Nach meiner Belehrung durch Düssum Tjenpa und der Abgabe der Versprechen, in Zukunft dem Bodhisattwapfad zu folgen sowie mich selbst als Tamdin zu visualisieren und daher auch so zu nennen, tauchte unerwartet ein gewaltiges Hindernis auf meinem Pfad auf: Nach und nach wurden die Abstände zwischen den Abschnitten, in denen nach Erwachen Strebende die Höhlen am heiligen Berg bewohnten, immer länger. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger Ordinierte fanden sich ein. Unmerklich ging dies in eine Phase über, in der die Nonnen und Yoginis schließlich völlig ausblieben und auch Jäger sich bloß noch vereinzelt auf den Berg wagten. Meiner Pflicht gemäß verjagte ich diese selten gewordenen Eindringlinge, obwohl mittlerweile keine Einsiedlerinnen mehr da waren, die sie hätten stören können. Doch brauchte ich selbst das irgendwann nicht mehr zu tun, da sogar die ungebetenen Besucher dem heiligen Bezirk mit einem Mal fernblieben.
Aufgrund dieser Entwicklung bekam ich letzten Endes nur noch äußerst selten ein menschliches Wesen zu Gesicht. Wer nun zu mir fand, war unweigerlich von seinem eigentlichen Weg abgekommen. Da das Eindringen der Verirrten ohne Absicht geschah, bemühte ich mich, sie trotz meines Aussehens nicht zu erschrecken und ihnen stattdessen zu helfen, auf ihren ursprünglichen Pfad zurückzukehren. Mit der Zeit gelangten allerdings selbst keine in die Irre Gegangenen mehr in mein Reich. Damit war endgültig der Moment gekommen, in dem ich mir eingestand, nicht weiter erwarten zu können, dass überhaupt noch jemand zu mir herauffand.
Was war geschehen? Hatten die Menschen kein Interesse mehr, den Kreislauf leidvoller Wiedergeburten zu verlassen? Oder waren die Bewohner der nächstgelegenen Dörfer und Klöster etwa fortgezogen?
Da es mir aufgrund meiner physischen Beschränktheit unmöglich war, Antworten auf diese Fragen zu finden, erkundigte ich mich bei den Vögeln über die Welt außerhalb des von mir begehbaren Gebiets. Großzügig ließen meine gefiederten Freunde mich sehen, wie sie die Umgebung wahrnahmen: Zwar gab es auch weiterhin Dörfer, doch lagen die jetzt in größerer Entfernung vom Berg, in Tälern, wo es wärmer war und das Leben leichter – und wo es mehr Platz für Ackerbau und Viehzucht gab. Diese Tätigkeiten wurden von den Menschen in weit bedeutenderem Ausmaß als früher betrieben, sodass es in der unmittelbaren Umgebung der Dörfer mittlerweile viel weniger unberührte Natur gab.
Die Vögel übermittelten mir ein recht genaues Bild vom Leben in den Tälern. Daher lautete meine zweite Frage an sie, ob es etwa keine Klöster mehr gäbe. Daraufhin zeigten meine fliegenden Freunde mir, dass auch jetzt noch eine Vielzahl verschiedener Stätten für Ordinierte existierte. Insgesamt schien mir das Angebot für Männer dabei aber wesentlich größer zu sein als für Frauen. So war zum Beispiel das im nächstgelegenen Tal angesiedelte Nonnenkloster mit dem Wegzug der die es umgebenden Dörfer bewohnenden Menschen aufgegeben worden. Zwei wesentliche Gründe für das Ausbleiben von Eremitinnen hatte ich damit schon einmal gefunden.
Nach dem zu urteilen, was die Vögel mich hatten sehen lassen, nahm ich außerdem an, dass die Ordinierten nun auf andere Weise versuchten, Erwachen zu erlangen. War diese Vermutung angesichts des Umstands, dass die menschliche Lebensgestaltung sich insgesamt verändert hatte, nicht naheliegend? Mit größerer Ackerfläche und wesentlich mehr Vieh jagten die Dorfbewohner zum Beispiel nicht mehr in demselben Ausmaß wie früher. War es da nicht denkbar, dass der Rückzug auf einen Berg wie den von mir bewohnten für die mittlerweile an größere Gemeinschaften und weniger harsche natürliche Bedingungen gewöhnten Talbewohner inzwischen eine zu große Herausforderung darstellte?
Von den Menschen alleingelassen verstand ich plötzlich, weshalb mein geliebter Lehrer die Zeit für reif gehalten hatte, neue Übungen von ihm zu erhalten. Hatte er nicht gesagt, es habe viele Veränderungen in der Welt gegeben?
Ohne seine Belehrung hätte ich mich in der jetzigen Situation zweifelsfrei nach dem weiteren Sinn meines Hierseins gefragt. Der Übung halber, wie man mit Illusionen und Hindernissen auf dem Pfad umgeht, stellte ich mir vor, ich befände mich in meiner gegenwärtigen Lage, ohne weitere Belehrungen erhalten zu haben. Dabei malte ich mir meine gefühlsmäßige wie gedankliche Reaktion darauf aus, von allem und jedem in der Welt verlassen zu sein:
Ohne meine besondere Verpflichtung zur Geduld wäre ich angesichts der Tatsache, dass ich nach dem Ausbleiben von Schutzbefohlenen keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn meiner Existenz gefunden hätte, sicherlich von Verzweiflung überwältigt worden. Wie ich mich kannte, hätte ich daher zunächst einmal meiner emotionalen Auflehnung gegen die von mir als sinnlos empfundene Situation Ausdruck verliehen. Und bestimmt hätte mein Verstand erst mit Abkühlung meiner hitzigen Gefühle wieder eingesetzt. Daraufhin hätte ich mich höchstwahrscheinlich gefragt, ob ich in eine neue Übungsphase eingetreten war, ohne dies bemerkt zu haben. Gab es möglicherweise etwas Neues, das von mir erlernt werden sollte? – Vermutlich, doch was?
Ohne meine Belehrung durch Düssum Tjenpa hätte ich diese Fragen nicht so ohne Weiteres zu beantworten gewusst. Um mich in die Lage zu versetzen, in meiner Simulation einer Situation ohne Kenntnis des von ihm Gelernten dennoch Antworten zu finden, war es nötig, bei der Suche nach möglichen Lösungen systematisch vorzugehen. Als Naheliegendstes erachtete ich, mich zunächst unter Aufbringung allen Muts meiner schmerzlichen Vergangenheit zuzuwenden, um mir so eine Zwischenbilanz zu ermöglichen: Wie war ich gewesen, als ich im Berg angekommen war? Warum hatte sich das so verhalten? Was hatte sich geändert, was nicht? Und weshalb? Worin bestanden meine Übungen, und was hatten sie bis jetzt bewirkt?
Als ich diese Bestandsaufnahme im Rahmen meines Gedankenspiels sorgfältigst durchgeführt hatte, fiel mir auf, dass es sogar ungeachtet meiner neuen Versprechen etwas gab, das ich bis jetzt noch niemals geübt hatte: Dies war, etwas demütig und geduldig zu akzeptieren, dessen Sinn ich nicht verstand. Dass Düssum Tjenpa mir einen Ohrring zum Zeichen meiner Geduld geschenkt hatte, erschien mir angesichts dieses Ergebnisses in einem vollkommen anderen Licht als zuvor. Daher bemühte ich mich nun umso mehr, nicht mit der augenblicklichen Situation zu hadern und geduldig der Dinge zu harren, welche die Zukunft bringen würde.
Um mir diese Herangehensweise zu erleichtern, führte ich mir meine gegenwärtige Lage gründlich vor Augen: Angesichts der von mir in der Vergangenheit begangenen Gräueltaten ging es mir insbesondere durch den doppelten Segen Padmasambhavas und Düssum Tjenpas unverhältnismäßig gut. Nur weil es keine Schutzbefohlenen mehr gab, hieß das noch lange nicht, dass ich mich dem Müßiggang hingeben musste. Vor Kurzem hatte ich neue Aufgaben erhalten. Dabei hatte ich meinem neuen Lehrer zwar versprochen, gemeinsam mit den Nonnen und Yoginis zu lernen, wie man den Bodhisattwapfad am besten beschreitet. Da diese nun aber zumindest körperlich nicht mehr anwesend waren, hatte ich auch hier zu den mir anempfohlenen Mitteln der Imagination und Imitation zu greifen.
So ungewohnt dies zunächst auch für mich war, bereitete es mir trotzdem keine nennenswerten Schwierigkeiten. Schließlich kannte ich durch mein endloses Zuhören wie das Beobachten meiner Schutzbefohlenen eine wahre Unmenge an Übungen sowohl zur Beruhigung und Beherrschung des Geistes als auch zur Entwicklung liebenden Mitgefühls. Darüber hinaus hatte ich unzählige Male beobachten dürfen, wie man sein eigenes Üben plant, um ihm Struktur und Sinn zu geben.
Als Düssum Tjenpa davon gesprochen hatte, im rechten Augenblick gekommen zu sein, hatte er damit vermutlich auch gemeint, dass es für mich an der Zeit sei, vom Beobachter und Mit-Über anderer in den Zustand der Selbständigkeit überzugehen. Während meiner ersten Versuche auf diesem Gebiet bemühte ich mich zunächst, die Nonnen und Yoginis in ihrem Tun nachzuahmen. Zu diesem Zweck lebte ich mich nach meinem Beschluss zum selbständigen Üben nun im Gegensatz zur früher geübten Empathie wie ein sich in eine Rolle versetzender Schauspieler in ihr Denken und Fühlen ein.
Das fiel mir umso leichter, wenn ich mich in der unweit meiner Lieblingsklippe gelegenen Höhle aufhielt. Diese Behausung, in der unter anderem die in meinem Beisein verstorbene Yogini gewohnt hatte, war aufgrund ihrer Größe, Lage und inneren Beschaffenheit zweifelsohne als Haupthöhle des Bergs zu bezeichnen. Hier gab es unverändert den von mir in jener denkwürdigen Jubiläumsnacht erblickten kleinen Altar mit den darüber hängenden Wandbildern. Überdies hatten die letzten hier in Klausur Gegangenen einige ihrer liturgischen Gerätschaften für ihre Nachfolgerinnen zurückgelassen. Dies erweckte den Eindruck, die Höhle sei noch immer bewohnt und warte lediglich auf die Rückkehr einer Nonne oder Yogini. Da jedoch das Gegenteil der Fall war und ich somit niemanden störte, machte ich die Klause bald zu meinem Heim – zumal der Aufenthalt in dieser Felsenbehausung eine angenehme Art darstellte, der langsamen Gelassenheit des Bergs nahe zu sein.
Nach meinem Einzug vergingen viele Sommer und Winter im eintönigen Wechsel zwischen Wachrunden im Gelände und Übungen innerhalb der Höhle oder auf dem Platz beziehungsweise der Klippe davor. Wie von Düssum Tjenpa angekündigt wurde dieser stets gleiche Gang der Dinge von Zeit zu Zeit durch den Besuch hochrealisierter Nachfolger Buddhas unterbrochen. Diese Stippvisiten waren mir jedes Mal eine große Freude – nicht nur, weil ich dadurch in den ansonsten durchaus vermissten Kontakt zu Menschen kam, sondern vor allem, weil es von diesen ausnahmslos äußerst interessante wie nützliche Dinge zu lernen gab. Denn so sehr ich mich auch um ein eigenständiges Üben bemühte, begegneten mir dabei doch des Öfteren auch Hindernisse, die zu überwinden ich ohne Rat nicht in der Lage gewesen wäre. Meine Besucher, die allesamt kurz vor dem Erwachen standen oder es sogar bereits erlangt hatten, waren mir in diesen Fällen ausnahmslos eine große Unterstützung. Nie verließen sie mich, ohne mir über die meist von mir selbst errichteten Hürden hinweggeholfen zu haben.
In der ansonsten menschenlosen Zeit blieb ich neben meinem Üben aber auch weiterhin meiner Aufgabe treu, sämtliches Leben auf dem Berg zu schützen. Da jedoch niemals Angreifer auftraten, nutze ich meine ausgedehnten Wachrunden meist dazu, die verschiedenen mir übertragenen Aufgaben zu kombinieren, indem ich meine Kontrollgänge zur Kora umfunktionierte: Während des häufig von Niederwerfungen unterbrochenen Gehens setzte ich meine Beobachtungen fort und schulte meinen Geist. Gleichzeitig bemühte ich mich, eins mit der Natur um den heiligen Berg herum zu sein sowie mein gesamtes Sein dem Wohl aller Wesen zu widmen. Hielt ich mich zwischen diesen Kora-Wachrunden meditierend und übend in oder vor der Höhle auf, tat ich auch dies grundsätzlich mit der Haltung eines Schutzgeists: Wann immer mir ein Wesen in Not zu sein schien, unterbrach ich mein Üben, um schnellstmöglich dorthin zu eilen, wo meine Hilfe gebraucht wurde. Schließlich kümmert ein Bodhisattwa sich nicht nur um Menschen, sondern um sämtliche Wesen.
Auf diese Weise verstrichen ungezählte Jahre – bis meine Routine eines Tages gewaltsam unterbrochen wurde.