Während ich darüber nachdachte, wie die entlaufene Braut, die den Buddha dem für sie von ihrer Familie ausgesuchten Gatten vorzog, in Zukunft materiell abgesichert werden könnte, hörte ich sie plötzlich singen. Ihr spontanes Danklied an die Natur klang so wunderschön, als würde es von einer Dakini vorgetragen. In der unermesslich langen Zeit meiner Wächtertätigkeit auf diesem Berg hatte ich noch nie einen Menschen singen hören, da sämtliche Vorgängerinnen der Braut im Gegensatz zu ihr eher darum bemüht gewesen waren, Stille in sich zu erzeugen.
Der Gesang hatte eine eigenartige Wirkung auf mich: Er zeigte mir eine neue Seite der Unbekannten, die ich bisher ausschließlich als sehr willensstark, mutig und voller Tatendrang kennengelernt hatte. Ihre klare, gleichzeitig jedoch warme und kräftige Stimme offenbarte eine solche Sanftmut und Reinheit ihres inneren Menschen, dass davon eine Saite in meinem Herzen berührt wurde, die ich in meinem gesamten Dasein als Dämon nie zuvor gespürt hatte. Dadurch überkam mich plötzlich die vage Erinnerung daran, dass Vivekananda einst eine Familie gehabt hatte – Eltern, Geschwister, eine Gattin, Kinder sowie eine große Zahl näherer und entfernterer Verwandter. Damals, im Kreis meiner Lieben, war ich sehr glücklich gewesen. Und ich hatte geliebt – jeden auf eine andere Weise. Besonders innig war das Verhältnis zu meiner Gemahlin gewesen. Bei dem, was später geschehen war, schien es unglaublich: Es war ausgerechnet Vivekanandas Gutmütigkeit zu verdanken gewesen, dass sie sich in ihn verliebt hatte!
Bei dem Gedanken an meine Familie fühlte ich innerhalb kürzester Zeit einen eisigen Schatten herannahen, der sich auf mein Herz legen wollte. Meine unmittelbare Reaktion darauf bestand in Abwehr. Dessen ungeachtet beschloss ich, mich nicht abzuwenden. Was nützte es auch zu versuchen, der Erinnerung davonzulaufen? War es mir wirklich ernst damit, Frieden mit meiner Vergangenheit zu schließen, durfte ich die augenblicklich im Entstehen begriffenen inneren Bilder nicht verscheuchen. Um zu verstehen, wie aus einem allseits beliebten, einfühlsamen Klanvorsteher ein blutrünstiger Dämon hatte werden können, musste ich mich dem stellen, was bisher im Vergessenen geruht hatte.
Als ich infolge dieser Einsicht tief in mich hineinschaute, erblickte ich mich vor meinem inneren Auge plötzlich als Vivekananda: Ich saß in der Nähe unseres Hauses unter einem heiligen Baum und dachte über einen Nachbarschaftsstreit nach, um dessen Schlichtung man mich gebeten hatte. Während meine Frau am Brunnen Wasser holte, spielten die jüngeren unserer Söhne und Töchter gerade noch in Sichtweite mit einigen Nachbarskindern im hohen Gras. Da kamen Reiter herangeprescht. Es waren Soldaten der Magadha-Armee. Die Kinder hatten sie eher gesehen als wir. Sie rannten zum Haus. Doch hatten sie keine Chance: Eine ganze Armee … Mit ihren Pferden ritten sie die Kleinen einfach nieder.
Kurz darauf erreichten die Kämpfer den Brunnen. Einer schlug meine Gemahlin, dass sie zu Boden fiel. Während der Großteil weiter zum Dorf ritt, stiegen mehrere der Reiter ab und machten sich über meine Gattin her. Zwar war ich schnell aufgesprungen, um ihr zu Hilfe zu eilen. Doch hatte ich keine Waffe und sah mich gezwungen zu laufen, während die Magadhaer beritten und bis an die Zähne bewaffnet waren.
Schon von Weitem schoss mir einer einen Pfeil in den Oberschenkel, um mich am Weiterrennen zu hindern. Obwohl ich trotzdem mein Bestes gab, hatten die Soldaten mich schnell erreicht. Gegen meine Erwartung töteten sie mich nicht, sondern schleiften mich zurück zu dem Baum, unter dem ich zuvor gesessen hatte. Dort angekommen fesselten sie mich an den Stamm. Sie wollten einen Zeugen, der später von ihrer Grausamkeit berichten sollte, um auf diese Weise Kalingas Widerstand zu schwächen. Dass sie damit lediglich unsere Gegenwehr stärkten, steht auf einem anderen Blatt …
Sämtliche männlichen Bewohner außer mir wurden niedergemacht. Fast alle weiblichen, gleichgültig welchen Alters, wurden vergewaltigt – wieder und wieder. Manche starben bereits daran. Die restlichen wurden anschließend ermordet. Um mich selbst dafür zu bestrafen, dass ich verschont wurde und tatenlos dasaß, während alle anderen auf grausamste Weise ihr Leben lassen mussten, schaute und hörte ich die ganze Zeit über genau hin.
Als schließlich kein einziger der Dorfbewohner außer mir noch am Leben war, zündeten die Magadhaer unsere Häuser an und bestiegen ihre Pferde. Bevor sie wegritten, schnitten sie mir die Fesseln durch und forderten mich höhnisch lachend auf, meinen Landsleuten mitzuteilen, dass es uns Kalingas ohne Ausnahme in der Weise ergehen würde wie soeben demonstriert, sollten wir uns nicht freiwillig unterwerfen.
Wie lange ich einfach so an den Baum gelehnt saß, unfähig zu denken, mich zu bewegen oder auch nur einen Laut von mir zu geben, ist schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass der, der sich schließlich humpelnd ins Nachbardorf aufmachte, nicht mehr der Mann von früher war. Name, Weisheit, Sanftmut – all das war dem neuen Vivekananda vollkommen gleichgültig. Er hatte nur noch ein Ziel: den Dämon aus Magadha aufzuhalten – koste es, was es wolle. Zu diesem Zweck trat er der Kalinga-Armee bei und übte sich wie ein Besessener im Kampf.
An dieser Stelle wandte ich mich von den inneren Bildern ab. Der Rest war mir bekannt. Es drängte mich, den Felsen zu verlassen, um meinen Blick in die Weite schweifen zu lassen. Allerdings zwang mich draußen auf dem Weg zur Höhle nicht weit von deren Eingang unerwartet ein heftiges Schwindelgefühl in die imaginären Knie meines Scheinkörpers. Gleich darauf hörte ich auf einmal ein herzzerreißendes Schluchzen, das wiederholt von langgezogenen, an eine Wehklage erinnernden Lauten unterbrochen wurde. Während ich überrascht lauschte, wurden die Geräusche unverhofft lauter – so, als kämen sie auf mich zu. Infolgedessen schaute ich hoch, in Richtung Höhleneingang. Da erblickte ich mitten auf dem zu mir führenden Weg die Braut, die nun stehenblieb und mich mit verweinten Augen anstarrte.
Obwohl ich mich schämte, als ihr Beschützer hilflos vor ihr auf dem Weg zu kauern, war ich weder in der Lage, mich zu erheben noch die Augen von ihr abzuwenden. Was war geschehen? Weshalb weinte sie?
»Vivekananda«, sagte sie, offenkundig darum bemüht, Trost in ihre Stimme zu geben.
Ich war ebenso schockiert wie verwirrt. Wie konnte sie diesen Namen kennen?
»Vivekananda, ich … Ich habe alles gesehen.« Sich sichtlich zusammenreißend fuhr sie fort: »Ich meine den Überfall auf Euer Dorf.«
Sie war hellsichtig! Daran konnte kein Zweifel bestehen. Zwar vermochte sie nicht wie Guru Rinpotche, meine Gedanken zu hören. Doch war sie offenbar fähig, die Bilder meiner Erinnerung zu sehen, auch wenn ich nicht verstand, wie genau das möglich sein sollte. Gab es etwa eine karmische Verbindung zwischen uns?
Die Braut riss mich aus meinen Gedanken:
»Es tut mir so leid. Ich würde Euch gerne trösten, doch weiß ich nicht, wie.«
Da war auch ich überfragt. Es wäre schön gewesen, von jemandem in den Arm genommen zu werden – insbesondere von ihr. Dabei fand ich ihr Äußeres eigentlich weder besonders hübsch noch hässlich. Was sie für mich attraktiv machte, war ihre außerordentliche innere Schönheit. Das war mir vorhin durch ihren Gesang klar geworden … Ihr Gesang! Wäre ich doch bloß in der Lage, ihr zu übermitteln, wie herzerwärmend es war, ihre Stimme zu hören!
Da die junge Frau mich erwartungsvoll anschaute, konzentrierte ich mich, um einen leisen Wind durch einige Felsritzen pfeifen zu lassen. Etwas Gesang Näherkommendes zu fabrizieren, war mir als Dämon leider nicht möglich. Sobald der Wind wieder abgeklungen war, machte ich eine auffordernde Geste. Daraufhin bedachte die Braut mich mit einem verständnislosen Blick und wartete auf eine bessere Erklärung. Um mein Ansinnen deutlicher zu machen, zeigte ich beim zweiten Versuch im Felsritzensingen zunächst auf meine Ohren und anschließend auf sie.
»Möchtet Ihr etwa, dass ich singe?«, fragte sie nach einigem Überlegen unsicher.
Als ich auf diese Frage bejahend nickte, hockte sie sich neben mich an die Felswand und begann kaum hörbar, ihre Gefühle in wortlose Musik zu kleiden. Was sie sang, klang vollkommen anders als ihr Danklied an die Natur. Traurig und klagend gab sie genau den Emotionen Gestalt, die ich damals unter dem Baum in dem Glauben, sie nicht ertragen zu können, tief und unzugänglich in meinem Herzen begraben hatte. Doch obwohl es sich bei ihrem Lied um eine Wehklage handelte, war es wohlklingend und voller Herzenswärme, da es neben dem Echo des von mir empfundenen Entsetzens gleichzeitig eine Vertonung der gelungenen Überwindung wie Verwandlung der damaligen Schrecken beinhaltete.
Die Liebe, mit der die Braut sang, verscheuchte die Bilder des Grauens aus meinem Bewusstsein und löste so allmählich den sich in meinem Herzen befindenden unerträglichen Knoten, den ich dort erst jetzt richtig wahrnahm. Um keinen Schaden anzurichten, gab ich mir Mühe, dem Gesang zu folgen und meine Gefühle zu verwandeln. Diesmal gelang es mir, meine Tränen statt in überfließenden Bergseen und zu reißenden Strömen anschwellenden Gebirgsbächlein in einem sanften, warmen Nieselregen auszudrücken.
Die junge Frau verstand mich. Weitersingend hob sie die Hände wie Schalen und empfing so das feuchte Nass, als sei es ein Segen. Dabei verwandelte sich ihre Musik: Immer weniger traurig werdend mündete sie zum Schluss in das bereits zuvor vernommene Danklied.
Das Wetter spiegelte diese Gefühle wider, vollzog sich dieser das Lied begleitende Wandel doch auch in meinem Herzen: Zunächst hörte es auf zu regnen. Anschließend verschwanden nach und nach die Wolken. Und zu guter Letzt schien die Abendsonne, wenn auch schon ein wenig schwach, so doch strahlend vom Himmel. Da beendete die Braut ihren Gesang.
Von dessen heilender Wirkung ergriffen erhob ich mich, drückte mit einer knappen Verbeugung meinen Dank aus und signalisierte der Sängerin anschließend, dass es Zeit für sie sei zu essen und zu schlafen. Obwohl sie hier eigentlich zur Ruhe kommen sollte, hatte sie einen langen und bewegten Tag hinter sich. Da stand sie ebenfalls auf. Bevor sie zurück zur Höhle ging, verabschiedeten wir uns durch ein Händezusammenlegen vor der Brust und ein diese Geste begleitendes leichtes Senken des Kopfs voneinander.