Heilendes Sitzen

Als ich nach dem durch Pemas Liebesgeständnis ausgelösten Wortwechsel mit einer Sammlung heilkräftiger Wurzeln, Kräuter und Moose von meinem kurzen Ausflug in die Bergwelt zur Höhle zurückkehrte, schlief meine Verehrerin. Das Fieber hatte sie erneut gepackt. Davon nicht überrascht machte ich ihr etwas zu essen und bereitete danach einige Sofortarzneien zu. Sobald deren Herstellung abgeschlossen war, weckte ich die Patientin.

Ihr keine Gelegenheit bietend, etwas zu sagen, bedeutete ich ihr, dass sie mich bis auf Weiteres als ihren Arzt zu betrachten und meinen Anweisungen Folge zu leisten habe. Die erste war, dass sie schwieg, die zweite, dass sie so viel zu ruhen versuchte, wie möglich. Außerdem zwang ich sie zu essen und zu trinken.

Zwar fügte Pema sich und trank den von mir zubereiteten Tee, doch war dabei nicht zu übersehen, dass der ihr nicht schmeckte. Trotzdem unterzog sie sich nach dessen Genuss tapfer der von mir vorbereiteten Inhalation. Damit hatte sie von meinen medizinischen Behandlungen allerdings bereits genug. Nur widerwillig ließ sie es sich gefallen, dass ich sie aufrichtete, ihr Hemd hob und ihr den Rücken mit einer Mixtur aus Kräutern und Fett einrieb. Als ich das Gleiche mit der Brust tun wollte, streikte sie endgültig.

»Ich bin dein Arzt«, gab ich ihr zu verstehen.

Mir das Gefäß aus der Hand reißend entgegnete Pema kurz angebunden:

»Das kann ich schon selbst. Danke«, und behandelte sich ohne meine Mithilfe.

Jetzt waren wir also aus Gekränktheit und Scham zur Trotzphase übergegangen. Das war nicht anders zu erwarten gewesen. Mit zunehmender Genesung würde meine Braut schon wieder umgänglicher werden. Das hoffte ich zumindest. Bei ihrem Dickschädel konnte man sich nie sicher sein!

Für ihre Anteilnahme und ihre lieben Gedanken empfand ich Pema gegenüber große Dankbarkeit. Gerade deswegen durfte ich ihr aber nicht verheimlichen, dass sie sich auf dem Holzweg befand. Ist man jung, geschieht es leicht, dass man Bewunderung mit Liebe verwechselt – insbesondere, wenn es im eigenen Herzen bereits winzige Spuren von echter Liebe gibt. Im Gegensatz zu dieser handelt es sich bei Bewunderung jedoch um ein sich leicht von der ursprünglich angehimmelten Realität entfernendes Phänomen der eigenen Vorstellung. Daher wird diese Idee früher oder später unweigerlich von der Wirklichkeit eingeholt, was zwangsläufig zu Enttäuschung über das ehemals bewunderte Objekt führt. Enttäuschte Liebe aber kehrt sich leider gern in Hass.

Diese Gedanken … woher kamen die bloß auf einmal? Und weshalb kannte ich diesen Mechanismus? Hatte ich etwa in einem meiner Vorleben einmal jemanden enttäuscht, der mich voller Bewunderung geliebt hatte? War ich dafür gehasst worden? Oder war ich gar selbst der Hassende gewesen?

Mit gequälter Stimme unterbrach Pema meinen inneren Diskurs:

»Tchöötjong-laq, würdet Ihr bitte endlich einmal aufhören zu denken? Ich bin zu müde, um Eure Gedanken als solche wahrzunehmen. Gleichzeitig verhindert das Hintergrundrauschen Eures ständigen Geredes in meinem Kopf aber, dass ich auch nur den leisesten Hauch von Ruhe finde.«

Obwohl es mir schwerfiel, die soeben aufgekommenen Fragen vorerst unbeantwortet zu lassen, sah ich ein, dass es gegenwärtig besser war, Pema zuliebe zu schweigen. Da ich sie in ihrem Zustand nicht allein lassen wollte, ließ ich mich neben ihrem Bett nieder und machte meinen Kopf durch Meditation frei. Glücklicherweise hatte ich durch mein Sitzen mit den Yoginis und Nonnen Abermillionen Stunden Erfahrung darin.

Von nun an verbrachte ich meine Zeit, ohne Gedanken zu haben, vor mich hinstarrend im Sitzen, allein davon unterbrochen, Pema ab und zu einen Becher Wasser oder Tee zu reichen, sie zu füttern oder ihr Wadenwickel gegen das Fieber zu machen. Wenn sie schlief, musste ich allerdings manchmal vor die Höhle gehen, um mir die Beine zu vertreten und einige Yogaübungen zu machen. Mein neuer Körper war es nicht gewohnt, über Stunden hinweg in Meditationshaltung auszuharren. Daher tat mir buchstäblich alles weh – eine bisher ungewohnte Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte.

Trotzdem tat diese Meditation uns beiden ausgesprochen gut. Deshalb führte ich sie selbst dann weiter fort, nachdem Pemas Körper das Fieber bezwungen hatte. Erst nach mehreren Wochen, als die vollkommene Gesundung meiner Patientin es ihr ermöglichte, von nun an wieder selbst für sich zu sorgen, beendete ich mein Sitzen.

Kaum hatte ich mich erhoben, brach Pema sogleich das Schweigen, das unsere Meditation von Beginn an begleitet hatte:

»Wie habt Ihr das gemacht?«

Da ich außer aufzustehen eigentlich noch gar nichts getan hatte, fragte ich mich, was ich nun schon wieder angestellt haben könnte. Auf die durch meine Unsicherheit bezüglich unserer Beziehung hervorgerufenen Selbstzweifel und den dadurch verursachten Verdacht, kritisiert worden zu sein, reagierte Pema prompt:

»Nein, ich wollte damit nicht sagen, dass Ihr etwas falsch gemacht hättet. Ich meinte, wie Ihr es fertigbringt, über eine dermaßen lange Zeit keinen einzigen Gedanken zu haben außer ›Pema iss‹, ›Pema trink‹, ›Warte, ich helfe dir aus dem Bett‹ und so weiter. Bisher kannte ich Euch lediglich als jemanden, der, wenn er nicht in der Natur unterwegs ist, entweder von irgendwelchen Emotionen geschüttelt wird oder ständig über etwas nachdenkt. Wie kann man das so einfach abschalten? Ich selbst habe während der letzten Wochen viel nachdenken müssen.«

Zu Beginn hatte ich das gesehen. Doch hatte ich gedacht, sie sei mit der Zeit ruhiger geworden.

»Das bin ich auch – aber nur, weil Ihr diese unglaubliche Ruhe ausgestrahlt habt. Bitte sagt mir, wie Ihr das macht. Ich möchte das genauso gut können wie Ihr!«

»Wenn du weiterhin derart ungeduldig bist, wirst du es nie lernen. Sei dir gegenüber achtsam, und übe dich darin, Geduld wie Verständnis für dich selbst aufzubringen, falls es dir nicht gleich gelingt, innere Ruhe wie Achtsamkeit zu erschaffen und beides anschließend auch beizubehalten. Versuch, möglicherweise aufkommende Probleme zu lösen, doch erlaube ihnen nicht, dich von deinem Ziel abzubringen. Sei konsequent und mach dir stets klar, was Priorität hat. Verzeih dir selbst und gib nicht auf. Der Rest ist Übung«, übermittelte ich ihr meine Gedanken.

»Und wie lange habt Ihr geübt?«

»Eine dermaßen endlose Zeit, dass ich sie nicht zu beziffern vermag«.

Kaum hatte ich das gesagt, sah Pema auf einmal völlig niedergeschmettert aus. Daher beeilte ich mich hinzuzufügen:

»Das darf dich nicht entmutigen. Ich bin kein Mensch. Dämonen machen alles im Extremen. Wenn du willst, kannst du gleich draußen in der Sonne mit dem Üben anfangen, während ich dir einen Wintervorrat an Feuerholz besorge.«

Damit ließ ich Pema allein. Mein Körper benötigte dringend Bewegung. Außerdem musste ich ein wenig für mich nachdenken, ohne dass sie mithörte. Bevor meine Schutzbefohlene mich vor einigen Wochen um Ruhe gebeten hatte, war mir ein Gedanke gekommen, den ich nicht hatte weiterverfolgen können. Zwar hatte der geduldig auf seine Zeit gewartet, doch wollte er jetzt endlich gedacht werden. »Enttäuschte Liebe, Hass«, ging es mir durch den Kopf. Gleichzeitig fühlte ich Widerstand in meinem Herzen.

Dieses Gefühl von innerer Auflehnung zeigte mir, dass ich auf der richtigen Spur war. Da gab es negatives Karma aus einem meiner Vorleben. Entweder hatte ich jemanden enttäuscht und so Hass provoziert, oder ich war selbst der Hassende aus Enttäuschung gewesen – möglicherweise sogar beides. Wie auch immer sich das verhalten mochte, ich war mir sicher, dass es sich bei dem zu Entdeckenden um eine äußerst unerfreuliche Angelegenheit handelte. Sonst hätte es nicht diesen reflexartigen Widerstand gegeben. Wer widmet sich schon gerne freiwillig den unangenehmen Seiten der eigenen Person?

Der Grund, dass ich mich trotzdem daranmachte, in meinem Innersten danach zu forschen, bestand nicht in einer irgendwie gearteten Form von Morbidität. Vielmehr war ich der festen Überzeugung, dass sich manchmal die Chance bietet, schlech­tes Karma aufzulösen, ohne dass es zu negativen Auswirkungen in der Gegenwart und damit zu neuem schlechten Karma kommt. Diese Gelegenheit galt es, am Schopfe zu packen, wie schmerzhaft das auch immer sein mochte.

Während ich mit der Axt das im Wald reichlich vorhandene Bruchholz bearbeitete und transportfertig machte, visualisierte ich daher Ssangtje Mitjööpa. Dabei rezitierte ich unablässig sein Mantra in der demütigen Hoffnung, dass er mir helfen werde, Standhaftigkeit zu bewahren und die mich in diesem Leben behindernden Lasten aus vergangenen Existenzen abzubauen.

Es dauerte einige weitere Wochen, bis ich endlich Antwort auf meine Frage fand. Da zu diesem Zeitpunkt bereits die Nacht hereingebrochen war, hatte Pema sich zum Schlafen in ihre Höhle zurückgezogen. Ich hingegen saß draußen, ein Stück weit vor deren Eingang und bestaunte das Wunder des Sternenhimmels.

Wie ist es möglich, dass etwas, das räumlich wie zeitlich derart weit entfernt von einem selbst ist, einem trotzdem solch tiefen Frieden im Herzen zu bereiten vermag, während man zu der Frau, die man liebt und die einen sogar wiederliebt, keine Beziehung findet?

Diese Frage erklang in mir, weil ich seit Pemas Gesundung Abstand von ihr suchte. Obwohl es offensichtlich war, dass sie das fühlte, hatte sie bisher nichts dazu gesagt. Dafür, dass sie den Status quo fürs Erste akzeptierte, war ich ihr dankbar. Doch bemerkte ich gleichzeitig, wie sie mich immer wieder forschend betrachtete. Von meinem Blick hatte sie einmal gesagt, er dringe ihr direkt ins Herz und manchmal fürchte sie sich davor. Das war mir Grund genug, Nähe zu verweigern: An mir gab es zu viel, das anderen Angst einjagte, und vor dem ich daher selbst zurückschreckte.

Seit Pema auf diesen Berg gekommen war, hatte ich mich nicht nur in sie verliebt, sondern endlich auch Frieden mit dem zu Simha pervertierten Vivekananda geschlossen. Ja, ich hatte sogar gelernt, diesen tief in mir wohnenden Dämon wahrhaft zu lieben. Doch trotz dieser erheblichen Stärkung meiner menschlichen Seite würde ich immer ein Berggeist bleiben.

Pema hatte mir vor Augen geführt, wie zerbrechlich der Mensch im Vergleich zu einem Dämon ist – selbst wenn dieser Mensch über einen derart starken Willen verfügte wie sie. Daher rührte meine plötzliche Angst davor, die Vergangenheit könne sich wiederholen und ich würde meine Schutzbefohlene unabsichtlich noch mehr verletzen, als ich es am See getan hatte. Ich war und blieb ein Berggeist. Dem zu nahe zu kommen, konnte für einen Menschen äußerst gefährlich werden. Was, wenn ich trotz all meiner Bemühungen die Kontrolle über mein dämonisches Wesen verlor?

Ich liebte Pema viel zu sehr, als dass ich sie jemals wieder einer Gefährdung ausgesetzt hätte. Doch wusste ich nicht, wie ich ihr das erklären sollte. Um meine Bedenken zu teilen, war ihr jugendliches Wesen viel zu sehr von einem starken Hang zu idealistischer Schwärmerei geprägt. Dessen ungeachtet musste bald etwas geschehen um zu verhindern, dass sie letzten Endes an mir und meinem Dämonentum zu Grunde ging.

Warum bloß hatte die junge Möchtegern-Yogini sich ausgerechnet in mich verliebt? Unsere Liebe hatte nicht die geringste Chance auf Erfüllung. Wäre es daher nicht besser, ich würde mein Leben von ihr, ja von der gesamten Menschheit ungeliebt verbringen?