Besuch beim Buddha

Damit Abhasvara und ich auf unserer durch meine Hoffnung auf Rettung von den vielfältigen Problemen, die ich mit mir selbst hatte, motivierten Wanderschaft zum Erwachten nicht als der König und sein Vaidya erkannt würden, machten wir uns bei Anbruch der Dämmerung wie einfache Leute gekleidet auf den Weg. Dabei mussten wir durch einen Wald mit dichtem Unterholz. Das war nicht ungefährlich, doch sollte dieses Unternehmen immerhin ein Bußgang sein. Außerdem fürchtete ich wilde Tiere bei Weitem weniger als verrä­te­rische Menschen.

Nach dem schweren Sturz schmerzte mein Kopf anhaltend heftig, und auch um mein Allgemeinbefinden war es nicht allzu gut bestellt. War ich allerdings ehrlich zu mir selbst, musste ich mir eingestehen, dass ich mich auf diesem Gang auch ohne den vorherigen Zwischenfall nicht viel besser gefühlt hätte.

Als wir unser Ziel endlich erreicht hatten, erwartete uns am Eingang zur großen Versammlungshalle ein Mönch, der mich – und nur mich – zum Tathagata führen sollte. Obwohl ich das selbst gefordert hatte, witterte mein übliches Misstrauen sofort Verrat. Trotzdem gab ich mir große Mühe, meine Ängste zu überwinden, und verabschiedete mich hier von meinem Begleiter. Daraufhin führte der Mönch mich zu seinem Meister und zog sich anschließend zurück.

Von Angesicht zu Angesicht mit dem Erwachten holte mich wie befürchtet die Vergangenheit ein. Von meinen Emotionen überwältig wurden mir die Knie weich. Doch riss ich mich mit aller Macht zusammen, verbeugte mich vor dem Tathagata, um seine Zehenspitzen zu berühren, und ergriff mit belegter Stimme das Wort:

»Erhabener, ich danke Euch, dass Ihr mir Audienz gewährt.«

Der Buddha hob mich sachte auf:

»Majestät, es ist mir eine Ehre, Eurer Bitte zu entsprechen.«

Als ich den Erwachten nun ansah, zitterte ich so sehr, dass der alte Mann – und er war wirklich sehr alt geworden – mich festhalten musste. Während er mir tief in die Augen schaute, sagte er sanft:

»Kunika, früher hast du mich ›Onkel Siddhartha‹ genannt. Heute möchtest du Vertrauliches mit mir besprechen. Warum verhältst du dich da mir gegenüber dermaßen distanziert und förmlich?«

Unfähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen, sackte ich auf diese Frage hin in mich zusammen. Da der Tathagata mich nicht aufrecht zu halten vermochte, ließ er sich trotz seines hohen Alters von bald 80 Jahren mit mir auf den Boden gleiten. Während ich dort weiterhin heftig zitternd und nach Atem ringend kauerte, hielt er mir seine Linke ans Brustbein und strich mir gleichzeitig mit der Rechten sachte über den Kopf. Da war mir, als ströme warmes, goldenes Licht aus seinen Händen und löse einen Knoten in meiner Brust. Infolgedessen brach sich die dort seit viel zu langer Zeit angestaute Verzweiflung endlich Bahn, und ich begann, herzzerreißend zu schluchzen.

»So ist es gut. Lass es heraus«, ermunterte Onkel Siddhartha mich, zog mich wie ein kleines Kind an seine halbnackte Brust und streichelte mich lange wortlos. Seit meine Amme mich abgestillt hatte, war ich weder jemals wieder einem Menschen körperlich derart nahe gewesen, noch hatte ich mich je so gut gefühlt. Ein mir fremdes Empfinden ergriff mein Herz und breitete dort eine angenehme Wärme aus. Nur nach und nach begriff ich, dass es sich dabei um Liebe handelte.

Doch kaum hatte das Verstehen dessen, was da mit mir vor sich ging, meinen Intellekt erreicht, als sich auch schon mein schlechtes Gewissen meldete. Als Reaktion darauf machte ich unwill­kürlich eine Bewegung, um mich aus der Umarmung des Buddhas zu befreien. Der jedoch zog mich sanft, aber bestimmt wieder zu sich heran und fragte nur:

»Weshalb?«

»Weil ich Euch gehasst habe – mit jeder Faser meines Herzens …«

Ich beichtete ihm alles – meine gesamte Lebensgeschichte bis zu meinem Treffen jetzt hier mit ihm. Dabei schonte ich mich nicht im Geringsten. Seinerseits kommentierte der Tathagata nichts, noch verurteilte er etwas, sondern beschränkte sich vollkommen aufs Zuhören. Nur manchmal, wenn ich ins Stocken geriet, half er mir mit einer geschickten Frage, den Faden wiederaufzunehmen. Während er meinen Bekenntnissen lauschte, hielt er mich die ganze Zeit über tröstend im Arm. Es schien ihm nichts auszumachen, dass meine Tränen über seine weiß behaarte Brust liefen.

Als ich mir alles von der Seele geredet hatte, gestand ich dem Erwachten:

»Ich kann nicht mehr, Onkel Siddhartha. Meine Kräfte sind aufgezehrt. Ich befinde mich mit allem und jedem im Krieg, obwohl ich das eigentlich gar nicht will. Was nur soll ich jetzt tun?«

Darauf antwortete er:

»Fürs Erste gar nichts mein Sohn. Stattdessen hör mir lediglich gut zu:

Was du mir soeben geschildert hast, zeigt, in welch großem Irrtum über dich und die Welt du befangen bist. Die vielen von dir geführten Kriege wirst du niemals gewinnen können. Warum? – Weil sie im Grunde sämtlich bloß Auswüchse einer einzigen Auseinandersetzung sind: des Kampfes, den du mit dir selbst ausfichtst. Dabei gibst du dir unendlich viel Mühe, aller Welt zu beweisen, welch großer Herrscher du bist. Trotzdem ist all dein Trachten vergebens. Und weißt du weshalb? – Weil du selbst nicht an diese Größe glaubst. Tief in deinem Herzen, verborgen vor dir selbst, bewahrst du stattdessen das von Kosaladevi für dich gezeichnete Bild. Es zeigt einen Säugling auf dem Kehrichthaufen der Gesellschaft. Der kleine Mensch, den du da erblickst und den du vor allen versteckt halten willst, ist hilfloser Abschaum, erbärmlicher als nichts.

Weniger aus Hass auf mich, sondern weil du dich selbst für so unendlich wertlos hältst, dass du glaubst, nicht einmal meiner Liebe würdig zu sein, wolltest du dich vorhin aus meiner Umarmung befreien. Habe ich Recht?«

Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu. Daher nickte ich bloß. Um zu vermeiden, den Tathagata ansehen zu müssen, starrte ich in die uns umgebende, einzig von wenigen Öllämpchen erhellte Dunkelheit. Doch wie üblich schienen in dieser Finsternis die von mir Getöteten auf mich zu warten. Angst ergriff mich – vor den Toten genauso wie vor meinem Wahnsinn. Diese Empfindung war so stark, dass sie mich körperlich erbeben ließ.

Da zog der Buddha mich noch fester an sich heran und streichelte mich besänftigend. Dabei bat er mich auf seine einzigartig gütige Art, die trotz ihrer Milde keinen Widerstand zuließ:

»Kunika, bitte sieh mich an … So ist es gut. In meiner Gegenwart brauchst du dich vor nichts zu fürchten – nicht einmal vor dir selbst. Die Nacht ist kurz, und was ich dir zu sagen habe, wichtig. Daher konzentrier dich bitte vollkommen auf mich, während wir gemeinsam herausfinden, worin die Erkenntnis des Erwachten besteht.«