Nach den schrecklichen Ereignissen, die sich tags zuvor am See abgespielt hatten, fühlte ich mich trotz meines neuen Versprechens umso angespannter, je näher ich der Eremitinnenhöhle kam. Wie sollte ich Pema begegnen? Was sagen? Da ich auf diese Fragen keine Antwort fand, beschwor ich des von mir gegebenen Worts eingedenk letzten Endes einfach das Licht in meinem Herzen, das ein Wiederaufflammen des Flächenbrands verhindern sollte.
Als ich gegen Mittag in den Bereich der Höhle kam, saß Pema an der Sommerwiese, die ich für sie hatte sprießen lassen, und fuhr mit den Händen wie streichelnd über die mittlerweile verblühten Blumen. Sie sah blass und traurig aus. Da ich sie nicht erschrecken wollte, blieb ich in einigen Metern Entfernung von ihr stehen. In der Hoffnung, sie werde mich bemerken, wartete ich eine geraume Weile. Doch schaute sie nicht auf. Was nun?
Nach einigem Überlegen beschloss ich, es mit Dämonengesang zu versuchen, und ließ ein wenig Wind durch ein paar Felsritzen streichen. Das weckte Pema aus ihren traurigen Gedanken: Sie blickte in Richtung des Geräuschs und nahm mich dadurch endlich wahr.
»Den Buddhas und Bodhisattwas sei Dank!«, rief sie aufspringend. »Ich dachte schon, Ihr würdet nie mehr wiederkommen …«
Ein Hustenanfall unterbrach ihren Ausruf. Bereits vorher hatte ihre Stimme außerordentlich heiser geklungen. Nachdem sie mir ihr Gesicht nun vollends zugewandt hatte, war zu erkennen, dass sie fieberte. Die Frau gehörte ins Bett – und zwar in ein richtiges, nicht in eine kalte, steinerne Nische, in der es sich lediglich sitzen ließ.
»Ich will nicht ins Bett. Die Sonne scheint doch so schön«, quengelte Pema mitten in meine Gedanken hinein.
Was war denn das? Hörte sie mich etwa?
»Natürlich tue ich das«, antwortete Pema und fuhr fort: »Also ich meine, wenn Ihr mit mir sprecht. Schließlich habt Ihr bis jetzt noch nie etwas gesagt.«
»Weil ich dazu nicht fähig bin.«
»Aber ich höre Euch doch!«
»Pema, das sind meine Gedanken«, kommunizierte ich.
Daraufhin starrte sie mich kurz ungläubig an und fiel unmittelbar darauf in Ohnmacht. Was bloß sollte ich in dieser Situation mit ihr machen? Zwar befähigten meine Dämonenkräfte mich zu vielem – sogar dazu, Felsen zu öffnen oder zu schließen. Doch war es mir unmöglich, Pema in die Höhle zu tragen, ihr Brei zu kochen oder sie zu füttern. Jetzt, da sie krank war, benötigte sie jedoch unbedingt Hilfe dieser Art. In Anbetracht des Umstands, dass es in der von mir erreichbaren Umgebung keine Menschen außer der Yogini gab, war ich der Einzige, der ihr beistehen konnte und folglich auch musste. Dazu benötigte ich allerdings selbst Hilfe.
»Bitte!«, flehte ich daher mit jeder Faser meines Herzens. Nichts geschah. Das durfte nicht sein! Half ich ihr nicht, würde sie meinetwegen am Ende gar sterben! Immerhin war ich schuld daran, dass sie ohnmächtig, fiebernd und hilflos auf dem vor der Höhle gelegenen steinernen Plateau lag. War ich dazu verdammt, ein weiteres Mal untätig zuschauen zu müssen, wie eine von mir geliebte Frau litt und starb?
Das konnte ich auf keinen Fall zulassen! Es musste einen Weg geben. Ich hatte versprochen, sie zu schützen. Ein Mensch hätte gesagt: »Und wenn ich mein Leben dafür geben muss.« Ich aber war kein Mensch, bloß ein dämonisches Bewusstsein ohne Körper. Insofern würde auch mein Tod ein anderer sein als der eines menschlichen Wesens.
Trotzdem: Wie für den Menschen seine gemischt geistig-körperliche Existenz das höchste Gut ist, musste es auch bei mir etwas Entsprechendes geben. Was aber konnte das sein? Ich hatte nur meine Rolle als Damtchen, meine Erinnerungen sowie meine Aufgabe. Möglicherweise erfüllte ich den mir gegebenen Auftrag am besten, wenn ich ihm Rolle und Erinnerungen hingab und vollständig in ihm aufging – oder anders ausgedrückt: wenn ich das Göttliche in mir von meiner Person befreite.
Mit dieser Absicht legte ich mich in Gebetshaltung auf den Boden und flehte ebenso demütig wie verzweifelt das Unbeschreibliche und Namenlose an, dem die Menschen in ihrer Vorstellung so unendlich viele Gestalten und Bezeichnungen verliehen haben, um mit ihm in Kontakt zu treten:
»Bitte rette Daqpo Pema und nimm mein Sein anstelle des ihren. Ich habe kein Leben wie die Menschen, das ich dir anbieten könnte. Trotzdem bin ich bereit, alles auf mich zu nehmen, wirklich alles, was du als einem Menschenleben gleichwertig erachtest – von der Wiedergeburt in einer Hölle bis hin zu der Verdammnis, den Kreislauf leidvoller Wiedergeburten niemals durchbrechen zu dürfen. Bitte lass das letzte Tun meines jetzigen Bewusstseins die Erfüllung der mir von Padmasambhava wie auch von Düssum Tjenpa gegebenen Aufgaben sein. Bitte erhöre mein Flehen!«
Nichts geschah. Doch blieb ich hartnäckig und übte mich in Geduld. Die Hoffnung nicht aufgebend verharrte ich demütig auf dem Boden. »Bitte!«, flehte ich abermals. »Was kann ich mehr tun, als mich selbst zu schenken?«
Da war auf einmal alles von einem überaus hellen, klaren Licht erfüllt. Gleichzeitig hörte ich eine Stimme sagen:
»Für jemanden zu sterben ist vergleichsweise einfach. Das eigene Leben einem anderen tagtäglich darzubringen, ist dagegen eine Kunst. Vermagst du, dein Leben im Leben zu geben statt im Tode?«
»Ich will es versuchen«, gelobte ich im Geiste.
»So tu dein Bestes«, kam die Antwort.
»Das verspreche ich«, erwiderte ich.
Da empfand ich plötzlich einen schier unerträglichen Schmerz. Er war dermaßen heiß, dass es mir vorkam, als würde ich schmelzen. Mit meiner Dämonenstimme schrie ich, dass sämtliche Berge in der Umgebung ins Wanken gerieten. Daraufhin verfinsterte sich augenblicklich der Himmel, und mir schwanden die Sinne. War das der Tod, das Ende meiner Existenz als Dämon?
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich nach wie vor auf der Erde, doch war die jetzt zentimeterhoch mit Schnee bedeckt. Dabei hatten wir gegenwärtig doch Frühsommer! – Oder etwa nicht? Ich fühlte mich verwirrt und seltsam schwer. Die seit meiner Befreiung aus dem Berg von mir empfundene Leichtigkeit war verschwunden. »Pema«, kam es mir in den Sinn. Auch sie würde unter Schnee begraben sein. Ich musste rasch zu ihr. Doch als ich versuchte aufzustehen, ging ich vor Schreck gleich wieder in die Knie: Ich hatte einen Arm gesehen – meinen Arm.
Offenbar hatte der Scheinkörper aufgehört, Schein zu sein. Verwundert schaute ich mich an, tastete mich ab. Mein Bewusstsein war zwar weiterhin das meinige – also das von Erinnerungen Vivekanandas wie Simhas beeinflusste Ichbewusstsein eines Berggeists. Doch hatte dieser sich entweder verwandelt, oder ich war auf eine mir unerklärliche Weise wiedergeboren worden. Allerdings vermochte ich nicht zu sagen, als was. Als Mensch auf keinen Fall, war mein Körper doch blau!
Was oder wer ich war, und wie diese Verwandlung vonstattengegangen war – darüber konnte ich später nachdenken. Zunächst galt es, Pema zu finden – wenn es sie überhaupt noch gab. Wer weiß, in welche Realität es mich verschlagen hatte. Möglicherweise war viel Zeit vergangen, und wir hatten schon nicht mehr Frühsommer, sondern Anfang Winter? – Angesichts all dieser Unwägbarkeiten fiel es mir schwer, mich zu sammeln. Doch ging die angehende Yogini vor. Wo steckte sie bloß?
Da, unter der Schneedecke lag ein Körper! Ich grub ihn aus. Es war Pema. Sie fühlte sich vollkommen kalt an. So schnell ich konnte, trug ich sie in die Höhle, bereitete in einer Ecke ein gemütliches Lager, bettete sie darauf, entkleidete sie, rubbelte sie ab, zog ihr etwas Trockenes an, bedeckte sie mit Fellen, machte Feuer, verschloss den Eingang, damit die Wärme des Feuers in der Höhle blieb, kochte Tee und Brei. Anschließend setzte ich mich zu ihr und hielt ihre Hand. Während ich wartete, flehte ich Ssangtje Menla – den Buddha der Heilung – um Hilfe an, indem ich ununterbrochen sein Mantra rezitierte.
Ganz allmählich wich die Kälte aus Pemas Körper. Nach einer mir schier unendlich erscheinenden Zeit zwischen Hoffen und Bangen schlug sie endlich die Augen auf und sah mich an. Ich fürchtete, sie werde über den fremden blauen Mann an ihrem Bett erschrecken. Doch flüsterte sie bloß fragend:
»Tchöötjong-laq?«
Als ich vor Rührung äußerst leise und sanft mit »Ja« antwortete, war statt des Worts nur ein kurzes, kaum merkliches Grollen zu hören. In der Folge fielen einige Bergkristalle von der Decke. Anscheinend war ich nach wie vor ein Berggeist, dem statt Sprache lediglich Ausdrücke der Zerstörung gegeben waren. Pema schien das allerdings nicht zu stören, sondern sogar zu beruhigen: Sie lächelte schwach und wollte einschlafen. Das durfte ich jedoch nicht zulassen. Bei Unterkühlung schläft man sich schnell in den Tod. Daher holte ich rasch ein wenig Tee, rüttelte die Kranke sanft und zwang sie, das warme Getränk zu sich zu nehmen. Erst danach durfte sie sich ein wenig erholen.
Durch die zweite schwere Unterkühlung innerhalb von zwei Tagen kehrte das Fieber zurück. Daher war ich sehr glücklich, nun einen Körper zu haben, mit dem ich Pema helfen konnte. Allerdings war mir nicht recht klar, ob ich würde sterben müssen, sobald sie wieder richtig gesund war. Die Stimme hatte gesagt, ich solle für sie leben. Doch war keine Rede davon gewesen, auf welche Weise und wie lange.
Während ich über mein neues Versprechen nachdachte, mein Leben für Pema im Leben zu geben, fiel mir auf, dass es sich dabei eigentlich lediglich um eine Variante meines Bodhisattwagelübdes handelte. Immerhin hatte ich Düssum Tjenpa bereits gelobt, alles Erdenkliche zu tun, um anderen auf dem Pfad zum Durchbrechen des Kreislaufs leidvoller Wiedergeburten zu helfen. War die von mir erfahrene Gnade daher möglicherweise lediglich Ausdruck dessen, dass ich auf dem Bodhisattwapfad um einen Schwierigkeitsgrad nach oben gerückt war?
Ich wusste es nicht. Immerhin hatte ich mir bisher nicht einmal vorzustellen vermocht, dass ich in ein und derselben Existenz als Geistwesen mit einem von meinem bisherigen Körper unterschiedenen ausgestattet werden könnte. »Alles Erdenkliche« forderte offenbar weit mehr Fantasie von mir, als ich bisher aufgebracht hatte. Das war mir eine Lehre für die Zukunft.
Meinen neuen Körper empfand ich als ausgesprochen gewöhnungsbedürftig. Gegenüber der vormaligen Gestalt fühlte er sich dermaßen schwer und ungelenk an, dass ich fürs Erste in allen meinen Bewegungen einigermaßen ungeschickt war. Dabei glich das, was ich bis jetzt von diesem Gebilde erblickt hatte, dem Körper eines Mannes, sah man einmal von der sonderbaren blauen Farbe und der gewaltigen Größe ab. Trotz dieser Entdeckungen wurde ich den Eindruck nicht los, dass es sich lediglich um eine von meiner bisherigen Physis verschiedene Qualität von Schein handele: Wie mit jener empfand ich keinen Hunger, hatte kein Bedürfnis nach Schlaf und vermochte ausschließlich Zornesäußerungen von mir zu geben, selbst wenn ich in meinem Geist völlig anderes formulierte.
Da ein echter Organismus sterblich ist und mit dem Vergehen schnell beginnt, füttert man ihn nicht, dachte ich, zumindest einmal den Versuch unternehmen zu müssen, etwas zu essen. War es nicht denkbar, dass Hungergefühle sich erst mit der allerersten Nahrungszufuhr einstellten? – Um herauszufinden, wie es in dieser Hinsicht nun wirklich um meinen neuen Körper bestellt war, nahm ich mir einen Holzlöffel und machte mich über Pemas Brei her. Dies führte sogleich zu der Erkenntnis, dass ich nicht fähig war, etwas zu essen: Zwar bekam ich den Löffel bis vor meinen geöffneten Mund, doch nicht einen Millimeter weiter. Es war, als gebe es dort eine unsichtbare Grenze, die zu überschreiten ich trotz aller Kraftanstrengung nicht in der Lage war. Handelte es sich bei diesem neuen Körper also doch bloß um eine Illusion? Verfügte er möglicherweise lediglich über ein Äußeres, aber kein Inneres?
Um Antwort auf diese Fragen zu finden, führte ich ein weiteres Experiment durch: Ich suchte mir eine wilde Winterzwiebel, zerschnitt sie und hielt mir die Stückchen direkt vor die Augen. Nichts geschah. Daraufhin zerdrückte ich alles und rieb mir die Augäpfel damit ab: Wieder nichts. Hier flossen keine Tränen. Es ging nichts hinein und nichts hinaus. Der neue Körper war eine Fassade – eine kraftvolle zwar, doch nicht mehr. Er ermöglichte es mir, Dinge anzufassen, zu heben, zu tragen, ja insgesamt alles zu tun, was mit Händen und Füßen machbar ist.
Auf der anderen Seite hinderte er mich daran, zurück in den Felsen zu gehen. Diese Art Rückzug würde mir in Zukunft verwehrt sein. Mein Ich war jetzt mit einer äußeren Begrenzung ausgestattet – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte. Das war alles. Bei meiner Existenzform handelte es sich auch weiterhin um die eines Berggeists. Nur verfügte ich nun über eine veränderte, auch für mich selbst sicht- wie fühlbare Illusion eines Körpers.
Als ich mir im Anschluss an diese Einsicht sämtliche meiner in letzter Zeit neu eingegangenen Verpflichtungen ins Gedächtnis rief, fiel mir auf, dass ich mit dem veränderten Körper noch weit mehr beschenkt worden war, als es mir bisher bewusst gewesen war: Auf gewisse Weise verhinderte dieses schwere Etwas, dass ich zu leicht zu ungestüm wurde. Damit war die neue Körperlichkeit geeignet, mich in meinen Bemühungen um das Verhindern eines Zuviel zu unterstützen – was nicht hieß, dass ich es mir jetzt hätte leisten können, unachtsam zu sein. Achtsamkeit hatte ich jedoch ohnehin versprochen. Dieser Gedanke lenkte mich von mir selbst ab und veranlasste mich, abermals nach meiner Schutzbefohlenen zu schauen.