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Mein Leibarzt war wohl der Einzige, der die tieferliegenden Gründe für mein sonderbares Verhalten verstand. Er vermochte es, einen Zusammenhang zwischen meiner Suche nach einem spirituellen Weg und meinem sonstigen Gebaren herzustellen, das sich nicht nur durch Albträume, Schlafvermeidung, Arbeitswut und den Drang nach Krieg ausdrückte. Mein Verhalten war grundsätzlich von einer sich in Schonungslosigkeit wie Distanziertheit äußernden Gefühlskälte bei gleichzeitig heißblütiger Unbeherrschtheit gekennzeichnet. Da ich noch dazu spontan mit Vermeidung auf die von mir vor meinem Umfeld verheimlichten Visionen von Blutflecken und dergleichen reagierte, galt ich zudem als völlig unberechenbar. Vermutlich spürte nicht nur ich selbst, dass ich dem Wahnsinn nahe war.

Da der Vaidya erkannt hatte, dass die gesundheitlichen Probleme, über die ich mich bei ihm beklagte, auf keine körperlichen Ursachen zurückzuführen waren, hatte er mir bereits in der Vergangenheit mehrfach geraten, Gautama Buddha aufzusuchen, der auf seinen Lehrreisen manchmal auch in die Nähe meines Palasts kam. Das zu tun aber weigerte ich mich strikt. Der Mann, den sie den »Erwachten« nannten, hatte mir in meiner Kindheit die Aufmerksamkeit und Liebe meines Vaters gestohlen: Damals hatte der Buddha den Hof recht häufig mit seinem Besuch beehrt. Bei diesen Gelegenheiten hatte mein Ziehvater als sein Laienschüler stets einige Stunden für ihn freigemacht. Für mich dagegen hatte der große König niemals Zeit gehabt – nicht bei diesen Besuchen und auch sonst nicht. Immer war er viel zu beschäftigt gewesen. Dafür hatte er Onkel Siddhartha, wie ich den Erwachten kindlich nennen durfte, einmal sogar sein halbes Königreich angeboten. Als könne er einfach so über die Zukunft verfügen – Magadhas Zukunft und damit auch die meine! Man stelle sich nur einmal vor: Kurz bevor ich ihn wegsperren ließ, wollte König Bimbisara sogar den gesamten Staatsbesitz an Bedürftige verschenken – wer auch immer das sein sollte!

Privat stand es meinem Vater frei, zu tun und zu lassen, was er wollte. Als König hingegen hatte er den Verpflichtungen eines Herrschers nachzukommen. Es ging nicht an, ausschließlich an die persönliche Vervollkommnung zu denken. Die königlichen Obliegenheiten verlangten, vor allem anderen erst einmal Magadhas Wohl im Sinn zu haben. Warum hatte mein Vater nicht einfach abgedankt, sein Privatvermögen verschenkt und war Mönch geworden? Nicht einmal der Buddha selbst hatte ein Doppelleben als Prinz und Mönch geführt! Er hatte sich gegen den Staatsdienst entschieden. Das war in Ordnung. Was König Bimbisara in seiner Altersverwirrtheit gewollt hatte, war es nicht.

Aufgrund all dieser Umstände vermochte ich »Buddha« nicht ohne »Vater« zu denken. Dementsprechend hasste ich den Erwachten von ganzem Herzen und lehnte es folgerichtig vehement ab, ihn zu besuchen. Dabei entsprang mein abgrundtiefer Hass eigentlich der Eifersucht sowie der Enttäuschung über meinen Vater. Trotzdem gab ich dem Tathagata die Schuld am Verhalten meines alten Herrn mir gegenüber und rechtfertigte das vor mir selbst mit dem großen Einfluss, den der Erwachte auf König Bimbisara gehabt hatte.

Diese Haltung war kindisch und unangebracht. Doch obwohl ich mir dessen eigentlich bewusst war, fand ich nicht die Kraft, mich zu überwinden. Die emotionale Verknüpfung meines inneren Bilds vom Buddha mit der Erinnerung an meinen Ziehvater bewirkte vielmehr, dass allein die Nennung eines der Namen oder Titel des Erwachten mir schmerzlich die eigene Schuld am Tod meiner Eltern ins Gedächtnis rief. Das aber wollte ich verständlicherweise um jeden Preis verhindern.

Um dem von mir empfundenen Schmerz sowie meinem schlechten Gewissen zu entfliehen, führte ich Krieg: Krieg gegen nahezu sämtliche Nachbarstaaten Magadhas und Krieg gegen mich selbst, den Elternmörder. Krieg gegen meine Erinnerungen und Krieg gegen die mich Tag wie Nacht verfolgenden Erscheinungen. Nur gegen meine mittlerweile acht Gattinnen, die ich ausnahmslos aus strategischen Beweggründen geehelicht hatte, führte ich keinen Krieg – noch nicht. Da unser Verhältnis weit entfernt von den Wohltaten wahren Friedens war, stand diese Möglichkeit allerdings stets unausgesprochen im Raum. Insofern hätte man die Beziehung zu meinen Ehefrauen auch als eine Art Waffenstillstand bezeichnen können, zumal es zwischen uns keine Liebe gab.

Ich liebte überhaupt niemanden – mich selbst schon gar nicht. Doch brachte ich es ebenso wenig übers Herz, meinen Gemahlinnen das anzutun, wodurch mein Erzeuger meine leibliche Mutter letzten Endes in den Tod getrieben hatte. Wenn ich nur daran dachte, mich einer meiner Angetrauten auf intime Weise zu nähern, stieg vor meinem inneren Auge das Bild meiner wahnsinnigen Mutter auf, wie sie sich aus Verzweiflung das Leben nahm.

Meine Gattinnen taten mir leid. So wie ich sie behandelte, waren sie allesamt davon überzeugt, ich sei verrückt. Schließlich kam ich nicht nur meinen ehelichen Pflichten nicht nach, ich zeigte auch keinerlei sonstige sexuelle Präferenzen. Als mehrfach verheirateter König lebte ich wie ein Mönch und schlief immerzu allein. Was nicht ganz stimmte. Doch wussten sie das nicht, ahnten es höchstens: Die Toten ließen mich niemals allein, sie verfolgten mich überallhin. Tagsüber lenkte ich mich stets mehr oder weniger erfolgreich ab, nachts jedoch gab es für mich kein Entrinnen. Mein davon hervorgerufener, durch ständige Nachtarbeit geprägter Lebensstil ging mittlerweile über meine Kräfte. Bereits der Krieg mit den Nachbarstaaten wäre für jeden Herrscher eine Herausforderung gewesen. Doch was mich letztlich aushöhlte, war nicht dieser äußere, sondern der innere, gegen mich selbst geführte Krieg.

Eines Tages fasste sich Dharani – die von meinem Ziehvater ausgewählte erste meiner Ehefrauen – ein Herz: Sie besuchte mich in meinen Gemächern und sagte mir ins Gesicht, dass ich meine Gattinnen trotz meiner Jugend zu Witwen machen würde, ginge ich weiterhin derart mit mir selbst um. Weil ich wusste, dass sie die Wahrheit sprach, wurde ich unglaublich wütend. Schon ging ich auf sie los, als ein grausiges Bild vor meinem inneren Auge erstand: Es zeigte mir, wie Kosaladevi während meines tödlichen Angriffs auf sie ausgesehen hatte. Der davon ausgelöste Schock bewirkte, dass mir die Hand in der Luft erstarrte. Nur Sekunden später griff ich nach dem Handgelenk meiner Gemahlin und führte ihre Rechte gegen mein Gesicht. Während ich mich mit dieser schlug, rief ich ein ums andere Mal:

»Schlagt mich, so schlagt mich doch!«

Als ich Dharanis Hand losließ, tat sie jedoch nichts dergleichen. Stattdessen stand sie bloß da und starrte mich mit Tränen in den Augen an. Verzweiflung wie Scham schnürten mir die Kehle zu. Da ich dies aber nicht zeigen wollte, wandte ich mich von meiner Gattin ab, um den Raum zu verlassen. Da hörte ich, wie sie auf einmal leise in meinem Rücken sprach:

»Bitte, mein Gemahl, so lasst Euch doch helfen! Ihr seid gar nicht so schlimm, wie Ihr glaubt.«

Schon wollte ich abermals wütend werden. Doch etwas in Dhar­anis Stimme hielt mich davon ab. Diesem ungewissen Etwas folgend drehte ich mich um und fragte um Haltung bemüht:

»Wie meint Ihr das?«

Die Hände ringend und mit den Augen den Fußboden inspizierend, während sie ihr Gewicht verlegen von einem Bein auf das andere verlagerte, entgegnete die erste meiner Ehefrauen:

»Nun, sämtliche Eurer Gemahlinnen … Jede von uns hat verheiratete Mütter, Tanten, Schwestern. Sie werden von ihren Gatten nicht alle so gut behandelt wie wir.«

»Gut?«

»Nun ja, so … rücksichtsvoll. Andere, die mit ihren Frauen nicht zufrieden sind, schicken sie ehrlos wieder zurück. Noch anderen sind die Gefühle ihrer Gattinnen vollkommen gleichgültig und sie … Ihr wisst schon, was ich meine. Wir jedoch haben ein gutes Leben, bekommen sämtliche unserer Wünsche erfüllt. Das größte Anliegen, das wir hegen, ist jedoch, endlich einmal etwas für Euch tun zu können. Es muss ja nicht gleich …«

Bei dieser Andeutung von Intimität errötete sie, fuhr aber trotzdem mutig fort:

»Es ist uns wichtig, dass Ihr wisst, wie dankbar wir Euch sind. Und solltet Ihr einmal jemanden einfach nur zum Reden brauchen, sind Eure Gattinnen zu jeder Tages- und Nachtzeit für Euch da.«

Meine entsetzliche Verlegenheit bemerkend, zog sich die Botschafterin meiner Ehefrauen diplomatisch zurück. Ich fühlte mich erleichtert, dass sie mir eine Antwort erspart hatte. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass sie sich in mir täuschte? Dass ich froh darüber gewesen war, von meinen Gattinnen bisher in Ruhe gelassen worden zu sein?

Zuerst war ich gerührt, dass die mir Angetrauten mich vor mir selbst retten wollten. Doch nur wenig später gewann mein Misstrauen die Oberhand. Bestimmt war das Motiv dieser Frauen gar nicht von so selbstloser Natur, wie es mir zunächst geschienen hatte. Was hatten die Damen denn für eine Zukunft, wenn ich verrückt würde oder mein Leben endete? Keine von ihnen hatte ein Kind, das ihr bei einem Amtsnachfolger die Stellung bei Hofe gesichert hätte. Ihr jetziger, ihnen offensichtlich nicht allzu sehr missfallender Lebensstil hing daher davon ab, dass ich König blieb. Da sie daran jedoch Zweifel hegten, hatten sie die Initiative ergriffen.

Ich durfte ihnen nicht trauen, musste in Zukunft vorsichtiger sein. Solange man die Menschen nicht seine Macht fühlen ließ und Lügen nicht sogleich mit dem Tod bestrafte, war ihnen nicht zu glauben. Misstrauen war das Einzige, worauf man sich verlassen konnte. Das hatte ich aus der Geschichte mit meinen sogenannten Eltern gelernt. Der Waffenstillstand mit meinen Gemahlinnen war ein Fehler gewesen. Ich hatte es ihnen zu leicht gemacht. In Zukunft würden nicht all ihre Wünsche erfüllt werden. Im Gegenteil: Ich würde sie strafen müssen. Von nun war ich gezwungen, auch mit ihnen Krieg zu führen. Krieg war die alleinige Sprache, die von den Menschen verstanden wurde – und darüber hinaus die einzige, die ich eloquent zu sprechen vermochte.

Mein Körper aber war mit diesen Gedanken nicht einverstanden. Meine Gattinnen waren die letzte Front gewesen, an der ich bisher noch keinen Krieg geführt hatte. So dachte ich jedenfalls. Doch belehrte mein Organismus mich eines Besseren: Von mir unbemerkt hatte auch er bis hierher eine Art Waffenruhe gehalten. Damit war es nun vorbei. Als Reaktion auf die innere Kampfansage an meine Ehefrauen erklärte er mir umgehend seinerseits den Krieg und verweigerte den weiteren Dienst: Mit einem Mal drehte sich die Welt um mich herum. Die Beine gaben nach. Ich fiel. Schlug hart mit dem Kopf auf den Boden. Verlor das Bewusstsein …

Als ich wieder zu mir kam, lag ich nicht mehr auf dem Fußboden, sondern auf meinem Bett, neben dem sich der königliche Leibarzt niedergelassen hatte. Mein Kopf schmerzte maßlos. Die Seite meines Schädels, mit der ich auf den Boden ge­schlagen war, wies eine riesige Beule auf. Glücklicherweise ergab die Untersuchung, dass ich außer dieser Schwellung und einigen Prellungen hie und da keinen weiteren Schaden davongetragen hatte. Dessen ungeachtet ermahnte mein Arzt mich in ernstem Tonfall:

»Das war eine Warnung, Majestät. Ihr müsst Euch jetzt endlich einmal Ruhe gönnen. Sonst ist mit Schlimmerem zu rechnen.«

»Ihr wisst genau, dass ich keine Ruhe finden kann, selbst wenn ich mir noch so viel Mühe gebe!«, wehrte ich mich, worauf der für meine persönliche Gesundheit verantwortliche Vaidya seelenruhig entgegnete:

»Und Ihr verweigert seit Jahren die Medizin, die Euch helfen könnte. Wenn es Euch beliebt, macht ruhig weiter so – doch dann ohne mich.«

»Was soll das heißen?«, empörte ich mich. »Ihr seid mein Leibarzt. Ihr könnt doch jetzt nicht einfach gehen!«

Meine königliche Entrüstung brachte den Heiler nicht im Mindesten aus der Fassung. Eher traurig als verärgert fragte er:

»Was soll ich denn hier? Zusehen, wie Ihr zugrunde geht? Wir beide wissen genau, dass Euch kein Arzt der Welt zu helfen vermag. Majestät, ich meine es gut mit Euch. Der Buddha hält sich seit Kurzem wieder in der Nähe von Rajagriha auf. Bisher habe ich Euch gebeten, ihn aufzusuchen. Diesmal muss ich es Euch verordnen.

Wie bei jeder Medizin kann es selbstverständlich auch bei dieser sein, dass sie nicht die Richtige ist. Doch wenn Ihr Euch weigert, eine Arznei überhaupt einmal auszuprobieren, wie soll sie Euch da helfen? Was macht es für einen Sinn, Euer Arzt zu sein, wenn Ihr meinen Anordnungen nicht folgt?«

Das war mehr als deutlich. Dafür konnte ich den Mann köpfen lassen. Das wusste er auch. Trotzdem hatte er es gewagt, auf solch impertinente Weise mit mir zu reden. Das schätzte ich. Mir wurde auf einmal bewusst, dass dieser üblicherweise bescheiden auftretende Mann mittleren Alters, der auf den ungewöhnlichen Namen Abhasvara hörte, der einzige Zivilist war, dem ich vertraute. Gleichzeitig verstand ich, dass er Recht hatte, obwohl seine Diagnose verdächtig nach dem klang, was Dharani gesagt hatte. Meine Gattinnen wollten keine Witwen werden. Mein Arzt aber hatte mir soeben versichert, dass sie dieses Schicksal verhältnismäßig bald ereilen würde, zog ich jetzt nicht die Notbremse.

Angesichts meines gewaltigen inneren Widerstands benötigte ich enorme Willenskraft, um mich dazu durchzuringen, der ärztlichen »Verordnung« Folge zu leisten. Aufgrund der Worte Abhasvaras wie angesichts der Tatsache, dass ich mich bei dem vor Kurzem erlittenen Schwächeanfall leicht hätte zu Tode stürzen können, wäre ich unglücklicher gefallen, beschloss ich nach längerem inneren Kampf am Ende trotzdem, den Buddha mit meinem Besuch zu beehren – und zwar noch in der kommenden Nacht.

Infolge dieses Beschlusses sandte ich einen Boten, der dem Tathagata persönlich ankündigen sollte, dass ich ihn zu Fuß und inkognito aufsuchen wolle, da ich mit ihm unter vier Augen zu sprechen wünsche. Nur, falls der Erwachte sich auf diese Bedingungen einließ, war ich zu einem Treffen bereit. Meinen widerspenstigen Leibarzt hatte ich als Strafe für sein Benehmen und für den Fall, dass mein Körper unterwegs meutern sollte, dazu auserkoren, mich auf diesem Fußmarsch zu begleiten.