Das Überleben sichern

Nach dem ereignisreichen Tag, an dem die offenbar hellsichtige Braut meine Vision vom Überfall auf Vivekanandas Dorf miterlebt und mich anschließend durch ein spontan improvisiertes Lied getröstet hatte, war ich nun zum ersten Mal wieder mit mir allein. Um die Geschehnisse für mich zu verarbeiten, setzte ich mich ein weiteres Mal an die Felswand. Während das soeben für mich gesungene Trostlied noch immer in mir nachklang, betrachtete ich die sich zügig am klaren Himmel über mir ausbreitende Dunkelheit und die darin immer deutlicher aufleuchtenden Sterne. Dabei stellte sich nach und nach das Gefühl ein, auch in mir habe sich etwas geklärt.

Allerdings vermochte ich nicht recht zu sagen, um was genau es sich dabei handelte. Es ging definitiv um etwas, das lange in mir verschüttet gewesen und soeben erst wiedererweckt worden war – und zwar durch das Lied dieser Heranwachsenden, von der ich, wie bei meinen Schutzbefohlenen üblich, nicht einmal den Namen kannte. Etwas Schlechtes schien es jedenfalls nicht zu sein, obgleich es mit schlimmen Erinnerungen einhergegangen war. Im Gegenteil: Ich hatte den Eindruck, dass dem, was da heute zu neuem Leben gefunden hatte, große Heilkraft innewohne.

Lange forschte ich in mir nach diesem bisher so sorgfältig Verdrängten – bis mir mit einem Mal einfiel, dass die erste von dem Gesang hervorgerufene Assoziation die gewesen war, dass ich einmal eine Familie gehabt hatte. Da waren Menschen gewesen, die von mir über alles geliebt worden waren, Menschen, mit denen ich sämtliche Facetten meines Lebens geteilt hatte – und die meine Liebe erwidert hatten.

Da endlich begriff ich, was mit mir los war: Ich hatte mich verliebt. Ich, der uralte Dämon, hatte mein Herz an die Braut eines jungen Manns verloren, dem die ihm Versprochene die Lehren Buddhas vorzog. Das war lächerlich! Diese Liebe hatte nicht die geringste Chance auf Erfüllung. Ich vermochte der jungen Frau nicht zu geben, wonach sie suchte. Nichts konnte ich ihr geben – gar nichts. Padmasambhava selbst hatte mich darauf hingewiesen: Meine Stimme würde unausgesetzt Zorn ausdrücken, was auch immer ich zu sagen beabsichtigte, genauso wie meine Gesichtszüge und meine Augen niemals etwas anderes zeigten als überschäumende Wut. Vom »Himmelhochjauchzend« war ich soeben ins »Zu Tode betrübt« gefallen.

»Für einen über dermaßen viel Kraft verfügenden Dämon hast du erstaunlich wenig Selbstvertrauen«, klang da auf einmal die Stimme meines ersten Lehrers in meinem Kopf. Mit dieser Einschätzung konfrontiert fragte ich mich, was ein Dämon mit mehr Selbstvertrauen wohl denken würde. Möglicherweise:

»Macht nichts. Märchen können wahr werden. Die junge Frau wird sich in den widerlichen Bluttrinker verlieben. Das steht außer Frage.«

Dieser Gedanke war schlichtweg töricht. Infolge dieser Einsicht schüttelte mich plötzlich ein solches Lachen, dass die Sterne am Himmel zu tanzen begannen. – O weh! Bei dem, was da in Bewegung geraten war, handelte es sich gar nicht um die Sterne, sondern um die Erde. Sie hatte ich zum Tanzen gebracht oder besser gesagt: zum Schwingen. Glücklicherweise hatte es sich dabei um eine sehr sachte Bewegung gehandelt, sodass keine Schäden entstanden waren. Darüber empfand ich große Erleichterung. Gleichzeitig war ich bass erstaunt: Ich hatte allen Ernstes gelacht! Das hatte ich in meiner gesamten Existenz als Dämon noch nie getan. Offensichtlich tat das Verliebtsein mir gut. War es da wichtig, ob es das geben konnte, was Menschen sich unter einer erfüllten Beziehung vorstellen?

Nachdem ich mich versichert hatte, dass meine Braut, wie ich die junge Frau von nun an im Stillen nannte, von den leichten Erdstößen nicht geweckt worden war und gut schlief, schwelgte ich noch einige Zeit in der Erinnerung daran, dass sie für mich gesungen hatte. So gut sich das anfühlte, war es angesichts der prekären Lage, in der sie sich befand, auch ein Stück weit egoistisch von mir. Daher riss ich mich nach einiger Zeit zusammen, um meine Gedanken endlich wieder auf die Lösung der Frage zu lenken, wie sie hier oben ohne Hilfe und entsprechende Ausrüstung überleben sollte. Auf die Unterstützung anderer Menschen war dabei nicht zu zählen. Doch auch all meine Freunde aus der Natur und ich vermochten meiner Braut weder Werkzeug noch Proviant oder Kleidung zu beschaffen. Diese Dinge ließen sich nicht aus dem Nichts herbeizuzaubern.

Entsprechend ratlos war ich. Zum ersten Mal, seit Padma­sam­bhava den Berg verlassen hatte, fiel mir selbst nach längerem Überlegen keine Lösung für ein Problem ein. Daher bat ich den weisen Yogi um Hilfe. Angesichts der Tatsache, dass der bereits seit einigen Jahrhunderten tot war, mag das absonderlich klingen. Doch tat mein zweiter Lehrer, Düssum Tjenpa, das immerhin auch. Und im Gegensatz zu mir kannte der Guru Rinpotche ausschließlich aus Visionen.

Um mit Padmasambhava in Kontakt zu treten, stellte ich mir vor, er säße an seiner Lieblingsstelle, die auch die meine geworden war, und schaue ins Tal. Vor diesem in meiner Vorstellung sehr lebendigen Bild fiel ich nieder und bat demütig um Hilfe, damit die junge Frau, die wirklich etwas Besonderes zu sein schien, nicht hier oben würde umkommen müssen – oder zu den Menschen zurückzukehren hätte, bei denen sie zumindest für eine gute Weile keine Zukunft mehr haben dürfte.

Da erschien vor meinem inneren Auge auf einmal das Bild einer Nonne. Sie war eine der letzten gewesen, die hier oben auf dem Berg gelebt hatten. Die Erscheinung fragte mich:

»Erinnerst du dich, Tschatų-laq? Ich habe damals geahnt, was du nicht wissen konntest: Dass eine Zeit kommen würde, in der die Höhle leer bleiben und verrotten würde. Für mich ist von meinen Schwestern und der Äbtissin stets gut gesorgt worden – schon fast zu gut für jemanden, der sich in Verzicht üben will, weißt du noch?

Du hast damals sicher nicht verstanden, warum ich all diese profanen Dinge versteckt habe, obwohl du mich vor Räubern, Dieben und wilden Tieren beschützt hast. Ich aber habe an die Zukunft gedacht, an den Notfall, der immer einmal eintreten kann, gleichgültig, wie gut du über uns wachst. Erinnere dich, Tschatų-laq!«

Mit diesen Worten löste sich das Gesicht auf. Es stimmte, ich hatte mir das Verhalten der Nonne damals tatsächlich nicht erklären können. Wie ein Eichhörnchen hatte sie Verstecke angelegt. Doch hatte sie dort keine philosophischen Texte oder Ritualgegenstände vergraben, wie das manch Weiser tut, damit sie in einer Zukunft gefunden werden, in der die Menschheit ihrer bedarf. Stattdessen hatte sie Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel gebunkert. Damals hatte ich gedacht, die Nonne sei nicht ganz richtig im Kopf. Jetzt tat ich ihr Abbitte. Sie hatte eine Situation wie die gegenwärtige vorhergesehen und dafür vorgesorgt. Nun lag es an mir: Bis zum Morgen hatte ich Zeit, mir alle Verstecke ins Gedächtnis zu rufen sowie einen Plan auszuarbeiten, wie die Schätze am besten zu heben waren.

Glücklicherweise verfügte meine Braut nicht über die Disziplin und Routine langjährig Übender, von denen die meisten bereits lange vor Morgengrauen aktiv sind. Von den Strapazen der vorangegangenen Wochen und vor allem des Vortags erschöpft schlief sie bis nach Sonnenaufgang. Als sie zur Quelle kam, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen, wartete ich dort längst auf sie. Obwohl sie über meine Anwesenheit ein wenig erstaunt zu sein schien, beschränkte sie ihre Körperpflege auf das Allernotwendigste, um im Anschluss daran sogleich meiner Aufforderung nachzukommen, mich zu begleiten.

Als Erstes führte ich sie zu einer Geröllhalde, in der eine kleine Handschaufel verborgen lag. Die würde sie an einigen der nächsten Stationen zum Graben benötigen. Wie staunte sie, als sie das wertvolle Werkzeug mit den Händen freilegte! Im Anschluss daran besorgten wir noch eine Axt und einige ge­trocknete Lebensmittel. Damit verfügte die junge Frau zumindest über das Allernötigste. Für den ersten Tag war das meiner Meinung nach genug. Schließlich hatten wir Zeit.

Nach dem Fund der Handschaufel hatte die Braut lange mit ernstem Blick darauf geschaut. Auf dem Weg zum nächsten Versteck spürte ich ihr nachdenkliches Schweigen. Beim Anblick der Lebensmittelreserven aber brach sie vor Dankbarkeit in Tränen aus. Davon fühlte ich mich zwar berührt, wusste jedoch nicht, wie ich mich verhalten sollte. Am Tag zuvor hatte meine Braut mich mit ihrem Gesang getröstet. Wenn ich doch bloß auch singen könnte!

Um mich in dieser Art des Trostspendens wenigstens einmal zu versuchen, ließ ich einen leisen Wind durch den schmalen Eingang zu der kleinen Höhle hereinwehen, die als Vorratsspeicher für die getrockneten Nahrungsmittel gedient hatte. Mit dem hohlen Felsen als Klangkörper hörte sich das dadurch erzeugte Geräusch gar nicht so schlecht an. Nun ja, nicht unbedingt wie ein Lied, aber wenigstens auch nicht so kreischend wie die Töne am Vortag. Versucht ein Dämon sich im Singen, darf es nicht verwundern, wenn sein »Gesang« selbst auch ein wenig dämonisch klingt. Meine Schutzbefohlene verstand jedenfalls meine Absicht und lachte daher durch ihre Tränen hindurch auf. Über meine Unfähigkeit zu künstlerischem Ausdruck mit den Schultern zuckend verließ ich daraufhin innerlich schmunzelnd die Höhle. Schwer beladen folgte mir die angehende Yogini.