Bei seinem erneuten Aufwachen bemerkte Platschu erschrocken, dass er nackt war. Als er sich vor Scham enger in die über seinem Körper ausgebreitete Decke hüllte, fiel ihm zum ersten Mal der Ausblick von der Schafhöhle in den darunter gelegenen, sich bis zum Horizont erstreckenden Talkessel ins Auge. Obwohl der Anblick dieser Wald-Oase bei dem in zerstörten, giftigen Landschaften Aufgewachsenen eigentlich freudiges Erstaunen hätte auslösen müssen, meinte sein ihm seitlich gegenübersitzender Kollege, enttäuschte Verzweiflung in seinem Antlitz wahrzunehmen. Darüber verwundert sprach der Alte:
»Du bist der Erste, den ich je getroffen habe, dem diese Aussicht nicht das Herz weitet. Gefällt dir denn gar nicht, was du siehst?«
»Doch, schon«, antwortete Platschu verlegen, bevor er niedergeschlagen fortfuhr:
»Es ist nur so … Ich hatte gehofft, die Welt, in der man mich töten wollte, hinter mir gelassen zu haben. Und nun muss ich feststellen, dass … dass all das hier bloß ein Traum ist.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte der Heiler überrascht, worauf sein Patient antwortete:
»Ich habe diesen Traum schon einmal geträumt. Da hat diese Landschaft auch so wunderbar ausgesehen. Doch dann bin ich aufgewacht, und alles war so toderfüllt wie sonst …«
Trotz seines Erstaunens darüber, dass der junge Mann seine Heimat bereits im Schlaf erblickt hatte, entgegnete der Alte:
»Mein Sohn, bitte sei versichert, dass dies kein Traum ist. Solange du es nicht selbst willst, wirst du niemals mehr in deine alte Welt zurückmüssen. Du scheinst mit besonderen Gaben gesegnet. Werd gesund, komm zur Ruhe und lern dich selbst kennen. Teile deine Traumerlebnisse mit uns. Dadurch wirst du uns und möglicherweise auch den Menschen auf der anderen Seite von Nutzen sein.«
»Wieso sollte es irgendjemandem nützen, wenn ich euch meine Träume erzähle?«, fragte der Flüchtling misstrauisch, worauf sein betagter Kollege entgegnete:
»Weil sie offenbar von Wahrheiten künden, die nur du zu sehen vermagst. Bisher habe ich noch keinen einzigen Menschen kennengelernt, der von einer Gegend geträumt hätte, die er nie zuvor erblickt hat, ja die vermutlich in nichts an das bisher von ihm an Landschaften Geschaute erinnert. Oder solltet ihr es drüben etwa mittlerweile geschafft haben, eure Schlachtfeldwüste zu kultivieren?«
Statt eine Antwort zu geben, starrte Platschu seinen Helfer argwöhnisch an. Woher wusste der, wie es in seiner Heimat aussah? Befand er sich etwa trotz des friedlich anmutenden äußeren Anscheins in Feindesland? Was wollten diese Leute hier wirklich von ihm? Waren sie etwa ebenso an Informationen interessiert wie der Offizier, der ihn beschuldigt, gefoltert und vergewaltigt hatte? Standen sie gar in Verbindung mit ihm und benutzten bloß eine andere Methode, um an ihn heranzukommen?
Bei diesem Gedanken fingen die Hände Platschus an zu zittern. Der alte Mann hatte ihn verarztet. Er wusste also von seiner Schande. Wieso sprach er da überhaupt noch mit ihm, wenn nicht, weil er sich irgendwelche Erkenntnisse erhoffte? Jemanden, der seine Ehre nicht zu verteidigen weiß, würde man in seiner Welt in die Wüste schicken. Dorthin zu gehen, war er bereit gewesen. Stattdessen war er hier in eine ihm vollkommen unbekannte Art von Falle geraten. Panisch fragte er sich, was er jetzt tun solle. Er war seinen neuen Feinden hilflos ausgeliefert, und an eine Waffe zu gelangen, um Selbstmord zu begehen, schien unmöglich, da die Fremden sich unbewaffnet gaben.
Dem Heiler war nicht verborgen geblieben, dass die Frage nach der Heimat seines Gasts Angst und Misstrauen bei diesem hervorgerufen hatte. Daher beeilte er sich klarzustellen:
»Bitte verzeih mir meine Ungeschicklichkeit, mein Sohn. Ich hatte dir sogleich bei unserem Kennenlernen mitgeteilt, dass du uns nichts über die andere Seite des Bergs erzählen musst. Und das brauchst du wirklich nicht. Was dort drüben vor sich geht, ist für uns vollkommen belanglos. Trotzdem sollten wir offen und ehrlich zueinander sein: Deine Uniform sagt mir, dass es sich bei dir um einen Arztkollegen handelt. Daher ist mir bewusst, dass du weißt, was dein geschundener Körper mir darüber mitgeteilt hat, was dir in deiner Heimat geschehen ist …
Du brauchst jetzt nicht dein Gesicht abzuwenden. Was auch immer ihr dort drüben denken mögt, hier glaubt niemand, dass es eine Schande ist, wehrlos zu sein. Bitte sorg nicht selbst dafür, dass deine Peiniger, denen du erfolgreich entkommen bist, nachträglich doch noch über dich siegen, weil du ihnen das Märchen glaubst, man könne einem Menschen seine Ehre rauben, indem man ihn foltert und vergewaltigt …«
»Aber genau das tut man!«, unterbrach Platschu den Alten höchst verzweifelt. »Und nicht nur die Ehre! Sie haben mir meine Identität, mein Leben, einfach alles genommen! Und ich … Ich habe das nicht verhindert! … Ja, ich trage sogar eine Mitschuld an dem Geschehenen, habe ich vor vielen Jahren doch wiederholt die einem Heiler gesetzten Grenzen überschritten … Warum tötet ihr mich nicht endlich, wenn nicht, weil ihr etwas von mir wissen wollt wie meine Peiniger auf der anderen Seite? Gegen wen kämpft ihr?«
Beschwichtigend antwortete der Heiler:
»Gegen niemanden, mein Sohn. Unser einziges Interesse besteht darin, dir zu helfen – das heißt, dem Menschen, der du bist, nicht dem Arzt. Zwar besitzt du als Sanitätsoffizier notwendigerweise einige unbedeutende militärische Kenntnisse, doch würden wir nach denen niemals fragen, weil wir einerseits achten, dass dies zu tun bei einem Heiler tabu ist, und andererseits kein Interesse an solchem Wissen haben. Vertrau deinen Träumen. Sie haben dich erkennen lassen, dass wir hier in Frieden leben – was nicht heißt, dass nicht auch wir Meinungsverschiedenheiten hätten. Nur lösen wir die nicht mit Waffengewalt.
Ich verstehe, wie unglaublich dir diese Aussagen erscheinen müssen, hast du doch außerhalb deiner Träume nie anderes erlebt als Krieg … Sicher fragst du dich, woher ich das wissen will, woher meine Kenntnisse deiner Heimat stammen … Weißt du, mein Sohn, wir reden nicht gerne darüber, weil es überaus schmerzhaft ist. Dabei handelt es sich eigentlich nicht um unseren eigenen Schmerz, sondern den unserer Vorfahren. Sie haben ihn uns hinterlassen, damit wir bloß niemals so werden, wie sie es selbst einmal gewesen sind.
Ja, es ist wahr: Auch sie waren an diesem ewigen Morden beteiligt. Im Gegensatz zu den meisten aus deiner Welt hatten sie sich jedoch nicht daran gewöhnt und damit abgefunden. Sie haben so getan, als seien sie in die Wüste gegangen, haben sich dann aber hierher geflüchtet. Damals gab es noch einen anderen Zugang als den Weg, auf dem du zu uns gekommen bist. Spätere Vorfahren haben diesen verschlossen, um vor den Kriegswütenden von jenseits der uns schützenden Berge sicher zu sein …
Zur Zeit der Ankunft der Ersten war dies hier nicht das Paradies, als das diese Landschaft dir heute erscheint. Auch hier war die Natur vergiftet. Doch haben sich viele Generationen darum bemüht, ihre natürliche Umgebung wiederherzustellen, weil sie begriffen haben, dass sie selbst nicht heilen werden, solange das, was sie nährt, nicht gesundet.
Wenn du wissen willst, wer wir sind, wie wir sind, schau hinab in das sich vor uns ausbreitende Tal. Wir sind seine Kinder, sind einer von vielen Bestandteilen dieses Talkessels. Wie die Seelen der Menschen auf der anderen Seite so zerstört sind wie ihre Umgebung, so sind unsere Seelen von dieser friedlichen Umwelt geprägt. Gleichwohl sind wir wie gesagt trotzdem Menschen mit menschlichen Fehlern und Schwächen. Doch sind die glücklicherweise nicht so gravierend, dass du hier Folter oder Ermordung fürchten müsstest.
Selbstverständlich steht es dir frei, dir das Leben zu nehmen, wenn du meinst, dass es das ist, was du in deiner gegenwärtigen Lage tun musst. Wir werden dich nicht daran hindern, auch wenn wir nicht glauben, dass dies eine weise Entscheidung wäre. Doch warum gibst du uns und dieser Landschaft nicht wenigstens die Chance, von dir kennengelernt zu werden, bevor du aus diesem Leben scheidest? Meinst du nicht, dass es einen tieferen Sinn haben könnte, dass du, statt auf der anderen Seite zu sterben, den Weg zu uns und diesem Ort gefunden hast?«
Für Platschu klangen die Worte des Alten zu schön, um wahr zu sein. Andererseits hätte er sie nur allzu gern geglaubt. Er fühlte sich schwach, verletzt und verwirrt. Der Gedanke, selbst zu werden wie die sich zu seinen Füßen erstreckende Landschaft, war verlockend – zumal die ihm immens wichtig erscheinende Idee von Ehre und Identität sowie der Möglichkeit, beidem beraubt zu werden, ihm auf die Natur bezogen dermaßen unsinnig vorkam, dass sie geradezu lächerlich wirkte. Doch meldete sich sogleich auch das Misstrauen zurück: Was, wenn sein mit Worten so geschickter Kollege lediglich versuchte, ihn einzulullen?
Um die Glaubwürdigkeit des Alten zu prüfen, forderte der Flüchtling daher dessen Waffe. Zu Platschus Erstaunen behauptete sein Heiler-Kollege daraufhin:
»Ich besitze keine. Doch kann ich dir von den Hirten sicherlich ein Messer besorgen.«
Der Greis erhob sich, sprach mit den Schäfern und kam mit einem großen Messer zurück, das er seinem Patienten vor die Füße legte. Der aber griff entgegen der Erwartung seiner Gastgeber nicht danach, sondern verlangte von seinem Helfer, die Hirten dazu aufzufordern, die Höhle zu verlassen und eine Strecke von mindestens zehn Metern talwärts zu wandern. Sein Kalkül dabei war, dass er es in seinem Zustand selbst mit diesem Messer als Waffe niemals mit dem zähen Alten wie den zwei kräftig gebauten Schafhütern würde aufnehmen können, von denen mindestens einer vermutlich mit genau so einer Klinge ausgestattet war, wie er sie nun besaß.
Abermals sprach sein Kollege mit den Hirten. Zögerlich und mit besorgten Mienen erhoben sich diese schließlich und verließen die beiden anderen Männer. Sobald sie an einer Stelle sichtbar wurden, die sogar noch weiter entfernt lag als gefordert, entblößte der betagte Heiler erst seinen Oberkörper und streckte dann seine Hände in die Höhe um zu beweisen, dass er wie von ihm behauptet unbewaffnet war. Da ergriff Platschu geschwind das Messer, sprang seinen Kollegen an und zog dem Unbedarften für diesen völlig unerwartet die Beine unter dem Körper weg, sodass er zu Boden fiel. Gleich darauf betastete der ehemalige Lazarettleiter mit vorgehaltenem Messer die von einer Hose bedeckten Körperteile des ächzend im Staub Liegenden.
Zwar empfand der Flüchtling seinem Retter gegenüber große Scham, als er feststellen musste, dass dieser tatsächlich keine Waffe trug, doch war sein Misstrauen dadurch trotzdem noch immer nicht völlig besiegt. Daher setzte er die Klinge an die Kehle seines Kollegen und erkundigte sich fordernd:
»Sag die Wahrheit: Was wollt ihr wirklich von mir?«
Traurig dreinblickend antwortete der Gefragte trotz der Bedrohung statt mit der erhofften Auskunft mit einer Gegenfrage:
»Ist es der in deinem Innern tobende Krieg, von dem du gefürchtet hattest, er könne nach außen treten, der dich zu solch einem Verhalten veranlasst, mein Sohn?«
Verzweifelt schrie Platschu daraufhin:
»Ich bin nicht dein Sohn, Alter!«
Anschließend nahm er die Klinge vom Hals seines Retters und fügte immer leiser und langsamer sprechend hinzu:
»Und nach dem, was ich soeben getan habe, bin ich auch nicht mehr der Sohn meiner Eltern. Ich habe ihnen Schande bereitet, indem ich den Weg des Heilens verlassen und zum Messer gegriffen habe, um jemand anderes, ja gar ein altgedientes Mitglied des hiesigen Mediziner-Klans anzugreifen. Waffen sind einem Heiler ausschließlich zur Selbstverteidigung oder Selbstentleibung erlaubt. Ich aber …
Ich werde mich nicht bei dir entschuldigen, verehrter Meister, da das, was ich getan habe, unentschuldbar ist. Doch werde ich es wiedergutmachen, indem ich mit diesem entsetzlichen Irrweg jetzt endlich Schluss mache.«
Als Platschu das Messer daraufhin umdrehte, sodass die Klinge nunmehr in Richtung seines Körpers zeigte, flehte der betagte Heiler ihn an:
»Bitte tu das nicht! Es ist nicht deine Schuld, dass deine bisherige Umwelt und die dort gemachten Erfahrungen dich krank gemacht haben. Hörst du? Du bist krank! Hier bei uns aber kannst du gesunden!«
Ungläubig starrte der junge Arzt seinen älteren Kollegen an. Als er Tränen des Mitleids in dessen Augen sah, fiel ihm plötzlich die Lichtgestalt seiner Vorexistenz ein, der zu folgen er versprochen hatte, um einen Weg aus dem Leiden zu finden. Dieses Versprechen sowie das damit verbundene Geschenk eines neuen Lebens hätte er soeben beinahe auf schlimmste Weise mit Füßen getreten. Bei dem Gedanken daran verließen ihn plötzlich sämtliche Kräfte und er ließ das Messer fallen, als habe er sich an dessen Griff verbrannt.
Obwohl der ehemalige Lazarettleiter nicht verstand, weshalb der Alte ihn in dieser Situation nicht hasste, fühlte sich die ihm entgegengebrachte Liebe gut für ihn an. Weil er in seiner Welt jedoch niemals die Erfahrung von Großherzigkeit und Verzeihen gemacht hatte, glaubte er allerdings gleichzeitig, dieses wunderbaren Geschenks ebenso wenig wert zu sein wie der Hilfe der Lichtgestalt, deren Anwesenheit er augenblicklich erneut zu spüren meinte.
Vor dem Hintergrund der von ihm empfundenen Scham über sein Verhalten ließ dieses entsetzlich verwirrende Gemisch widerstreitender Emotionen ihn in einen hilflosen Weinkrampf ausbrechen. Da richtete der Alte sich auf und wollte den Verzweifelten umarmen. Doch rückte der sogleich mit einer abwehrenden Geste von ihm ab. Aufgrund seiner starken Traumatisierung vermochte er die ihm entgegengebrachte Liebe in diesem Moment nicht anzunehmen. Daher verließ der Heiler betrübt die Höhle, um seinem Patienten die Möglichkeit zu geben, erst einmal allein mit sich zurechtzukommen. Für dieses Verständnis überaus dankbar bemühte der sich, gegen seine Tränen wie die sie auslösenden Gefühle anzukämpfen.
Allerdings war das gar nicht so einfach, hörte er in seinem Innersten doch plötzlich eine verzweifelt schreiende Stimme:
»Ich will nach Hause!«
Dabei wusste er, dass damit weder das von seinen Eltern geführte Lazarett noch dasjenige gemeint war, das er die vergangenen zwei Jahre selbst geleitet hatte. Obwohl etwas in ihm offenbar eine schmerzend starke Sehnsucht nach einem Ort verspürte, an dem es Liebe und Heilung für ihn gab, war er sich gleichzeitig darüber klar, dass es sich bei diesem »Zuhause« nicht wirklich um einen Ort handelte. Doch was war dann darunter zu verstehen?
Da Platschu noch nicht herausgefunden hatte, dass er ein Tulku war und eine tiefe Schicht seines Bewusstseins sich nach der von seinen direkten Vorexistenzen gemachten, durch seine Geburt von seinem Tagbewusstsein jedoch vergessenen Erfahrung des Erwachens sehnte, fühlte er sich ratlos. Doch bewirkte die Erkenntnis, dass er sich offenbar zutiefst nach etwas sehnte, von dem er nicht wusste, was es war, immerhin, dass er mit der Zeit immer ruhiger wurde, bis er letzten Endes vor Schwäche einschlief.