Pema

Sobald die entlaufene Braut und ich von unserem ersten ihrer Existenzsicherung dienenden »Beutezug« zur neuen Behausung der jungen Frau zurückgekehrt waren, wollte ich mich von ihr verabschieden. Doch kam ich nicht dazu, da sie mich mit einer unerwarteten Frage zurückhielt:

»Vivekananda-laq, Tschatų-laq – wie soll ich Euch nennen?«

Was sollte ich darauf antworten? Mit Vivekananda identifizierte ich mich bereits seit Ewigkeiten nicht mehr. Doch war ich eigentlich auch kein Bluttrinker: Einerseits hatte ich mittlerweile den das Blut seiner Feinde trinkenden Dämon glücklich hinter mir gelassen. Andererseits lag, die zornvolle Version eines Buddhas zu sein, für mich nach wie vor in weiter Ferne. Infolge dieser Überlegung schüttelte ich verneinend den Kopf.

»Nicht Tschatų-laq?«

Zur Bestätigung wiederholte ich das Kopfschütteln.

»Also Vivekananda-laq?«

Abermals verneinte ich durch heftige Kopfbewegungen. Darauf entgegnete meine Braut:

»Beides nicht? Aber ich muss Euch doch irgendwie ansprechen! Nun, wie soll ich Euch nennen?«

Gute Frage. Es war mir schlichtweg unmöglich, »Tamdin« durch Gesten zu erklären. Trotz des mir von Düssum Tjenpa verliehenen Namens musste ich es daher wohl oder übel bei »Berggeist« belassen. Das war einfacher in Gesten umzusetzen. Um mich möglichst unkompliziert auszudrücken, zeigte ich zunächst auf den Berg und anschließend auf meinen Dämonenkörper. Doch hatte diese Erklärung nicht die gewünschte Wirkung.

»Ich verstehe Euch leider nicht«, entgegnete die junge Frau betrübt. Doch hellten ihre Gesichtszüge sich schnell wieder auf:

»Aber ich habe eine Idee! Wenn Ihr es erlaubt, werde ich Euch ›Lama-laq‹ nennen. Ich hatte Euch ohnehin bitten wollen, Eure Schülerin sein zu dürfen.«

Schülerin? Wie sollte ich ihr denn ein Lehrer sein? Nein, das war unmöglich. Ich … Ich musste weg!

Ohne Antwort zu geben, verschwand ich, so schnell ich konnte, im Fels. Hier war ich fürs Erste sicher. Was nur hatte sie sich dabei gedacht? Dass man automatisch erwacht ist, bloß weil man jahrhundertelang der Rezitation von heiligen Texten zugehört hat? Weil man anderen beim Meditieren zugeschaut hat? Mit Padmasambhava gesprochen hat? Düssum Tjenpa und sonstige hochrealisierte Wesen getroffen hat? Ich war kein Erwachter, kein Mahasiddha, nicht einmal ein Mensch! War es bei meiner Gestalt nicht eindeutig, dass sie einen Dämon vor sich hatte? Was soll man von einem solchen Wesen wohl lernen können, um Buddhaschaft zu erlangen? Von mir, der in seinem letzten Leben als Mensch wahrlich alles falsch gemacht hatte! Und der, wenn man sich Vivekanandas Karma anschaute, in den Existenzen davor vermutlich auch nicht unbedingt ein frommer Mönch gewesen war!

Ein ungewohntes Geräusch riss mich aus meinen Betrachtungen. Es klang seltsam, wie ein unterdrücktes Rauschen. Erst nach kurzem Überlegen begriff ich, worum es sich dabei handelte: Meine Braut weinte – nur sehr leise zwar, für mich jedoch trotzdem hörbar. Von ihren Vorgängerinnen hatte das nie eine getan. An derartig viele Gefühlsausbrüche war ich nicht gewöhnt. Daher wusste ich nicht recht, wie ich damit umgehen sollte. Das hier war etwas anderes als das Weinen in der Höhle mit den Lebensmitteln. So viel verstand ich durchaus – und auch, dass ich für diese Tränen verantwortlich war. Durch mein Verhalten hatte ich die meinem Schutz Anvertraute gekränkt.

Was sollte ich nur tun – jetzt und überhaupt? Selbst wenn meine Kenntnis des Pfads zur Befreiung aus dem Kreislauf leidvoller Wiedergeburten ausgereicht hätte, meine Braut zu unterrichten – wie hätte ich das machen sollen? Ohne irgendwelche mir gegebenen Mittel zur Kommunikation außer Gesten und Naturereignissen hatte ich ihr soeben nicht einmal meinen Namen mitzuteilen vermocht!

Dieses Problem ließ sich im Augenblick leider nicht lösen. Daher galt es erst einmal, Trost zu spenden. Zu diesem Zweck verließ ich den Felsen und begab mich zum Höhleneingang. Um die junge Frau nicht zu erschrecken, bewegte ich die Kiesel vor dem Eingang, damit sie ein dem Klang der Schritte eines Menschen gleichendes Geräusch erzeugten. Der Erfolg war allerdings ein anderer als erhofft: Als ich die Höhle betrat, stand meine Braut mit der Axt in ihren erhobenen Händen in einer Ecke und schaute mit verweinten Augen drohend in meine Richtung. Offensichtlich hatte sie mich für einen ihrer Verfolger oder ein bedrohliches wildes Tier gehalten. Als sie stattdessen nun mich sah, errötete sie, ließ das Beil sinken und sagte:

»Ach, Ihr seid es. Entschuldigt. Ich …«

Mir den Zeigefinger meiner Rechten an die Lippen legend unterbrach ich sie, während ich sie gleichzeitig mit der anderen Hand aufforderte, die Höhle zu verlassen. Da stellte sie das Beil in die Ecke und wartete darauf, dass ich voranschritt. Das aber wollte ich nicht. Ein Stück zur Seite tretend forderte ich sie daher abermals zum Hinausgehen auf.

Diesmal leistete sie meiner Aufforderung zwar Folge, blieb vor Überraschung allerdings sogleich im Höhleneingang stehen: Direkt vor ihr erblühte eine neue Blumenwiese in bunter Pracht, eindrucksvoll von der am wolkenlosen Himmel prangenden Sonne in Szene gesetzt. Auf Bäumen, Büschen und Steinen saßen rundherum unzählige Singvögel, die in munteres Gezwitscher ausbrachen, sobald sie die junge Frau erblickten.

Gerührt schlug meine Braut die Hände zusammen. Nachdem sie eine Weile gelauscht hatte, lief sie in die Höhle und kam mit einer Hand voll Getreidekörnern zurück, die sie gut gelaunt in der Gegend verstreute. Die Vögel ließen sich nicht lange bitten und beendeten ihr Ständchen, um die wohlverdiente Belohnung zu genießen. Derweil bedankte ich mich bei meinen gefiederten Freunden, aber auch beim Gras, den Blumen und der Sonne für ihre Unterstützung.

»Es tut mir leid, dass ich so begriffsstutzig bin«, wandte die Braut sich da an mich. »Es war nicht meine Absicht, in Eure Geheimnisse zu dringen. Nicht aus Neugier habe ich mich nach Eurem Namen erkundigt. Für jemanden wie mich ist es einfach leichter, eine Beziehung aufzubauen, wenn ich den anderen anreden kann. Dabei habe ich es leider vollkommen versäumt, mich selbst vorzustellen. Bitte verzeiht.

Also, ich heiße Daqpo Pema, bin die Tochter eines wohlhabenden Händlers, sechzehn Jahre alt und nicht gewillt, den von meinen Eltern für mich ausgesuchten Mann zu heiraten – nicht, weil ich etwas gegen ihn hätte, sondern weil ich mich zum Leben einer Yogini berufen fühle. Meine Eltern aber sind dagegen, weil sie sich durch meine Heirat eine enge Verbindung zu einer der bedeutendsten Händlerdynastien unserer Gegend erhofft hatten. Durch meine Weigerung habe ich ihnen das Geschäft ihres Lebens verdorben. Daher werden sie nicht gut auf mich zu sprechen sein … Ihr vermutlich auch nicht.

Bitte vergebt mir meine Übereilung. Sie ist in der Tiefe meines Wunschs nach einem Lehrer zu suchen. Das bitte ich Euch zu verstehen. Gleich von Beginn an seid Ihr so überaus gütig zu mir gewesen. Das hat Euch mein Herz gewonnen. Nur deshalb habe ich gesprochen, ohne vorher zu überlegen. Euer Verschwinden hat mich jedoch zum Nachdenken veranlasst. Ihr seid ein Schützer der Lehre. Da könnt Ihr nicht gleichzeitig auch ihr Übermittler sein, oder?«

Obwohl dies nicht unbedingt den Tatsachen entsprach, kann ein Dharmapala seine Schutzfunktion doch manchmal lediglich dadurch ausüben, dass er den Dharma durch eigene Belehrungen vor Fehlinterpretationen bewahrt, war ich froh über diesen Sinneswandel. Im Gegensatz zur Theorie sah ich mich schließlich bei Weitem nicht dazu in der Lage, ein Übermittler der Lehre zu sein. Um Pema dies zu verdeutlichen, schüttelte ich den Kopf.

Von meiner vermutlich zwar erwarteten Reaktion trotzdem enttäuscht, murmelte meine Braut:

»Verstehe … Schade.«

Anschließend schaute sie betreten, nicht recht mit der Sprache herauswollend zu Boden. Nach einer Weile aber rang sie sich doch noch dazu durch, mir eine weitere Frage zu stellen:

»Würdet Ihr mir die große Gunst erweisen und Euch ›Tchöö­tjong‹ von mir nennen lassen?«

»Schützer der Lehre« konnte ich mir gefallen lassen. Folglich nickte ich bejahend.

Da jubelte sie auf und stürzte auf mich zu, als wolle sie mich umarmen. Grollend nahm ich Abwehrhaltung an und wich einen Schritt zurück. Während meine Haare sich aufrichteten, sodass sie noch stärker als sonst in alle Richtungen von meinem Kopf abstanden, zogen am Himmel Gewitterwolken auf. Darüber zutiefst erschrocken hielt Pema inne:

»Verzeiht. Ich wollte nicht …«

Kaum zuckten die ersten Blitze vom Himmel, als der ungestümen Heranwachsenden auch schon die Stimme versagte. Sie tat mir leid. Immerhin schien sie mich wirklich gernzuhaben. Doch war sie kurz davor gewesen, die Grenze respektvollen Anstands zu übertreten und mir zu nahe zu kommen. Außerdem durfte sie nicht wissen, dass es sich bei meinem Körper lediglich um eine Sinnestäuschung handelte. Hätte sie dies durchschaut, hätte sie mir gegenüber vermutlich das letzte bisschen Respekt verloren. Große Achtung schien sie für ihren Beschützer ohnehin nicht zu hegen. War ich in ihrem Fall etwa ausnahmsweise zu nett gewesen?

Noch immer stand Pema wie angewurzelt an derselben Stelle. Tränen traten ihr in die Augen. Schon wieder! Worauf hatte ich mich mit dieser Frau bloß eingelassen?

Da nahm meine Braut sich ein Herz und bat mit zitternder Stimme:

»Bitte nicht die schönen Blumen zerhageln. Die können doch nichts dafür, dass ich so …«

Sie bat nicht für sich, sondern für die zarten Blumen – mein Geschenk. Außerdem hatte sie sich vorhin bei mir entschuldigt, als ich fühlte, dass es an mir sei, um Verzeihung zu bitten. Das rührte mich. Am liebsten hätte ich Pema liebevoll an meine Brust gedrückt. Über die Unmöglichkeit der Erfüllung meines Begehrens aufs Tiefste frustriert, schickte ich die Frau, in die ich mich verliebt hatte, unter Blitz und Donner in ihre Höhle. Den aus meinen Tränen gefertigten Hagel schleuderte ich ihr anschließend konzentriert in den Eingang, sodass dort ein kleiner Berg entstand, als hätte Druq, der Donnerdrache Wunschjuwelen aufgestapelt.

Mit meinem Auftritt zufrieden, verließ ich den Kampfplatz. Es war an der Zeit gewesen, dass Pema meine dämonische Seite wenigstens einmal annähernd kennenlernte. Sie war nicht dumm und konnte sich hoffentlich denken, dass ich noch ganz anders konnte, wenn ich richtig wütend war.

Ein liebestoller Dämon und ein hochemotionaler Wildfang, der auch ohne Lehrer unbedingt Yogini werden wollte – wo sollte das hinführen? Ich benötigte ein wenig Ruhe, um mein Gleichgewicht wiederzufinden und um nachdenken zu können. Daher zog ich mich tief in den Berg zurück. Je weniger Eindrücke, desto besser.

Fürs Erste galt es, die äußeren Umstände für Pemas Überleben zu schaffen. Ein Anfang dazu war bereits gemacht. Nach dem heutigen Tag war meine Vorfreude auf gemeinsame Ausflüge zu den Stellen, an denen die Nonne einst Überlebenswichtiges verborgen hatte, allerdings etwas getrübt. Wer weiß, was mich von Seiten meiner Braut noch alles erwartete? Nach hunderten von Jahren, in denen ich mehr oder minder Abstand zu meinen Schützlingen gewahrt hatte, war dies der erste Mensch, der eine Beziehung zu mir suchte – ein Verhältnis, das darüber hinausging, vor meinem Bildnis zu beten und mir respektvoll von ferne zu danken.

Gleich am ersten Tag hatte Pema Dinge über mich erfahren, die nicht nur äußerst persönlich, sondern zuvor nicht einmal mir selbst bewusst gewesen waren. Dadurch war ich ihr auf eine Weise nahegekommen, wie ich es bisher mit keinem anderen Menschen erlebt hatte. Seltsamerweise erweckte sie den Eindruck, als sei ihr die Nähe zu einem Dämon nicht unangenehm. Sie schien sie sogar aktiv zu suchen – sonst wäre es ihr nicht wichtig gewesen, dass wir gegenseitig unsere Namen kannten und ich wenigstens grob über ihre familiäre Situation im Bilde war.

Pema, die Lotosblume – sie war weder Nonne noch Yogini, doch die Erste meiner Schutzbefohlenen, die sich mir vorgestellt hatte. Außerdem schien sie zu ahnen, dass der verblendete Umgang mit großem Leid mich zu dem gemacht hatte, der ich heute war. Damit hatte sie etwas Menschliches in mir entdeckt. Obschon die menschlichen Schwächen aus meinem vergangenen Dasein als Vivekananda an sich nichts Nachahmenswertes darstellten, entdämonisierten sie den Dämon für sie vermutlich ein Stück weit. Doch hatte sie Recht? Gab es auch nach der langen Zeit auf dem heiligen Berg neben meinem Dämonentum weiterhin Menschliches in mir?