Als ich mich an dem auf die Betrachtung meiner menschlichen Seite folgenden Morgen der Eremitinnenhöhle näherte, saß Pema am Rand des ursprünglich als Wiedergutmachung von mir angelegten Blumenbeets. Sobald sie mich herankommen sah, stand sie rasch auf und verneigte sich höflich vor mir:
»Tchöötjong-laq, ich fühle mich geehrt, dass Ihr mir nach gestern nicht Eure Hilfe versagt. Bitte entschuldigt, …«
Mit einer unwirschen Geste unterbrach ich sie und forderte sie auf, mir zu folgen. Gestern war gestern. Davon wollte ich lieber nichts mehr hören. Viel wichtiger war jetzt, ihr so schnell wie möglich die überlebenswichtigen materiellen Güter zu zeigen und das Nötigste zur Höhle zu bringen, damit wir uns anschließend der Termasuche würden widmen können.
Mit diesen profanen Dingen verbrachten wir die nächsten Wochen. Auf der letzten von mir geplanten Tour kamen wir nach dem Ausheben einer versteckten Kleiderkammer an einem türkis schimmernden See vorbei. Pema, die mangels bisheriger Alternative nach wie vor ihre Hochzeitsgewänder trug, rannte sofort darauf los und rief:
»Tchöötjong-laq, bitte schaut Euch jetzt einmal etwas die Gegend an. Ich werde mich kurz mit den Wassern dieses heiligen Sees vereinigen, bevor ich mir etwas Neues anziehe.«
Sie wollte sich im See waschen? Das erschien mir befremdlich – nicht unbedingt, weil das Wasser eiskalt war. Dies traf in gleichem Maße auf das Quellwasser zu, mit dem meine Braut sich jeden Morgen wusch. Doch achteten die Menschen in der Gegend hier für gewöhnlich sehr darauf, kein schützendes Hautfett zu verlieren. Noch viel wichtiger als diese praktischen Erwägungen war allerdings, dass ihnen die Seen als heilig galten, wie Pema soeben selbst gesagt hatte. Deshalb verunreinigte man sie möglichst nicht. Meine Schutzbefohlene jedoch lief mit schnellen Schritten auf das Wasser zu und entkleidete sich, während ich ihr langsamen Schrittes folgte. Sie schien in allem ihren eigenen Kopf zu haben.
Ihren Wunsch, mir die Gegend zu betrachten, erfüllte ich ihr selbstverständlich nicht, sondern beobachtete genau, was sie tat. Normalerweise lernte im Schneeland kein Mensch schwimmen. Hoffentlich war Pema vorsichtig genug und ging nicht allzu tief hinein. Nein, ich konnte beruhigt sein: Sie blieb am Rand, plantsche ein wenig und kam anschließend mit freudestrahlendem Gesicht ans Ufer, wobei sie sich wie ein nasser Hund schüttelte. Daher bemerkte sie zunächst nicht, dass sie direkt auf mich zulief. Als sie mich schließlich erblickte, stotterte sie vor Scham errötend:
»Ihr … Ihr habt Euch ja gar nicht abgewandt!«
Mir war sonderbar zumute. Diese Frau zog mich geradezu magisch an. Daher vermochte ich mich nicht dazu durchzuringen, mich abzuwenden. Ich wollte sie unbedingt so sehen, wie sie von Natur aus geschaffen war. Doch als sie jetzt splitternackt vor mir stand, wurde mir bewusst, dass es mir nicht mehr nur um den Wunsch ging, jede Facette dieses Wesens kennenzulernen. Meine Gefühle hatten sich gewandelt: War ich ihrer Bitte anfangs aus Sorge nicht nachgekommen, hatte mich später die Neugier gepackt. Jetzt aber wollte ich ihr so nah wie möglich sein, sie in meine Arme nehmen, streicheln …
»Das darf doch nicht wahr sein!«, unterbrach Pema meine Träumerei wütend. »Dreht Euch bitte sofort um!«
Ich tat es nicht. Konnte es nicht. Wollte es nicht. Dass ich keinen Körper hatte, schien für meine Gefühle ihr gegenüber keine Rolle zu spielen. Ich liebte sie so sehr! Da verschwand mit einem Mal der Anflug von Ärger in ihrem Gesicht und machte dem Ausdruck tiefen Verstehens Platz. Mit zitternder Stimme fragte sie in vertraulichem Ton:
»Du begehrst mich, nicht wahr?«
Obwohl ich mir in meiner seltsam verwirrten Gefühlslage nicht einmal dessen sicher war, nickte ich wie in Trance mit dem Kopf.
»So nimm mich! Ich werde deine Braut sein!«, rief sie begeistert, während sie die Arme ausbreitete und einen Schritt auf mich zu machte.
War es das, wozu sie auf diesen Berg gekommen war? Glaubte sie, ich sei der arme gequälte Vivekananda, ein zu Unrecht verfluchtes Wesen, das sie erlösen musste? Oder wollte sie allen Ernstes mit einem Dämon verschmelzen? – Das konnte sie haben!
Fest entschlossen bewegte ich meinen Scheinkörper genau an die Stelle, an der sie stand. Sie sollte erkennen, dass er bloß ein Bild war, durch das sie hindurchgehen konnte. Außerdem wollte ich ihr physisch so nahe wie möglich sein, damit sie mit ihrer Hellsichtigkeit gut sah, was sich in Kürze vor meinem inneren Auge abspielen würde. Anschließend ließ ich in meinem Geist die Szenen ablaufen, die mich als Simha in der Schlacht von Kalinga zeigten und mich so viele Jahre quälend verfolgt hatten – ohne Schonung, mit klaren Bildern und deutlichem Ton.
Pema hielt lange tapfer durch. Sobald sie jedoch sah, wie ich das aufspritzende Blut meiner Feinde mit dem Mund auffing und trank, schrie sie vor Entsetzen. Da ließ ich von ihr ab und hockte mich auf den See, damit es ihr auch wirklich vollkommen bewusst wurde, dass der von ihr wahrgenommene Körper lediglich eine Illusion darstellte. Trotzdem dauerte es eine Weile, ehe sie mich überhaupt bemerkte. Sie war weinend in die Knie gegangen. Ihr mittlerweile vor Kälte blau angelaufener Körper zitterte. Auch tapfere Menschen verfügen nun einmal nicht über Dämonenkräfte.
Da sie mir leidtat, wehte ich ihr zum Abreiben ein vorher von ihr zurechtgelegtes Tuch ins Gesicht. Nachdem sie sich durch kräftiges Rubbeln ein wenig aufgewärmt hatte, zog sie sich an. Dabei schaute sie immer wieder zu mir herüber. Als sie vollständig angekleidet war, gab ich ihr ein Zeichen, aufmerksam zu sein. Wohl ahnend, dass nach der Demonstration der Vergangenheit nun die der Gegenwart folgen sollte, eilte sie sogleich ans Ufer und schrie:
»Bittet haltet ein! Es ist genug. Ich habe verstanden. Bitte schont die Natur! Ich möchte nicht, dass andere Wesen meinetwegen zu Schaden kommen.«
Sie bat nicht für sich. Darum gab ich nach. Über das Wasser wandelte ich ans Ufer und hüllte sie in einen warmen Lufthauch, während sie ihre Habseligkeiten zusammensuchte. Als sie damit fertig war, zeigte sie glücklicherweise wieder normale Farbe im Gesicht. Weiterhin schluchzend machte sie sich auf den Weg. Wie gewohnt schickte ich mich an, mit ihr zu gehen, doch lehnte sie meine Begleitung ab:
»Nein, bitte, Tchöötjong-laq. Den Weg zur Höhle finde ich auch ohne Eure Hilfe. Bitte versteht das nicht falsch: Nach dem, was hier gerade geschehen ist, muss ich erst einmal ein wenig allein sein.«
Sie ziehen lassend schaute ich ihr lange nach. Sobald sie fast außer Sichtweite war, folgte ich ihr langsamen Schrittes. Dass sie das Bedürfnis empfand, allein zu sein, war mir nicht unrecht. Mir erging es ebenso. Auch ich musste erst einmal versuchen zu verstehen, was sich da soeben eigentlich ereignet hatte. Immerhin hatte ich beinahe jemanden getötet, der meinem Schutz anvertraut war. Dabei liebte ich Pema von ganzem Herzen. Doch schien selbst diese Liebe vernichtend zu sein.
Wieso hatte ich geglaubt, dass dies anders sein könnte? Wie sollte die Liebe eines Dämons selbst bei noch so guten Absichten anders sein als eben dämonisch? Und trotzdem: Gerade weil ich Pema liebte, wünschte ich, dass sie die Wahrheit über mich kannte. Ich wollte nicht einen Vorteil daraus ziehen, dass sie in eine Vorstellung von mir verliebt war, die nichts mit meiner Realität zu tun hatte. Wie sonst hätte ich ihr zeigen, ja sie warnen können, mit wem sie sich einließ, wenn sie eine über Schützer und Beschützte hinausgehende Beziehung mit mir einging? Sie selbst hatte den Wunsch geäußert, eins mit mir zu werden. Doch als ich ihr diesen Wunsch erfüllte, hatte ich selbstverständlich gewusst, dass sie sich darunter etwas vollkommen anderes vorgestellt hatte.
Von der Situation überfordert fühlte ich mich innerlich zerrissen. Einerseits empfand ich, dass ich mit der Offenbarung des wahren Dämons das einzig Richtige getan hatte, da Pema den aus Mitleid mit Vivekananda nicht hatte sehen wollen oder können. Andererseits war nicht zu leugnen, wie weh ich ihr damit getan hatte. Nackt fühlt der Mensch sich am wehrlosesten. Allein dadurch, dass ich die junge Frau nach dem kalten Bad so lange hatte entblößt herumstehen lassen, hatte ich ihr zweifelsohne heftig zugesetzt.
Dabei stellte all das lediglich den körperlichen Aspekt der Angelegenheit dar. Emotional musste die entsetzliche Entzauberung meiner Person die angehende Yogini schwer verwundet haben. In meinen Ohren hallte noch immer das gequälte Schreien, das ihr entfahren war, als sie verstanden hatte, dass ich in ferner Vergangenheit einmal ein Bluttrinker in der unmittelbaren Bedeutung des Worts gewesen war.
Pema tat mir unendlich leid. Mich selbst betreffend hingegen fühlte ich mich schuldig und schuldlos zugleich. Dementsprechend war ich zutiefst verunsichert und wusste mir keinen Rat. Wie würde es jetzt weitergehen? Wie sollte ich mich meiner Schutzbefohlenen in Zukunft gegenüber verhalten?
Während ich mich all dies fragte, sah ich von fern, wie Pema einen falschen Abzweig nahm. Auf dem soeben von ihr eingeschlagenen Pfad würde sie nie zurück zur Höhle gelangen, ja ging sie dort nur ein kleines Stück in derselben Richtung weiter, würde sie sogar in Lebensgefahr geraten! In sicherer Entfernung von ihr löste ich daher eine Gerölllawine aus, die gerade groß genug war, ihr den Weg zu versperren. Erschrocken blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. Da ich nunmehr rannte, sie aber stehengeblieben war, vermochte ich zu erkennen, wie sie verängstigt und hilfesuchend in meine Richtung schaute. Folglich hielt ich an, um ihr zu signalisieren, dass sie sich auf dem falschen Pfad befände. Anschließend setzte ich mich abermals in Bewegung, wodurch ich aus ihrem Blickfeld verschwand.
An der Weggabelung wartete ich auf sie. Sobald ich sah, dass sie sich näherte, setzte ich meinen Weg fort. Dadurch gab ich ihr die Möglichkeit, mir zu folgen, ohne dass wir uns zu nahe kommen mussten. Doch hatte Pema offenbar anderes im Sinn: Es dauerte nicht lange, und ich hörte sie hinter mir keuchen. Trotz der Last des großen Kleidersacks, mit dem sie sich mühsam abschleppte, eilte sie mir schnellen Schritts nach. Weshalb? – Um das herauszufinden, drehte ich mich zu ihr um. Da blieb sie stehen. Sie sah schrecklich mitgenommen aus. Völlig außer Atem fragte sie:
»Tchöötjong-laq, warum tut Ihr das?«
Mit einer Geste versuchte ich Pema zu übermitteln, dass ich nicht wusste, worauf sie hinauswollte. Daraufhin formulierte sie ihre Frage um:
»Ihr hättet mich in die Irre gehen lassen können. Wieso habt Ihr mich auf den rechten Weg geführt?«
Das war meine Pflicht. Ich hatte es Padmasambhava versprochen. Außerdem liebte ich Pema auch weiterhin, selbst wenn ich dieser Dämonenliebe angesichts dessen, was ich meiner Liebsten angetan hatte, nicht mehr recht traute. Allerdings war ich im Augenblick zu verwirrt und verunsichert, um zu versuchen, diese Botschaft in Gesten umzusetzen. Daher drehte ich mich einfach um und ging gesenkten Hauptes und mit hängenden Schultern weiter. Diesmal folgte Pema mir schweigend.
Sobald wir die Höhle erreicht hatten, wandte ich mich ohne Abschied zum Gehen. Doch hielt meine Schutzbefohlene mich zurück, indem sie mich in einem sonderbar scheuen, ihre eigene Verunsicherung ausdrückenden Ton ansprach:
»Tchöötjong-laq?«
Um zu erfahren, was sie wohl nun noch von mir wollte, drehte ich mich ein letztes Mal zu ihr um. Von mir völlig unerwartet sagte sie daraufhin:
»Danke.«
Da ich keineswegs der Meinung war, Dank zu verdienen, brannte sich dieses Wort bitter in mein Herz. Entsprechend elend war mir zu Mute. Deshalb zuckte ich lediglich mit den Achseln, bevor ich mit weiterhin hängendem Kopf davonschlich. Obwohl ich spürte, wie Pema mir nachschaute, wandte ich mich nicht mehr nach ihr um.