Die menschliche Seite

Nach meinem Tod als Vivekananda hatte ich vor lauter Wut wahre Ewigkeiten lang geglaubt, selbst ohne Körper auf unerklärliche Art noch immer dieser Mann zu sein. Infolge dieser Selbsttäuschung hatte ich nach der durch Padmasambhava vermittelten Erkenntnis, als Berggeist wiedergeboren zu sein, nie wieder darüber nachgedacht, ob dies notwendigerweise ausschloss, dass es trotzdem auch Menschliches in mir gab. Dachte und fühlte ich nicht nach wie vor wie ein Mensch? Wie hätte ich mich sonst für ein Kontinuum Vivekanandas gehalten haben können?

Nein, das war kein gutes Argument. Zwar führte ich ohne jeden Zweifel etwas aus dem Leben Vivekanandas fort. Doch handelte es sich dabei lediglich um sein Kar­ma – seine sich über viele Existenzen in den unterschiedlichsten Formen erstreckende Geschichte –, nicht eine irgendwie geartete Fortsetzung seines Geistes oder Körpers. In diesem Dasein war ich ein Dämon und damit anders als meine menschliche Vorexistenz. Doch – war ich wirklich dermaßen anders? Hatte ich mich in meinem letzten Leben als Mensch nicht bereits durch meine Absichten wie mein Tun vollkommen entmenschlicht, obwohl mein Körper der eines Menschen geblieben war? Als Dämon in Menschengestalt hatte ich zweifelsohne mehr Schaden angerichtet denn als Berggeist!

Mir schwirrte der Kopf. Wo endete der Mensch, wo begann der Dämon? War es möglich, dass es in beiden Existenzformen so etwas wie geistige Überlappungen gibt? Ist es eventuell die Aufgabe eines jeden Menschen, den Dämon in sich möglichst kleinzuhalten, wie es die Berufung eines jeden Dämons ist, den Menschen in sich so gut wie möglich zu hegen und zu pflegen? War es nicht das, was ich tat, wenn ich meinen Schützlingen zuhörte und mit ihnen meditierte: den menschlichen Geist in mir schulen?

Dadurch, dass ich mir diese Frage stellte, wurde mir erst bewusst, worin der mir von Padmasambhava aufgezeigte Weg eigentlich bestand: Ich sollte das in mir wie in jeder Kreatur vorhandene Etwas, das ich »das Göttliche« genannt hatte, mit der Zeit zu einer immer besseren Wirkung kommen lassen, indem ich meine Schwächen durch die Stärkung der von Menschen und bisher auch mir selbst als menschlich angesehenen Fähigkeit in den Griff bekam, mich dem Göttlichen willentlich und aktiv zu öffnen.

Vivekananda hatte dies nicht vermocht. Von seinem Schmerz und Hass hatte er sich eine Abwärtsspirale aus negativen Gefühlen und Gedanken hinabreißen lassen – dermaßen weit, dass er die menschliche Fähigkeit zum Guten letztendlich vollkommen in sich abgetötet hatte. Erst jetzt begriff ich, was das Dämonische in ihm ausgemacht hatte: Negativität in absoluter Ausprägung. In der Entscheidungsschlacht um Kalinga hatte Vivekananda endgültig das letzte bisschen Glauben an das Gute verloren. Er hatte sein Herz vollkommen verhärtet, sich vollständig dem Hass und Tod hingegeben. Ja, er hatte Leben in Tod verwandelt – doch nicht nur bei den von ihm erschlagenen Feinden. Sich seinen negativen Gefühlen und Gedanken vollkommen überlassend hatte er bereits, bevor er zum Bluttrinker geworden war, innerlich Selbstmord begangen. Darin bestand die von Düssum Tjenpa in seiner Belehrung erwähnte Hölle.

Das damalige verblendete Handeln war erst dadurch ermöglicht worden, dass Vivekananda sich einerseits gänzlich mit der Rolle des Opfers identifiziert hatte, andererseits aber das von ihm erfahrene Martyrium für sein Leben nicht akzeptiert hatte. Seinen Widerstand gegen das Leid selbst hatte er daher auf diejenigen übertragen, bei denen er die Schuld dafür gesucht hatte. Nicht fähig, seine zweifelsohne immense Pein anzunehmen, hatte er stattdessen Ankläger und Richter in einem sein wollen – ohne Mitleid oder Gnade.

Wie tief sein Schmerz ging, wie unsäglich er gelitten hatte, war bereits daran zu erkennen, dass ich die grausame Ermordung meiner Liebsten so lange vor mir selbst verborgen hatte, bis die erwachende Liebe zu Pema mich daran erinnert hatte. Ohne es recht wahrhaben zu wollen, litt ich noch immer so sehr, dass ich über die wahre Natur meines Dämonentums nur nachzudenken vermochte, indem ich Vivekananda in meiner Gedankenrede zur dritten Person machte.

Doch obwohl der kalingische Hauptmann den Tod gefunden hatte, war seine Existenz trotzdem nicht endgültig beendet. Sie hatte lediglich eine andere Form angenommen: die des Berggeists – meine. Ungeachtet dessen, dass ich längst aufgehört hatte, Vivekananda bzw. Simha zu sein, waren seine Gedanken und Gefühle nicht vergangen: Seit der Vision von den Geschehnissen im Heimatdorf dieses Mannes, die ich erlebt hatte, als sei ich er und machte gegenwärtig durch, was doch eigentlich bloß eine Erinnerung war, hatte sich etwas in meinem Bewusstsein verschoben. Dies äußerte sich darin, dass in den Momenten, in denen ich das Aufkommen von Eindrücken aus meinem früheren Leben zuließ, das Bewusstsein des zum Schlächter mutierten Klanführers wie zuvor in der Vision auf mir unerklärliche Weise mein eigenes zu sein schien. Und sogar, wenn ich mich anschließend auf mich – den Berggeist – besann, war es mir, als gebe es neben dem Bewusstsein meiner selbst als Dämon in mir zusätzlich ein Echo des Bewusstseins dieses bereits vor Ewigkeiten Gefallenen.

Möglicherweise verhielt sich das so, weil ich trotz besseren Wissens emotional weiterhin vor mir verleugnete, weshalb ich nach dem Tod des Hauptmanns als Dämon in einer kalten Hölle wiedergeboren war. So schmerzhaft es für mich auch war, musste ich, um mich von Simha zu befreien, endlich die Tatsache liebend anzunehmen versuchen, die mich lange schlimme Qualen in meiner Hölle hatte leiden lassen: Als Vivekananda war ich selbst es gewesen, der das Menschsein in mir ermordet hatte. Ich hatte mich zum Dämon gemacht, nicht irgendwelche Umstände. Ebenso war es allerdings an der Zeit, neben der schrecklichen Seite dieser Erkenntnis auch endlich deren gute anzuerkennen: War ich bereits als Mensch zu solch extremen Schritten fähig gewesen, vermochte ich als echter Dämon beim Gegensteuern sicherlich ebenso effektiv zu sein – oder sogar wirkungsvoller.

Padmasambhava hatte mir Ashoka als Lehrer empfohlen. Erst jetzt begriff ich diesen Rat in seiner vollen Dimension: Der Herrscher über Magadha hatte vor mir denselben Weg beschritten wie ich. Auch er hatte den Menschen in sich ermordet und war dadurch für seine Mitmenschen – mich eingeschlossen – zum Dämon geworden. Im Gegensatz zu mir war ihm allerdings das Glück beschieden gewesen, nicht in diesem Zustand gestorben zu sein. Er hatte die Größe gehabt, den inneren Dämon noch während seines Lebens als Mensch niederzukämpfen und den Menschen in sich wiederzuerwecken.

Damals, als der große Yogi mir mit Ashoka den Spiegel vorgehalten hatte, war mir das wie eine Strafe vorgekommen. Jetzt, nachdem ich durch die Begegnung mit Pema meine eigene menschliche Seite wiederentdeckt hatte, wurde mein ehemaliger Feind mir zur Hoffnung. Zum ersten Mal seit meinem Tod als Simha machte ich mir Gedanken darüber, was Ashoka möglicherweise hatte erleben müssen, dass er so unglaublich grausam geworden war. Plötzlich tat mir der Mann leid, für den ich wahre Ewigkeiten lang nichts als Hass und Wut empfunden hatte. Mehr und mehr erkannte ich mich in ihm wieder.

An diesem Punkt machte meine Erkenntnis jedoch nicht Halt. Durch die Wiederkehr der Erinnerung an die schreck­lichen Ereignisse in Vivekanandas Dorf hatte ich außerdem verstanden, warum ich meine Hölle und Befreiung ausgerechnet auf diesem Berg gefunden hatte: In meinem jetzigen Leben war ich zum Beschützer von Frauen geworden, weil ich als Klanführer nicht fähig gewesen war, sie vor Vergewaltigung und Ermordung zu bewahren. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schuldig ich mich wegen der erzwungenen Beobachterrolle bei dem Massaker in meinem Dorf gefühlt hatte. Simhas Wut war nicht nur durch die schrecklichen Ereignisse an sich befeuert worden, sondern auch durch das sorgsam verdrängte Gefühl eigener Schuld.

Ich hatte mir niemals vergeben, untätig dabei zugeschaut zu haben, wie die anderen Unsägliches litten, hatte mir nie verziehen, dass ich bloß leicht verletzt überlebt hatte, während sie qualvoll gestorben waren. Wie sollte ich, der sich nach dem Überfall vollkommen gegen sich selbst verhärtet hatte, um mit Schuld und Trauer fertigzuwerden, meinen Feinden gegenüber anderes als Härte empfinden?

Für das drängende Gefühl, meinen noch verbliebenen Landsleuten eine Eroberung durch Magadha um jeden Preis ersparen zu müssen, hatte ich bisher ausschließlich die Grausamkeit der Feinde verantwortlich gemacht. Nach den soeben gewonnen Erkenntnissen verstand ich nun allerdings, dass ich zu meinem Eintritt in die Kalinga-Armee mindestens ebenso stark von dem unbewussten Drang getrieben worden war, Versäumtes nachzuholen. Ich hatte an anderen gutmachen wollen, wo ich bei meiner Familie und meinen Nachbarn versagt hatte.

Und was jetzt? War ich angesichts all der neuen Einsichten endlich in der Lage, mir zu vergeben? – Doch was eigentlich? Welche Schuld traf mich denn? Etwa die, nicht vorhergesehen zu haben, dass die Magadhaer unerwartet und in solcher Überzahl über mein Dorf herfallen würden? Oder die, dass die Soldaten mich und nicht jemand anderes als Zeugen ausgewählt hatten, weil ich bereits so praktisch an der einzigen Stelle gesessen hatte, von der man alles sehen konnte?

Wenn es überhaupt etwas gab, das ich mir zu vergeben hatte, war es, nicht weggeschaut zu haben. Doch war ich dazu einfach nicht fähig gewesen – einerseits, weil ich mich dadurch dafür strafte, dass ich nicht kämpfte, andererseits aber auch, weil dies die einzige Art von Solidarität mit den Opfern darstellte, die ich am Baum angebunden zu leisten imstande war. Nicht einmal zu schreien hatte ich vermocht, so geschockt war ich von den Ereignissen gewesen. Das holte ich erst in den darauffolgenden Kämpfen nach – als Simha. Wirkliche Schuld hatte ich nicht eher auf mich geladen als bei dem Versuch, vermeintliche zu tilgen.

Sobald ich dies endlich begriff, fielen meine Tränen wie ein Landregen. Sie galten meiner Familie und meinen Nachbarn, aber auch den Soldaten, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls bereits so sehr von ihrer eigenen Menschlichkeit entfernt hatten, dass sie zu der unglaublichen Rohheit fähig gewesen waren, mit der sie sich über uns unschuldige Zivilisten hergemacht hatten. Ich vergoss sie Ashokas wegen, der das entsetzliche Opfer von Kalinga benötigt hatte, um sich von dem ihm inne­wohnenden Dämon zu befreien. Und zu guter Letzt weinte ich endlich auch um meine verlorene Unschuld – um Vivekananda, der gerade wegen seiner Menschenfreundlichkeit und seines Verantwortungsbewusstseins dermaßen gelitten hatte, dass er den rechten Weg verloren hatte. Die Verhärtung mir selbst gegenüber hatte sich gelöst: Endlich vermochte ich Mitgefühl mit mir zu empfinden.

Hätte Padmasambhava in diesem Augenblick gefragt, ob ich den Mörder, den Bluttrinker, den Dämon, den Berggeist liebte, wäre ich nun fähig gewesen, dies mit »Ja« zu beantworten. Darüber war ich trotz des noch immer von mir empfundenen Nachhalls der damaligen traurigen Ereignisse glücklich. Ich fühlte mich erlöst. Dies bedeutete allerdings nicht, dass ich plötzlich der Meinung gewesen wäre, die Umstände würden die Taten Simhas entschuldigen. Trotzdem vermochte ich jetzt wie einst Padmasambhava zu sagen:

»Ich liebe dich nicht, weil du ein Dämon bist, sondern obwohl du einer bist.«

Es tat gut, mit der bedingungslosen Liebe bei sich selbst anzufangen.