Das Verborgene Tal

Im Anschluss an seinen zweiten Beinahetod innerhalb weniger Stunden, der zwar nicht von so langer Dauer gewesen war wie der erste, ihn dafür aber weit näher an sein endgültiges Ende herangeführt hatte, kam Platschu nach einer ihm unbekannten Zeit wieder zu sich und wusste erst einmal nicht, wo er sich befand. In der Höhle war es nach wie vor vollkommen finster. Doch spürte er einen leisen Lufthauch, dessen Ursprung er durch Herumtasten in einer Felsritze fand. Diese ihm seltsam bekannt vorkommende Spalte im Gestein war so eng, dass der auch sonst schon schlanke Flüchtling zum ersten Mal froh war, durch die Strapazen und den Nahrungsmangel der letzten Wochen stark abgemagert zu sein. Trotz der Schmerzen, die es ihm vor allem an seinem Oberkörper bereitete, sich durch den Spalt zu zwängen, unternahm er das Wagnis. Die ihm dabei wiederkehrende Erinnerung daran, dem Tod entkommen zu sein, sowie an die Verheißung der Lichtgestalt erfüllte ihn ungeachtet aller Pein, seiner ihn immer wieder niederringenden Schwäche sowie seinem starken Durst mit der Kraft gebenden Überzeugung, dass hier für ihn der Weg zu einem neuen Dasein begann.

Sein Glaube schien sich zumindest im direkten Sinn des Worts zu bestätigen: Hinter der Spalte wichen die Felswände zu beiden Seiten ein wenig zurück und ermöglichten es Pla­tschu dadurch, die hinter der Öffnung gefundene ansteigende Rinne hinaufzukriechen. Obwohl er sich wieder und wieder an zahlreichen spitz aus dem ihn umgebenden Gestein herausragenden Felsnadeln die Haut aufriss, tastete er sich in der Finsternis des Bergesinneren immer weiter vor, bis auf einmal ein schwacher Lichtschein in die Rinne drang. Von der Hoffnung angespornt, einen Ausgang in die Außenwelt und damit hoffentlich auch endlich etwas zu trinken zu finden, kletterte der Arzt trotz seiner überwältigenden Mattigkeit, bis er an eine zweite Felsspalte gelangte.

Durch diesen unpassierbar scheinenden Spalt fühlte er frische Luft strömen und sah bedeutend helleres Licht einfallen als bisher. Daher unternahm er trotz der unglaublichen Enge der Ritze mit aller Macht den Versuch, durch diese hindurchzugelangen. Nicht auf die zahlreichen Abschürfungen und Quetschungen achtend, die er sich dabei zuzog, zwängte er sich mit solcher Gewalt durch den davon an einigen Stellen bröckelnden Spalt, dass er, sobald dies gelungen war, auf der anderen Seite mit voller Wucht auf dem Boden aufschlug.

Die Erde hier roch ungewohnt streng, dabei jedoch seltsam lebendig. Als der Flüchtling sich nach einer Weile erschöpften Liegens endlich wieder aufgerichtet hatte, bemerkte er, dass der Kot eines ihm unbekannten Lebewesens an seiner zerrissenen, staubig-blutbefleckten Uniform klebte. Hier lebte also jemand. Einerseits erfüllte ihn dieser Gedanke mit jäher Freude. Andererseits flößte er ihm aber auch Furcht ein, da er nicht wissen konnte, auf wen er in diesem Teil der Höhle treffen würde.

Vorsichtig folgte Platschu dem sich vor ihm eröffnenden Weg um einige die Sicht versperrende Felsen herum – und fand sich plötzlich inmitten einer seine Ankunft mit erschrecktem Blöken verkündenden Schafherde. Sogleich hatten ihn auch die zwei über ihre Tiere wachenden Hirten entdeckt. Sie schienen von seinem Anblick nicht weniger beunruhigt als die Schafe. Am liebsten wäre der Chirurg auf der Stelle geflohen. Doch wohin? Es gab kein Zurück, und Kraft zu rennen hatte er längst keine mehr. Da er sich jedoch auch nicht traute, die fremdartigen Tiere auseinanderzutreiben, um sich zu den mit ihren wohlgenährten Körpern und ihrer hellen Haut nicht minder fremd erscheinenden Hirten zu begeben, von denen er nicht wusste, was er von ihnen zu erwarten hatte, blieb er instinktiv wie angewurzelt stehen.

Daraufhin schenkten ihm beide Schäfer ein freundliches Lächeln. Der Ältere von ihnen sprach ihn sogar an, doch verstand er dessen Sprache nicht. Verwundert darüber, dass es eine Sprache gab, die er nicht einmal vom Klang her kannte, fühlte der Flüchtling angesichts der ihm entgegengebrachten Freundlichkeit auf einmal die Beine unter sich nachgeben.

Als er wieder zu sich kam, lag Platschu auf Stroh gebettet am Lagerfeuer der Hirten. Einer der beiden streichelte vorsichtig-zärtlich seinen Unterarm und sagte etwas in sanftem Tonfall zu ihm. Dieses ungewöhnlich liebevolle Verhalten von ihm völlig Unbekannten ließ den Verletzten in für ihn ebenso ungewohnte Tränen ausbrechen. Da strich ihm der andere Hirte, der ihm während seiner Bewusstlosigkeit immer wieder etwas Wasser eingeflößt hatte, wie tröstend über einen seiner Unterschenkel und reichte ihm anschließend eine mit einem dünnflüssigen Brei gefüllte Schale.

Ungläubig starrte der Flüchtling, der in der Vergangenheit nur in sehr seltenen Fällen eine bis zum Rand gefüllte Schale mit wohlriechender Nahrung erhalten hatte, auf diese Gabe: Statt ihn zu erschlagen oder zu erwürgen, weil er aufgrund seiner verletzungsbedingten Schwäche nicht in der Lage war, irgendeine Leistung für diese Menschen zu erbringen, sondern ihnen im Gegenteil als Pflegebedürftiger zur Last fiel, teilten sie ihr Essen mit ihm.

Der Schock über dieses Wunder war dermaßen groß, dass Platschu nicht einmal mehr fähig war, weiter Tränen zu vergießen. Stattdessen starrte er bloß auf das Essen, ohne es anzurühren. Da ergriff der ältere der beiden Hirten einen Holzlöffel und begann, seinen Gast zu füttern. Zwar öffnete der mechanisch den Mund, fing jedoch gleich nach dem ersten Bissen erneut an zu weinen. Daraufhin begann der jüngere Schafhüter, ein eigentlich zur Beruhigung der Tiere gedachtes Lied zu singen.

So etwas Schönes hatte Platschu noch nie gehört. Bei der einzigen ihm bekannten Art von Musik handelte es sich um Schlachtengesänge und Militärmusik. Daher verfehlte das einfache Schäferlied seine Wirkung nicht: Nach einer Weile hatte der Flüchtige sich so weit beruhigt, dass er endlich ein wenig Brei zu sich nahm. Allerdings hatte ihn das bisher Erlebte dermaßen viel Kraft gekostet, dass er noch während des Essens einschlief.

Als der Verletzte Stunden später unter Schmerzen aufwachte, war er nicht mehr allein mit den Hirten: Viele Leute unterschiedlichen Alters und Geschlechts standen aufgeregt im Höhleneingang und starrten ihn ebenso mitleidig wie bewundernd an. Dieses Verhalten gab ihm Rätsel auf, bis ein Mann, der so alt war, wie es Platschu außer in seinen Träumen noch nie bei einem Menschen gesehen hatte, auf ihn zutrat und freundlich beschwichtigend auf ihn einsprach. Nach einigen Wiederholungen begriff der seine Furcht trotz der ihm entgegengebrachten Freundlichkeit nur mühsam beherrschende Platschu plötzlich, dass der Alte eine ihm bekannte Sprache sprach – allerdings mit einem derartig starken Akzent, dass er diese zunächst für ein ihm fremdes Idiom gehalten hatte:

»Willkommen im Verborgenen Tal, mein Freund. Wir haben dich erwartet. Nicht wirklich dich persönlich, sondern einen Fremden von der anderen Seite. Eine alte Weissagung verkündet, von dort werde einmal jemand den Weg zu uns finden, der sich trotz der gewaltgeprägten Welt, in der er aufgewachsen ist, ein reines Herz bewahrt hat. Du musst uns nichts von jenseits des Bergs erzählen – dein Aussehen und Verhalten sprechen Bände. Doch darfst du versichert sein, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um dich zu unterstützen.«

Zutiefst bewegt wusste Platschu nicht, was er antworten sollte. Obwohl er dem eigenen Namen entgegen in seinem gesamten Leben zuvor niemals geweint hatte, rührte ihn die un­gewohnte Hilfsbereitschaft auch jetzt wieder zu Tränen. Da es ihm gleichzeitig jedoch ein Herzensbedürfnis war, dem freundlichen Alten sowie den eigens seinetwegen erschienenen Leuten gegenüber seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, legte er die Handflächen vor dem Herzen zusammen und neigte dazu den Kopf.

Obgleich er diese Geste lediglich aus seinen Träumen kann­te, schien sie von den Bewohnern des geheimen Tals verstanden zu werden: Vor Rührung lächelnd antworteten sie ihm, indem sie diese sämtlich selbst ausführten. Anschließend gingen sie wieder. Nur der alte Mann blieb und sagte:

»Ich bin ein Heiler. Lass mich deine Verletzungen anschauen.«

Als der betagte Arzt jedoch bemerkte, wie der Verwundete erstarrte, sobald er sich anschickte, dessen Kleidung zu berühren, ließ er von ihm ab und fragte:

»Weshalb fürchtest du dich vor mir?«

»Ich bin nicht … Ihr solltet … mich töten. Hier bei euch scheint kein Krieg zu herrschen. Ich aber, ich … trage ihn in mir – den Krieg, meine ich. Daher bin ich gefährlich für euch. Wenn der innere Krieg nach außen tritt …«

An dieser Stelle verlor der mittlerweile stark Fiebernde abermals das Bewusstsein und ermöglichte es seinem Kollegen dadurch, ihn mit Hilfe der Schäfer zunächst zu entkleiden wie zu waschen, um ihn anschließend eingehend zu untersuchen und zu verarzten.