da wurde mir auf einmal bewusst, dass in Kürze der Abschied von meinem geliebten Lama bevorstand. Trotz des von mir empfundenen Glücks und der grenzenlosen Dankbarkeit gegenüber diesem als einfacher Mönch erscheinenden Mann wollte mich Traurigkeit über die bevorstehende Trennung ergreifen. Da Düssum Tjenpa dieser Stim­mungswechsel nicht entgangen war, mahnte er mich:

»Nicht doch, Berggeist. Hast du vergessen, dass die Verbindung zu deinem Lehrer unabhängig von Zeit und Ort besteht?«

»Nein, verzeiht. Diesem Anflug von Anhaftung werde ich mich nicht hingeben. Das verspreche ich Euch. Stattdessen werde ich mich gleich von jetzt an gewissenhaft um meine neuen Versprechen kümmern.«

»So ist es recht. Um dir dies zu erleichtern und unsere Verbundenheit auch ein wenig schein-materiell zu dokumentieren, habe ich ein Geschenk für dich, Berggeist.«

Ein Geschenk! Ein weiteres Mal fühlte ich mich beschämt. Düssum Tjenpa hatte mich an diesem Tag bereits mit unermesslich wertvollen Schätzen bedacht! Und wie Guru Rinpotche hatte er nichts von mir zurückerhalten außer meiner Aufmerksamkeit und dem Willen, meinem Lama jetzt und in aller Zukunft zu folgen. Meinen Gedankengang unterbrechend sagte Düssum Tjenpa daraufhin:

»Wie ich bereits angedeutet habe, ist dies das beste Geschenk, das ein Schüler seinem Lehrer machen kann. Als Symbol dafür, dass du ab jetzt einerseits viel Geduld aufbringen wirst, um den Bodhisattwapfad zu beschreiten, und du zum Zweiten dem Buddha Amitabha eng verbunden bist, werden deinen Scheinkörper von nun an zwei Ohrringe aus Knochen zieren. Dabei steht einer für deine Geduld und der andere für Ööpaqme.

Da du deinen Körper weder zu fühlen noch zu sehen, sondern lediglich als Reflexion wahrzunehmen vermagst, wirst du dieses Geschenk erst erblicken, wenn du das nächste Mal dein Spiegelbild in einer Pfütze oder einem See betrachtest. Alle sonstigen Wesen können es jedoch bereits jetzt sehen und damit wissen, dass du ab heute ein anderer sein willst. Doch nicht nur Sichtbares sollst du von mir bekommen, sondern auch Hörbares. Damit du dir stets das Bewusstsein dafür bewahrst, wem du nacheiferst, verleihe ich dir hiermit den Namen Tamdin. Wenn du dich in Zukunft auch selbst so nennst, werden deine Übungen effektiver sein.«

Am liebsten wäre ich meinem Lehrer um den Hals gefallen. Da dies mit einem Scheinkörper aber leider ein Ding der Unmöglichkeit ist und es sich außerdem für einen Schüler auch nicht schickt, machte ich stattdessen Niederwerfungen vor Düssum Tjenpa, bis der mich stoppte. Selbstverständlich erwartete ich, dass er nach seinem Abschied von mir nun den Hang hinabgehen werde. Doch machte er einfach einen Satz, als wolle er springen, und war plötzlich verschwunden – als habe er sich in Luft aufgelöst. Konnte der Mann fliegen oder war mein Treffen mit ihm etwa gar nicht real, sondern eine Vision gewesen?

Da hörte ich, ähnlich wie beim Abschied von Padma­sam­bhava, auf einmal seine Stimme in meinem Kopf:

»Ach, Tamdin. Du befindest dich doch im Pemaköö Bejül! Dort herrschen vollkommen eigene Gesetze. Das wirst du mit der Zeit schon noch selbst herausfinden – genauso wie die Tatsache, dass dein Lehrer weder kommt noch geht. Er ist immer bei dir – über Zeiten und Leben hinweg.«