Termas als Lama-Ersatz?

Im Grunde genommen hatte ich es Pema zu verdanken, dass ich mich nach langer Selbstbetrachtung letztlich doch noch so anzunehmen vermochte, wie ich war: Durch ihren Wunsch eines gegenseitigen Kennenlernens hatte sie mich zum Nachdenken über mich und damit auch über die grundsätzliche Möglichkeit der Existenz einer menschlichen Seite bei einem Dämon gebracht. Daher durfte ich nun, da ich endlich Liebe für Vivek­ananda, Simha und mein gegenwärtiges dämonisches Ich empfand, nicht beim Genuss dieses wunderbaren Gefühls stehen bleiben. Ursprünglich hatte ich mich schließlich nicht in den Felsen zurückgezogen, um über mich nachzudenken, sondern über meine neue Schutzbefohlene. Machten wir in den nächsten Tagen einige weitere solcher Ausflüge wie heute, würde sie in materieller Hinsicht erst einmal ausreichend versorgt sein. Doch wie sah es mit der spirituellen Seite aus? Sie hatte keine Erfahrung und keinen Lehrer. Letzten Endes hatte sie sich deshalb an mich gewandt. Zwar hatte ich das abblocken können. An der Ausgangssituation hatte sich dadurch jedoch nichts geändert.

Allein durch ihre Anwesenheit auf dem heiligen Berg würde sie auf dem Pfad der Lehre nicht weit kommen. Daran, dass sie keine Erfahrung hatte, war nichts zu ändern. Das war Gegenstand der Vergangenheit. Blieb nur, ihr einen Lehrer zu besorgen. An einen anderen Menschen war dabei allerdings nicht zu denken. Wo sollte der herkommen? Insbesondere in Zeiten, in denen sich eigentlich niemand mehr auf den Berg traute!

Nach längerem Überlegen kam mir ein Gedanke. Als Kaufmannstocher hatte Pema sicherlich Lesen gelernt. Und falls nicht, könnte ich es ihr möglicherweise beibringen. Vor langer Zeit hatte sich nämlich einer der von Düssum Tjenpa angekündigten Besucher bereiterklärt, mich darin zu unterweisen. Als Grund dafür, mir zu diesem Zweck ungewöhnlich viel seiner kostbaren Zeit zu widmen, hatte der sich bescheiden »Ngawang« nennende Mann angegeben, dass ich in einer aus seiner Perspektive sehr fernen Zukunft einmal in der Lage sein müsse, Termas zu finden und zu bewahren, bevor Invasoren sie zerstörten. Termas könnten jedoch ausschließlich von Personen geborgen werden, die über eine entsprechende geistige Reife verfügten. Dazu wiederum gehöre nicht nur ein fundiertes Verständnis des buddhistischen Pfads, sondern auch die grundlegende Fähigkeit des Lesens. Folglich hatte ich es lernen dürfen.

Wie man ein solches Terma findet, hatte Ngawang Rinpo­tche mir allerdings nicht erklärt. Etwas rätselhaft hatte er angedeutet, dass ich dies später herausfinden werde. War der Zeitpunkt dazu möglicherweise jetzt gekommen?

Früher hatten weise Yogis – vor allem Padmasambhava und seine Schüler – angeblich haufenweise Texte in den Bergen Pemaköös versteckt, damit sie zu späteren Zeiten wiedergefunden würden. Solch ein Terma zu entdecken, wünschte ich mir nun von ganzem Herzen für Pema! Doch wie macht man das, wenn man nicht gerade ein Bodhisattwa mit Visionen von Guru Rinpotche ist wie Düssum Tjenpa? Oder wenigstens ein sonstiger Tertön!

Leider hatte ich nie einen von diesen Menschen kennengelernt, die Visionen haben, in denen Dakinis oder auch der Weise, der den heiligen Text oder Gegenstand verborgen hat, zeigen, wo man graben muss – oder die sogar einen Text gleich rein geistig übertragen. Und falls einer meiner Besucher doch ein Tertön gewesen sein sollte, hatte er es mich zumindest nicht wissen lassen. Möglicherweise jedoch …

Pema verfügte zweifelsohne über eine Art Hellsichtigkeit. Sonst wäre sie nicht fähig gewesen, meine Erinnerung an den Überfall auf mein Dorf mitzuerleben. Ob das allerdings Befähigung genug war, ein Terma zu finden? Und selbst wenn: Wie sollte ich ihr übermitteln, dass sie etwas suchen sollte und worum es sich dabei handelte? Es kam auf einen Versuch an. Zuvor musste jedoch erst einmal die Behausung meiner Braut dergestalt ausgestattet werden, dass die junge Frau über den Winter kam.