Nach einer unermesslichen Zeit unendlicher Ruhe herrschte mit einem Mal große Aufregung auf dem mir zur Heimat gewordenen Berg: Bereits von Weitem war für mich deutlich zu hören, dass viele aufgebrachte Menschen in großer Hast den heiligen Bezirk betreten hatten. Kaum war ich zu ihnen geeilt, als ich eine noch sehr junge, wie eine Braut gekleidete Frau erblickte, die vor einer Gruppe lärmender, gestikulierender Leute davonlief. Bei den Verfolgern schien es sich um den Bräutigam mit seiner Familie sowie die Brauteltern mit ihrem Anhang zu handeln. Ohne sich nach ihnen umzuschauen, schrie die junge Frau in Richtung Berg gewandt:
»Tschatų-laq, bitte rettet mich! Ich will mein Leben der Lehre widmen!«
Nach diesem an mich gerichteten Hilfeschrei drehte sie sich zu ihren Verfolgern um und rief ihnen im Weiterlaufen zu:
»Niemals werde ich heiraten! Mein Leben gehört dem Buddha!«
Was sollte ich in dieser Situation tun? Die Heranwachsende war weder Nonne noch Yogini, suchte aber nach einem Weg, Erwachen zu erlangen. In einer etwas freieren Interpretation meines Auftrags entschied ich daher, dass ich sie schützen müsse. Die Hochzeitsgesellschaft war ihr jedoch bereits so nahegekommen, dass es unmöglich schien, beide Parteien durch eine Gerölllawine oder dergleichen zu trennen. Folglich hatte ich keine andere Wahl, als mich zu zeigen und darauf zu hoffen, dass die Braut mich betreffend mehr Vertrauen als Angst empfand, während ihre Familie wenigstens für kurze Zeit zurückblieb.
Kurz entschlossen stellte ich mich daher der gesamten Sippe in den Weg. Während ich der Braut mit der einen Hand signalisierte, an mir vorbeizulaufen, forderte ich ihre Verfolger mit der anderen dazu auf, unverzüglich kehrtzumachen. Da ich nicht wusste, wie ich die junge Frau dauerhaft vor einer solch großen Anzahl von Personen schützen sollte, ohne jemandem etwas zu Leide zu tun, wandte ich einen Dämonentrick an, den ich seit der Schulung bei Padmasambhava bisher nur einmal benutzt hatte: Ich veranlasste den Berg, sich aufzutun, dirigierte die Braut hinein und schloss den Felsen hinter ihr. In dieser eingangslosen Höhle war die junge Frau für ihre Verfolger nun genauso unsichtbar wie unerreichbar.
Sobald die Hochzeitsgesellschaft mich erblickt hatte, waren zwar sämtliche ihrer Mitglieder erschrocken stehengeblieben, doch hatten sie sich trotz meiner auffordernden Geste bislang nicht dazu entschlossen zurückzuweichen. Als sie jedoch die Braut im Berg verschwinden sahen, warfen sie sich unter laut-erstaunten Schreckensrufen zu Boden. Der von mir angewandte Kunstgriff war gelungen. Jetzt hatte ich die Verfolger nur noch zu verjagen. Zu diesem Zweck machte ich ihnen mit einem nicht allzu lauten Grollen klar, dass sie den Berg unverzüglich zu verlassen hätten. Als sie in Begleitung zu meiner Drohung Steinschlag hörten und sahen, wie ich den Abhang hinunterwies, erhoben sie sich folgsam, verbeugten sich vor mir und gingen wie in Trance dahin zurück, woher sie gekommen waren.
Sobald die Familie sich so weit entfernt hatte, dass ich sie nicht mehr fühlte, öffnete ich den Berg, um die Braut herauszulassen. Kreidebleich und mit zum Dank vor der Brust zusammengelegten Händen verließ sie die neue Felsspalte langsamen, unsicheren Schrittes. Ich aber bedeutete ihr, mir zu folgen, und ging schnell an ihr vorüber in Richtung Eremitinnenhöhle. Dort angekommen wies ich ihr den Eingang zu ihrer neuen Behausung und zog mich anschließend in den Berg zurück.
In der mittlerweile von mir geliebten dunklen Einsamkeit des Felsens fragte ich mich, wie lange die Neue ohne Unterstützung durch ein Kloster wohl hier oben durchhalten würde. Sie verfügte weder über Lebensmittel noch Butterlampen oder Kleidung. Als weitere Erschwernis kam hinzu, dass aufgrund der langen Zeit, während der die Höhle von Menschen unbewohnt gewesen war, Schmutz wie allgemeiner Verfall in ihr Einzug gehalten hatten: Die Meditations- und Schlafkiste ebenso wie das hölzerne Geschirr und Besteck waren angefault, Gegenstände aus Ton teilweise zerbrochen und wärmende Felle von Motten angefressen. Darüber hinaus waren früher abgedichtete Stellen im Fels undicht geworden, sodass es zog und teilweise auch tropfte.
Für einen Menschen war es daher nicht ersichtlich, dass die Höhle auch nach dem Auszug der letzten Eremitin bewohnt gewesen war. Ohne Körper war es mir leider nicht möglich gewesen, den traurigen Niedergang aufzuhalten. Dessen ungeachtet hatte ich die geliebte Wohnstatt nach meinem Einzug nie wieder aufgegeben. Obwohl die Höhle aufgrund ihres Verfalls mit der Zeit immer weniger an eine Einsiedelei erinnert hatte, war sie für mich stets der Ort geblieben, an dem ich mich den ehemaligen Bewohnerinnen am engsten verbunden gefühlt hatte.
Jetzt, wo es endlich wieder eine Höhlenbewohnerin gab, der ich nah sein konnte, musste ich allerdings den Ort verlassen, an dem ich mich wahrlich lange wohlgefühlt hatte. Trotzdem war es mir lieber, endlich wieder mit einem realen menschlichen Wesen zu tun zu haben als ausschließlich mit Erinnerungen und Vorstellungen.
Obwohl die Braut erst vor wenigen Minuten in ihrer neuen Behausung angekommen war, machte sie sich sogleich daran, alles Beschädigte oder Schmutzige daraus zu entfernen. Da es sich dabei aber eigentlich um das gesamte Interieur außer dem Altar und den dazugehörigen Kultgegenständen handelte, war ihr Verdruss über die anschließend leere und verdreckte Höhle nicht zu überhören. Doch zeichnete die junge Frau sich deutlich erkennbar durch große Tatkraft aus: Kaum hatte sie die Lage erfasst, als sie eines von den zuvor hinausbeförderten Fellen ergriff und sich daranmachte, ihr neues Zuhause damit zu säubern.
Obgleich ich sie für ihren Optimismus und Tatendrang bewunderte, stand für mich fest, dass sie sich bei dieser hinsichtlich des möglichen Erfolgs mehr als zweifelhaften Aktion vollkommen verausgaben würde. Und wie sollte es anschließend weitergehen? Sie hatte ja nicht einmal etwas, womit sie sich würde stärken können!
In allem bisher von ihr Unternommenen hatte die entlaufene Braut einen ungemein starken Willen erkennen lassen. Damit sie gar nicht erst auf die Idee kam, eventuell an meiner Autorität zu zweifeln, trat ich direkt durch die Felswand zu ihr in die Höhle. Sie war eine mutige Frau: Zwar erschrak sie ein wenig, als sie mich so unversehens wiedererblickte. Doch schrie sie weder, noch machte sie Anstalten davonzulaufen, sondern sah mich stattdessen fest an. Das war gut so, da die gezeigte Unerschrockenheit es mir erlaubte, ihr ohne Weiteres zu zeigen, was ich von ihr erwartete: Durch Gesten bedeutete ich ihr, den Altar samt allen anderen Kultgegenständen aus der Höhle zu entfernen.
Wie bereits geahnt versuchte die Braut sogleich, mir Widerstand zu leisten. Wie sollte sie meine Absichten auch verstehen? Schließlich vermochte ich ihr die nicht zu erklären. Es half nichts: Ich musste sie mit Drohungen dazu bewegen, meiner Aufforderung Folge zu leisten. Glücklicherweise reichte es bereits, sich ihr mit einem bösartigen Grollen und eindeutigen Gebärden zu nähern. Daraufhin machte sie sich unverzüglich daran, den Altar abzubauen, die dazugehörigen Wandbilder abzunehmen und alles nach draußen zu tragen. Sobald sie diese Arbeiten abgeschlossen hatte, trat ich in den Eingang und bedeutete ihr unfreundlich, sämtliche Gegenstände auf eine Seite zu schaffen. Nachdem sie auch das getan hatte, schärfte ich ihr durch unmissverständliche Gesten ein, dass sie unbedingt draußen zu bleiben habe, wollte sie Ärger mit mir vermeiden. Anschließend ging ich zurück in die Höhle und machte mich an die Arbeit.
Zwar vermochte ich keine Bäume zu fällen oder Holzkisten zu schreinern, doch war es mir immerhin möglich, eine Felswand in der Weise zu verändern, dass eine Vertiefung entstand, die gerade groß genug war, darin meditierend zu sitzen. Sobald die Meditationsnische fertig war, leitete ich die Wasserader, von der die neben der Höhle liegende Quelle gespeist wurde, dergestalt um, dass sie direkt in der Höhlenmitte eine kräftige Fontäne bildete. Diesen Fontänenstrahl richtete ich anschließend auf eine Höhlenwand nach der anderen, wobei ich auch die Decke nicht aussparte. Durch die große Wucht, mit der das Wasser auf den Felsen traf, wurde dieser gereinigt.
Als die Höhle so weit sauber war, leitete ich die Wasserader erneut um, sodass der Höhlenboden in kürzester Zeit überflutet wurde. Sobald nur noch sauberes Wasser herausfloss, bedankte ich mich beim Wasser und verabschiedete es in seine alte Bahn. Daraufhin erzeugte ich einen starken Wind, um die Behausung damit zu trocknen. Erst in feuchtigkeitsfreiem Zustand war es möglich, genau zu erkennen, wo sich Stellen befanden, aus denen es tropfte. Diese kleinen Löcher verstopfte ich, indem ich dafür sorgte, dass sich das Gesteinsgefüge entsprechend verschob. Sodann leitete ich einige winzige Wasseräderchen in Richtung Quelle um, damit sie in Zukunft nicht für neue Löcher sorgten. Nach Beendigung meiner Arbeiten innerhalb der Höhle trocknete ich draußen kurz die Bahn, über die das Wasser abgeflossen war, und signalisierte der jungen Frau anschließend, dass sie ihre Unterkunft nun wieder betreten dürfe.
Während sie eintrat, machte ich mich schnell davon. Ich wollte keinen Dank. Außerdem gab es noch mehr als genug zu tun. Um die nächsten Tage zu überbrücken, bat ich alle fleischfressenden Tiere in der Umgebung, auf einen Teil ihrer Beute zu verzichten, bis ich eine Lösung für das Nahrungsmittelproblem gefunden haben würde. Die pflanzenfressenden Tiere dagegen ersuchte ich, der jungen Frau nicht nur für Menschen Essbares, sondern auch sonst Verwertbares zu bringen. Darüber hinaus ließ ich im Wald einen Wind entstehen und befreite auf diese Weise einige Bäume von überflüssigem Reisig. In einem nächsten Schritt pustete ich dieses vor die Höhle, damit die Neue wenigstens einen Anfangsbestand zum Feuermachen hatte.
Wo sie die dazu benötigten Feuersteine finden konnte, war mir bekannt – ebenso, wo einer der Jäger einmal vor Schreck sein Messer hatte fallen lassen. Da ich es nicht selbst hatte aufheben und mitnehmen können, hatte ich den Felsen geöffnet und es darin versteckt. Hatte es sich gut erhalten – und davon ging ich aus –, würde es nützlich sein. Holen musste es die Braut allerdings selbst, genauso wie die Feuersteine. Um sie dazu zu bewegen, war es unumgänglich, in erneuten Kontakt mit ihr zu treten.
Als ich mit dieser Absicht abermals zur Höhle kam, war die junge Frau gerade dabei, das Reisig in ihre neue Behausung zu tragen. Doch unterbrach sie diese Arbeit sofort, sobald sie meiner gewahr wurde. Schon wollte sie mir danken. Dies aber verhinderte ich, indem ich ihr winkte, mir zu folgen. Zuerst führte ich sie zu dem Messer. Als der Stein sich auftat und die Waffe freigab, war die Braut höchst erstaunt. Ohne darauf einzugehen, verließ ich die Stelle unverzüglich wieder und forderte meine neue Schutzbefohlene erneut auf, mir nachzukommen. Bei den Feuersteinen angelangt begriff sie sofort und suchte sich die besten heraus. Mit ihren neuen Schätzen führte ich sie zur Höhle zurück. Doch bevor sie mir danken konnte, verschwand ich abermals schnell im Fels.
Für heute hatte die Neue Arbeit genug, und auch an Essen mangelte es ihr nicht. Trotzdem machte ich mir Sorgen. Zwar hatte der Frühling erst kürzlich sein Ende gefunden, doch waren die Sommer hier oben kurz und die Winter lang und kalt. Selbst wenn die junge Frau noch so ernste Absichten hatte, blieb sie eine entlaufene Braut. Das aber ist etwas völlig anderes als eine erfahrene Yogini. Im Gegensatz zu einer solchen würde die Neue sicherlich nicht wissen, wie man das innere Feuer entfacht. Infolgedessen würde sie wärmende Kleidung und eine Axt für Brennholz benötigen. Außerdem musste eine Nahrungsquelle aufgetan werden. Schließlich würden meine tierischen Freunde die Fremde nicht ständig mit Nahrung versorgen können. Für den Augenblick war dies lediglich möglich, weil die Tiere auf Futter verzichteten, um dem menschlichen Neuankömmling das Überleben zu sichern.