Von allen guten Geistern verlassen

Wenn ich nur daran dachte, dass mich die durch die Enthüllung meiner wahren Abstammung verursachte tiefe Kränkung zum Mörder hatte werden lassen, glaubte ich, verrückt werden zu müssen. Doch ließ dieser Gedanke sich trotz aller Bemühungen um Vergessen nicht beiseiteschieben. Dabei war bereits allein das meine Herkunft betreffende Geflecht aus alten Lügen und neuen Wahrheiten bestens geeignet, mich in den Wahnsinn zu treiben: Meine Mutter war nicht meine Mutter gewesen und mein Vater nicht mein Vater. Gleichzeitig hatte sich dieser Mann, der nicht mein Vater gewesen war, dadurch dass er mich als hilflosen Säugling gerettet hatte, trotzdem irgendwie zu meinem Vater gemacht – mit der Folge, dass er es gleichzeitig gewesen und nicht gewesen war. Dafür hatte es sich bei meinem leiblichen Vater um einen inzestuösen Vergewaltiger und bei meiner leiblichen Mutter um eine wahnsinnige Selbstmörderin gehandelt, die zuvor sogar auch mich hatte töten wollen.

Hätten sie mich damals nach meiner Geburt doch bloß im Dreck der Abfallgrube verrecken lassen! Ich fühlte, dass sie alle Recht hatten: Der Kehrichthaufen, nicht der Thron war der mir eigentlich zukommende Platz. Am liebsten hätte ich mir das Leben genommen. Doch was wäre in dem Fall aus Magadha geworden? Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen, die mir niemand abzunehmen vermochte. Wen im gesamten Reich gab es, der genauso qualifiziert gewesen wäre, das Amt des Königs auszuüben, wie ich? Immerhin war ich von klein auf dazu erzogen worden. Und auch ohne ein Kind aus dem Herrscherhaus von Magadha zu sein, floss in meinen Adern königliches Blut. Inzest hin oder her, ich war trotz der damit verbundenen Schande ein Sohn der Herrscher von Licchavi. Sowohl mein Erzeuger als auch mein Ziehvater hatten gewollt, dass ich als Prinz von Magadha aufwuchs, um später einmal König dieses Reichs zu sein. Sie sollten ihren Willen haben.

Womöglich war es ein erstes Anzeichen von Wahnsinn als Ergebnis der Inzucht oder weil ich die Geisteskrankheit meiner leiblichen Mutter geerbt hatte, doch verschaffte es mir Genugtuung zu wissen, dass ich – der vermeintlich nur für den Unrat taugliche Dämon – jetzt zeigen konnte, dass ich das Zeug zum König hatte. Ich würde ihnen allen, ob tot oder lebendig, beweisen, dass ich ein großer Herrscher zu sein vermochte. Unter mir sollte Magadha zu einer allseits gefürchteten Macht werden!

Erst einmal musste ich jedoch heiraten. Nur zwei Wochen nach dem Tod meiner Eltern fand die noch von meinem Vater arrangierte Hochzeit mit der mütterlicherseits von den Sha­kya abstammenden Tochter des Magadha tributpflichtigen Königs von Vanga statt. Da eine Stärkung der Allianz mit meinem südöstlichen Nachbarn mir nicht nur weiterhin Zugang zum Östlichen Meer sicherte, sondern auch den Rücken für meine im Hinblick auf Magadha gehegten Großmachtpläne freihielt, dachte ich trotz der offiziellen Trauerzeit nicht eine Sekunde lang daran, dieses Ereignis abzusagen – selbst dann nicht, als König Prasenajit von Kosala glaubte, die Gunst der Stunde nutzen zu können, den erst sechzehnjährigen neuen Herrscher Magadhas um die Mitgift zu betrügen, die Prasenajits Schwester Kosaladevi in die Ehe mit König Bimbisara eingebracht hatte. Es kam mir im Gegenteil sehr gelegen, gleich am Tag nach meiner Hochzeit zu einer Militäraktion aufbrechen zu müssen, um mir die von mir als mein Eigentum betrachteten Steuereinnahmen von Kashi zurückzuholen: Die Notwendigkeit, die anstehenden Kampfhandlungen vorzubereiten, verschaffte mir einen Vorwand, die von mir gefürchtete Hochzeitsnacht auf unbestimmte Zeit zu verschieben.

Nach dem gelungenen Feldzug gegen Kosala – meinem ersten militärischen Erfolg als König – rüstete ich meine Truppen, damit ich endlich das tun konnte, was ich gleich bei meiner Entscheidung für den Thron Magadhas beschlossen hatte: Nur ein Jahr nach Übernahme der Herrschaft erklärte ich Chetaka – meinem Großvater und möglicherweise gleichzeitig auch Vater – samt seiner verdorbenen Sippschaft den Krieg. Die Licchavi, die mich nicht als einen der Ihren hatten anerkennen wollen, sollten untergehen – und mit ihnen die gesamte verdammte Vrji-Konföderation! Damit rächte ich meine so grausam behandelte leibliche Mutter und strafte nebenbei das Geschlecht der Kosala, dem meine Ziehmutter entstammte, und das wie die Licchavi dem Staatenbund der Vrji angehörte.

Der Gedanke an Rache und Strafe beherrschte mich vollkommen. Niemand hatte mich jemals wirklich und uneigennützig geliebt! Bis auf das Thronversprechen war alles in meinem Leben Lüge gewesen! Da der Thron mir treu war, beschloss ich, es ihm auch zu sein und Magadha mein Leben zu widmen. War ich bei den Truppen im Feld, gelang das halbwegs. Zu Hause, in dem mir als Regierungssitz dienenden Palast zu Raja­griha dagegen konnte davon keine Rede sein. Hier schienen mich jeder Raum und jeder Gegenstand an das von mir verübte grausame Verbrechen zu erinnern: Immer wieder sah ich auf den Wänden Blutflecken auftauchen, die mir meine unermessliche Schuld drastisch vor Augen führten.

Mittlerweile war aber nicht nur meine Vergangenheit mit Schuld befrachtet: Durch den von mir begonnenen Krieg hatte ich mich in einen endlosen Todesreigen verstrickt. Dabei be­lasteten mich diejenigen, die ihr Leben meinetwegen auf dem Schlachtfeld gelassen hatten, noch am wenigsten. Immerhin hatten auch sie zuvor getötet. Und sie hatten die Gelegenheit gehabt, sich zu wehren. Dass meine Feinde ihre Chancen fleißig nutzten, bezeugten meine zahlreichen Narben – in etlichen Schlachten hatte auch ich bereits meinen Teil abbekommen.

Die Toten jedoch, die ich nicht als Heerführer, sondern als König zu verantworten hatte, ließen mich nicht ruhen: Wer auf meine Veranlassung hin bei Hinrichtungen oder durch die ihm auferlegte Folter zu Tode kam, war zuvor meiner Macht wie den sie Ausübenden ohnmächtig und hilflos ausgeliefert gewesen. Solch Wehrlose zu töten, verzieh mein Gewissen mir nicht – vermutlich, weil auch meine Zieheltern mir bei ihrem Tod schutzlos ausgeliefert gewesen waren.

Und so erhielt ich des Nachts Besuch von den Toten. Das Szenario dabei war stets gleich, ob ich nun auf meiner Bettstatt wachlag oder schlief: Noch bevor ich sie hörte, fühlte ich sie bereits aus der mich umgebenden Finsternis kommen. Mit reibenden Stimmen sangen sie eine undefinierbare Melodie, die dermaßen unheimlich und schräg klang, dass mir sämtliche Haare zu Berge standen. Kaum vernahm ich diesen Gesang, sah ich sie auch schon: unbeständige, mit grellem Licht in die Schwärze der Nacht gemalte Schemen. Da war mein Ziehvater, der sein zerbrochenes Herz in der Hand hielt und klagte, ich hätte niemals geboren werden dürfen. Ihm auf dem Fuße folgte die mich auf den Abfallhaufen zurückwünschende Kosaladevi, die mir drohte, sie werde schon jemanden finden, meinen Schädel in tausend Stücke zu schlagen.

Sobald sie das gesagt hatte, gingen die von mir in der Schlacht Getöteten mit allen möglichen Waffen auf mich los. Angefeuert wurden diese die unterschiedlichsten Verletzungen aufweisenden Gefallenen von den Hingerichteten und den gleichfalls auf vielfältigste Weise entstellten Gefolterten. Letztere drohten mir unverhohlen: Sobald die anderen Toten erst einmal mit mir fertig seien, würden sie mir dieselben Qualen zufügen, an denen sie selbst gestorben seien. Kaum war diese Drohung ausgesprochen, wurde ich von sämtlichen Geistern umzingelt. Sie kamen näher, zogen den Kreis um mich enger und enger. Dabei strich ein eisiger Wind über meine Haut und fuhr mir anschließend in die Glieder. Er roch streng und modrig – nach altem Blut und Verwesung.

Obwohl ich vor Kälte und noch viel mehr vor Angst zitterte und bebte, war ich in kürzester Zeit schweißgebadet. Sobald der erste der Toten mich anfasste, schrie ich mir vor Entsetzen die Seele aus dem Leib. Daraufhin kamen regelmäßig ausgewählte Diener in mein Schlafgemach gestürzt, um nach ihrem Herrscher zu sehen. Das Licht ihrer Öllampen schienen meine Opfer nicht zu ertragen: Sie zerfielen zu Staub, der von dem sich nun entfernenden Wind in die Finsternis getragen wurde.

War der Albtraum vorüber, lag ich mit geballten Fäusten auf meinem Bett und wurde noch lange danach von Bewegungsunfähigkeit gequält, da sämtliche Muskeln dermaßen verkrampft waren, als sei mein Körper bereits in Leichenstarre verfallen. Ohne bewegliche Brustmuskulatur fühlte ich mich dem Ersticken nah. Zu sprechen war mir mit meiner voll­kommen ausgedörrten Kehle und den fest aufeinander gepressten Zähnen schon gar nicht möglich. Erst, wenn die Diener mich geraume Zeit lang warm gerubbelt hatten, kehrte das Leben in mich zurück.

Gegen die nächtlichen Anfälle half einzig und allein, das Schlafen grundsätzlich zu vermeiden. Infolge dieses Verhaltens litt ich bald an chronischem Schlafmangel, der in Kombination mit meiner ständigen Überarbeitung einen Zustand dauerhafter Erschöpfung bewirkte. Es dauerte nicht lange, und meine Verfassung hatte sich dermaßen verschlechtert, dass es zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten immer wieder zu kurzen, komaartigen Schlafattacken kam. Aus Angst vor dem Albtraum versuchte ich trotzdem, mein Schlafen so weit wie möglich auf diese kurzen Zwangsunterbrechungen zu beschränken. Doch stellte das auf lange Sicht selbstverständlich keine Lösung dar.

Schlug ich gerade keine Schlachten, suchte ich mein Heil daher in der Religion: in den Veden, bei den Brahmanen und in weit stärkerem Maße bei den vielen neuen, sich in Maga­dha etablierenden spirituellen Bewegungen. Obwohl ich dabei nicht fand, wonach ich suchte, förderte ich sämtliche auf das Heil der Menschen gerichteten Bestrebungen in meinem Land – und zwar unabhängig davon, ob sie mir eher religiös, spirituell oder philosophisch ausgerichtet erschienen. Zugegebenermaßen tat ich das nicht aus echter Wertschätzung. Denn obschon ich die Bedeutung all dieser Bestrebungen zwar zumindest ahnte, war ich nicht fähig, sie richtig einzuschätzen, da sie mir persönlich nun einmal nichts zu geben vermochten. Insofern hatte ich mich nicht aufgrund eines echten Her­zensbedürfnisses zu ihrem Förderer gemacht, sondern lediglich, weil ich gelernt hatte, ein Kschatrija und König sei der Beschützer jeglicher Spiritualität und ihrer Anhänger.

Mit dem Mahavira – dem Begründer des Jainismus – war ich über meine leibliche Mutter sogar verwandt. Ungeachtet der Tatsache, dass ich für den Rest seiner Sippe nicht viel übrighatte, empfand ich großen Respekt vor diesem Mann. Deshalb machte ich ihm mehrfach meine Aufwartung. Das war nicht schwer, hielt er sich doch oft für längere Zeit in der Umgebung Rajagrihas auf. Trotzdem sah ich mich außerstande, seiner Lehre zu folgen. Der Mahavira forderte strikte Gewaltlosigkeit. Das ging so weit, dass seine Anhänger beim Gehen die Straße vor sich fegten, um selbst noch den kleinsten Wurm davor zu bewahren, von ihnen zertreten zu werden. Ich aber war ein König, befand mich im Krieg. Ich konnte nicht einfach meinen Posten verlassen und Magadha sich selbst überlassen, um mein schlechtes Karma durch Askese aufzulösen! Unter Umständen war das eine Option für meine ferne Zukunft, wenn ich ein alter Mann war und einem meiner Söhne das Regieren überlassen konnte. Für die Gegenwart bot Mahaviras Lehre mir jedenfalls nicht die erhoffte Hilfe.

Auf die konnte ich allerdings nicht bis zu meinem Alter warten. Seit dem Tod meiner Eltern waren mittlerweile sieben Jahre verstrichen – Jahre, die mich trotz meiner Jugend ausgezehrt und meine Nerven zerrüttet hatten. Kam die ersehnte Hilfe nicht bald, würde ich niemals ein fortgeschrittenes Alter erreichen. So, wie die Dinge lagen, war ich im Gegenteil eher dabei, rasend schnell vollkommen wahnsinnig zu werden.