Dämonenliebe

Nach unserem Kleiderkammerausflug, auf dessen Rückweg wir an den See gelangt waren, an dem ich Pema beinahe getötet hatte, war sie jetzt mit allem für ihr Überleben Notwendigen versorgt. Sogar Luxusgegenstände wie Butterlampen besaß sie mittlerweile. Blieb einzig, die heiligen Texte zu finden, die dazu gedacht waren, ihr den fehlenden Lehrer zu ersetzen. Wie wir das bewerkstelligen sollten, war mir jedoch noch immer ein Rätsel, dessen Lösung ich mir von der Zukunft erhoffte.

Fürs Erste hatte ich ehrlich gesagt erst einmal genug von gemeinsamen Streifzügen durch die Berglandschaft. Insofern fühlte ich mich erleichtert, dass es bis auf Weiteres nichts gab, das ich für Pema hätte tun können. Dadurch erhielt ich den Freiraum, mich zurückzuziehen, um zu versuchen, meine innere Ruhe durch Verbindungsaufnahme mit dem Berg und der mich umgebenden Natur wiederzufinden. Doch war das gar nicht so leicht: Sobald Pema sich allein wusste, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Sie zerfloss förmlich in Tränen, bis sie sich nach Stunden in den Schlaf geweint hatte.

Von dem von mir angerichteten Leid bestärkt versuchte ich, mir meine Gefühle für Pema aus dem Herzen zu reißen. Bei Liebe, die der Geliebten schadet, kann es sich nicht um etwas Echtes handeln. In Anbetracht der Ereignisse stand für mich ohne jeden Zweifel fest, dass ich mich in eine Illusion verrannt hatte. Weil meine ganze Hoffnung daran hing, hatte ich glauben wollen, dass ein Dämon das Dämonische in seinem Wesen so weit zu überwinden vermag, dass er sich dazu befähigt, reine Liebe zu empfinden und zu verschenken wie ein Mensch, der sich dem Göttlichen in sich geöffnet hat.

Vor meinem Zusammentreffen mit Pema hatte ich gemeint, sämtliche meiner Schutzbefohlenen genau auf diese Weise geliebt zu haben – so, wie ich es mit allen Wesen in der Natur um mich herum tat, wodurch ich eine sehr tiefgehende Verbindung zu ihnen unterhielt. Bis Pema hier erschienen war, hatte ich keine Schwierigkeiten damit gehabt, gute Absichten in gute Taten zu verwandeln.

Jetzt, mit ihr, war auf einmal alles anders: Je lauterer meine Absicht, desto schlimmer schien das Ergebnis. Mir war, als habe das wärmende Feuer der Liebe, das bisher in meinem Herzen gebrannt hatte, sich in einen lodernden Flächenbrand verwandelt, der das Objekt meiner Liebe – Pema – zu vernichten drohte, und in dem auch ich selbst verbrannte. Warum nur war das so? Wieso war meine Liebe zu ihr von dieser dämonischen Art?

Auf meine Fragen keine Antworten zu finden, quälte mich ungemein. In gewisser Weise beneidete ich Pema. Die Menschen wissen gar nicht, wie gut sie es haben, dass sie schlafen dürfen. Der Schlaf verschafft ihrem Verstand wie ihren Gefühlen eine Pause. Wenn sie aufwachen, haben sie oft Antwort auf eine sich beim Einschlafen gestellte Frage. Was am Abend noch unerträglich war, hat am Morgen meist viel von seinem Schrecken verloren. Mir aber war es nicht vergönnt, schlafen zu können. Benötigten mein Intellekt oder meine Emotionen eine Pause, musste ich ihnen die aktiv verschaffen. Gelang dies nicht, drehte die Mühle endlos weiter – so, wie jetzt.

Aus Erfahrung wusste ich, dass ich auf jeden Fall verhindern musste, mich in Negativitäten hineinzusteigern. Das würde bös enden. Dessen eingedenk machte ich mich mitten in der Nacht zu einer Wanderung auf. Unter den nachtaktiven Tieren hatte ich genug Freunde, die ich schon länger nicht mehr besucht hatte, da ich die letzte Zeit ausschließlich Pema gewidmet hatte. Nun tat es mir gut, den Fokus von ihr zu nehmen und mich meiner gewohnten Wächtertätigkeit hinzugeben. Eins zu werden mit der nächtlichen Natur, kühlte meine Emotionen, aber auch meinen rastlosen Verstand. Mit der Zeit wurde es ruhiger in mir. Daher wanderte ich weiter, bis die Sonne aufging.

Der Anblick des sich über die schneebedeckten Gipfel erhebenden Tagesgestirns erfüllte mein Herz mit inniger Freude. Leider währte die nicht lange: Schon bald spürte ich, dass Pema aufgewacht war und auf mich wartete. Doch beschloss ich, dies fürs Erste zu ignorieren. Einer erneuten Konfrontation mit ihr fühlte ich mich nicht gewachsen – zumindest noch nicht. Erst musste ich mir eine Strategie zurechtlegen, wie ich verhindern konnte, dass das in meinem Herzen jetzt endlich wieder verspürte freundliche Glühen sich abermals in einen gefährlichen Flächenbrand verwandelte.

Auf hohem Fels in der Morgensonne sitzend stellte ich mir vor, mein geliebter Lehrer Padmasambhava säße neben mir. Er hatte mich darin geschult, meine Gefühle und Gedanken zu beherrschen, um keine Katastrophen in der mich umgebenden Natur auszulösen. Ferner hatte ich von ihm gelernt, die richtigen Absichten auf die rechte Art zu meditieren, damit daraus segensreiche Handlungen in meiner Umwelt ent­stünden. Er hatte mir gezeigt, dass das Dämonische in mir in einem Zuviel an negativen Emotionen und Einstellungen bestand. Dass aber nicht nur meine Schwächen ungewöhnlich ausgeprägt waren, sondern auch meine Stärken. Wenn ich nur wollte, vermochte ich enorm achtsam zu sein. Das hatte ich jahrhundertelang mit den mich umgebenden Wesen geübt.

Durch diese Überlegungen begriff ich, dass es höchste Zeit war, mir selbst gegenüber genauso achtsam zu sein, um auch an sich positive Gedanken und Gefühle nicht zu stark werden zu lassen – auch oder sogar insbesondere nicht in der Liebe. Ich durfte Pema nicht mit meinem Maßstab messen, sondern hatte darauf zu achten, wie ungemein zerbrechlich das menschliche Leben ist.

Können und Tun sind jedoch zwei verschiedene Dinge. Meine Existenz hatte ich lediglich in der jetzigen Form aufzubauen vermocht, weil ich in einem ersten Schritt Padma­sam­bhava das als Gegenleistung für seine Belehrungen Geforderte versprochen hatte und in einem zweiten Schritt Düssum Tjenpa gegenüber den Bodhisattwaeid geleistet sowie geschworen hatte, mich mit großer Geduld als Tamdin zu visualisieren, um mir dessen Attribute zu eigen zu machen.

Erst jetzt wurde mir die enorme Kraft bewusst, die einem aus tiefstem Herzen gegebenen Versprechen innewohnt. War ich in der Vergangenheit in Zweifel oder Schwierigkeiten geraten, hatten die meinen Lehrern gemachten Gelöbnisse stets als der Stab gedient, auf den ich mich hatte stützen können – und der es mir im Fall des Scheiterns wenigstens ermöglicht hatte, mich wiederaufzurichten.

Diese Einsicht ließ mich begreifen, dass ich in Bezug auf Pema genau solch eine Stütze benötigte. Dabei war mir bewusst, dass, solange man es mit einem Versprechen wirklich ernst meint, einem aus diesem die Kraft erwächst, das gegebene Wort zu halten. Daher verpflichtete ich mich nun Guru Rinpotche gegenüber mit großem Ernst, in Zukunft achtsamer mit Pema und meinen Gefühlen zu ihr umzugehen, um ein Zuviel auf jeden Fall zu verhindern. Ferner gelobte ich feierlich, den Flächenbrand zu löschen und stattdessen freundliches, warmes Licht, wie es die Morgensonne augenblicklich spendete, in meinem Herzen zu hegen.

Nachdem ich meinem ersten Lehrer für seine Bereitschaft gedankt hatte, dieses Versprechen anzunehmen, machte ich mich auf den Weg zur Höhle. Es wäre Pema gegenüber nicht nett gewesen, sie in dieser Situation noch länger als nötig allein ausharren zu lassen. Schließlich spürte ich, dass sie auf mich wartete.