Kunika sucht nach seinem Selbst
Nachdem Onkel Siddhartha mir durch sein Verhalten bewiesen hatte, dass er mich trotz all meiner ihm soeben gebeichteten Taten liebte, setzte er nun zu einer Belehrung an, die mein Leben verändern sollte:
»Ein anderer an meiner Stelle würde dir in deiner Lage vermutlich erzählen, warum sich selbst für wertlos zu halten, eine irrige Ansicht darstellt. Du bist jedoch zu mir gekommen. Mit mir musst du einen Schritt weitergehen. – Sag, mein Sohn, gibt es Nachkommen ohne Eltern, Frucht ohne Blüte, Pfützen ohne Regen?«
»Nein.«
»Nun stell dir ein Kleinkind vor. Es erblickt eine Blume und möchte sie besitzen, doch niemand pflückt sie ihm. Daraufhin wird das enttäuschte Kind wütend und fängt an, laut zu schreien. In diesem Moment kommt ein Hirte mit einer Flöte gegangen, auf der er eine schöne Melodie bläst. Das Kleine, das solche Töne zum ersten Mal im Leben vernimmt, hört vor lauter Begeisterung mit dem Schreien auf und macht stattdessen große Augen. Woher kommen die Gefühle des Kindes?«
»Sie sind Reaktionen auf äußere Reize.«
»Jetzt schau dich selbst an. Was macht Kunika im gegenwärtigen Augenblick aus?«
»Gespannte Erwartung sowie Vertrauen in den Erwachten.«
»Hm. So lass uns weitersuchen. Wonach wir Ausschau halten, ist dein Selbst. Ist es dein Körper? Ist er es, was du meinst, wenn du ›Ich selbst‹ sagst?«
»Nein. Mein Körper ist mehr so etwas wie ein Diener meines Selbsts. Er ermöglicht es mir, Gedanken in die Tat umzusetzen.«
»Bist du daher möglicherweise diese Gedanken?«
»Nein, ich bin derjenige, der denkt.«
»Du bist aber nicht nur ein denkendes, sondern auch ein fühlendes Wesen, ja, sogar eines mit sehr starken Empfindungen. Sind es daher möglicherweise deine Gefühle, die dich ausmachen?«
»Nein, mein Ich ist, was diese empfindet.«
»Was genau aber ist dieses Ich?«
»Mein Atman.«
»Hm. Und wo ist der?«
»Wie kann man auf solche Weise danach fragen? Mein Selbst ist doch kein Ding, dass sich irgendwo lokalisieren ließe!«
»Es ist aber auch kein Gedanke oder Gefühl, obwohl es ebenso wenig dein Körper ist.«
»Nein, es ist …«
»Ja, was denn?«
»Eben Ich.«
»Kunika, du drehst dich im Kreis.«
»Es ist da! Nur vermag ich es nicht zu beschreiben … Lasst es mich noch einmal versuchen: Mein Ich ist die Instanz, die denkt, fühlt und einen Körper hat … Dabei ist mein Selbst auf jeden Fall etwas anderes als das Eurige. Schließlich bin ich nicht Ihr. Ja, es ist das, was mich als mich ausmacht, und somit etwas von allem Sonstigen Unterschiedenes, das immer da ist und sich auch nicht ändert.«
»Wenn dein Selbst etwas Konstantes ist, wie kann es da einen Anfang und ein Ende haben?«
»Wieso sollte es das? Wenn ich sterbe, wird mein Atman in einem neuen Körper wiedergeboren.«
»Du versuchst dir zu helfen, indem du unterschiedliche Begriffe für ein und dasselbe Objekt benutzt. ›Atman‹, ›Ich‹ und ›Selbst‹ bezeichnen jedoch alle das Gleiche. Nehmen wir einmal an, es verhielte sich so, wie du sagst, und dein von dir als Atman bezeichnetes unveränderliches, unvergängliches Selbst-Ich wird in einem neuen Körper wiedergeboren. Sobald das geschehen ist, handelt es sich bei diesem wiedergeborenen Atman jedoch nicht mehr um dein Ich, sondern das einer anderen Person – oder, um es deutlicher auszudrücken, einer neuen Persönlichkeit mit einem von deinem jetzigen verschiedenen Körper, neuartigen Einstellungen, Gewohnheiten und Gedanken sowie einer dir in diesem Leben vermutlich fremden Art zu fühlen. Mit deinen Worten formuliert wäre dieser Atman das, was jene andere, von ihrem Wesen her völlig anders geartete Person unverwechselbar ausmacht. Nennst du das Unveränderlichkeit?«
»Nein, aber bei meinem Atman handelt es sich ja auch nicht wirklich um mein Selbst im Sinne meines Ich.«
»Sondern?«
»Er ist, ähm … eher das Bewusstsein meiner selbst.«
»Also erstens drehst du dich erneut im Kreis, wenn du mir nun erklärst, dein Selbst sei das Bewusstsein deiner selbst. Viel schwerer wiegt allerdings, dass die verschiedenen Arten des menschlichen Bewusstseins sämtlich auf durch deinen Körper ermöglichten Sinneseindrücken basieren und daher wie diese ständiger Veränderung unterworfen sind.«
»Nein, von dieser Art Bewusstsein hatte ich nicht gesprochen. Mit Atman meinte ich vielmehr das Bewusstsein, das auch noch zu dem Zeitpunkt existiert, wenn die physischen Sinne durch das Sterben bereits vergangen sind. Möglicherweise benutze ich das falsche Wort. Bei dem, was ich zu beschreiben versuche, handelt es sich um so etwas wie ein Gefäß für das Karma. Gleichzeitig ist dies jedoch weit mehr als bloß Behälter: Es erinnert karmisch relevante Handlungen nicht nur so lange, bis sie zur Ursache einer Wirkung werden, sondern registriert sie darüber hinaus in einem der Aufbewahrung vorgeschalteten Schritt.
Insofern könnte man sagen, dass mein Atman ein Teil von mir ist, der mich wie mein Tun in Leben, Tod und der Zeit zwischen beidem beobachtet sowie sich dessen bewusst ist, wer ich bin und was ich warum tue. Daher habe ich diesen Teil, der das ist, was wiedergeboren wird, mit dem Wort ›Bewusstsein‹ umschrieben.«
»Ach Kunika, ich fürchte deine Vorstellung vom Karma und seinem Wirken ist, sagen wir, ein wenig unpräzise und daher irreführend. Nach deinen Ausführungen zu urteilen, scheinst du zu glauben, dass es sich beim Karma um so etwas wie ein Punktesystem für deine Taten handelt: Tust du etwas Gutes, entsteht gutes Karma, verhältst du dich schlecht, generierst du entsprechend schlechtes Karma. Ist das so?«
»Ja, genau das hatte ich sagen wollen.«
»Und dieses von dir erwähnte Karmagefäß oder -bewusstsein ist so etwas wie dein innerlicher Schiedsrichter, der darüber befindet, was gut und was schlecht ist und eine entsprechende, dein jetziges Leben überdauernde Liste führt.«
»In der Art hatte ich mir das vorgestellt. Verhält es sich etwa nicht so?«
»Mein Sohn, dieses von dir postulierten Schiedsrichters bedarf es doch gar nicht! Um dies zu verstehen, ist es allerdings nötig, dass du zunächst begreifst, was Karma eigentlich bedeutet. Traditionell bezeichnen wir mit diesem Wort ganz allgemein das Gesetz von Ursache und Wirkung. So weit hast du richtiggelegen. Doch darfst du bei deinen Überlegungen nicht an der Oberfläche verweilen und ausschließlich deine Taten in Betracht ziehen.
Schließlich gibt es außer der physischen Handlung noch die Rede, die ebenfalls jeweils Ursache oder Wirkung von etwas sein kann. Doch bilden selbst deine Worte noch nicht den Beginn der Kausalkette. Den Platz davor nehmen deine Gedanken und Gefühle ein, die dich dazu bringen, etwas zu sagen oder zu tun. Noch davor – am wirklichen Anfang – stehen deine Absichten. Zwar existieren die nicht unabhängig von deiner Erkenntnis, doch handelt es sich bei Letzterer nicht um eine Handlung, sondern um so etwas wie einen passiven, wenn auch prägenden Nährboden für deine Absichten.
Die Absicht ist also das erste aktive Element in der Kausalkette der Handlungen. Sie ist das, was maßgeblichen Einfluss auf das Werden der von dir in Gang gesetzten Handlungskette nimmt. Deshalb ist sie es auch, die letztendlich Karma erzeugt – allerdings nicht dadurch, dass irgendetwas außerhalb der Absicht Bestehendes Bewertungen vornimmt und über alles Buch führt wie dein Schiedsrichter, bei dem es sich übrigens in Wirklichkeit lediglich um einen Teil deines Bewusstseins handelt, den man üblicherweise ›den Beobachter‹ nennt. Nein, es liegt in der Intention selbst, ob und wie viel gutes oder schlechtes Karma entsteht.
Dazu gebe ich dir am besten ein Beispiel: Sowohl durch den Entschluss, jemanden zu töten, als auch durch den, aus großer Not heraus Lebensmittel zu stehlen, entsteht schlechtes Karma. Doch wiegt dies im ersten Fall um vieles schwerer als im letzteren: Erstens ist das beabsichtigte Delikt viel schädlicher, und zweitens gibt es im Fall des von uns betrachteten Mundraubs noch den Umstand großer Not, was die Wirkung des durch die Absicht erzeugten Karmas weiter abschwächt.
Doch lass uns vom konkreten Beispiel zu einer abstrakteren, durch ihre Bildhaftigkeit aber nichtsdestoweniger eingängigen Betrachtungsweise übergehen: Stell dir vor, sämtliche deiner Absichten seien Samenkörner. Abhängig von der Art des Korns – der Ursache – reifen unterschiedliche Pflanzen – die Wirkungen – heran. Wie lange eine Pflanze zur Reifung benötigt, hängt ebenfalls vom Korn ab – allerdings nicht von einem einzigen allein. Denn dadurch, dass du durch dein ununterbrochenes Reagieren auf deine Umwelt ständig neue Absichten generierst, schaffst du für deine Saat ein ganzes Geflecht von Wachstumsbedingungen. Um in unserem Bild zu bleiben: Boden, Niederschlagsmenge, Sonneneinstrahlung, Wind, für die Pflanze nützliche wie schädliche Tiere und vieles mehr beeinflussen das Wachstum unseres Sämlings.
In diesem äußerst komplizierten Netzwerk von Ursachen und Wirkungen kommt es daher häufig vor, dass Karma im Sinne der Wirkung einer in der Vergangenheit durch eine Absicht geschaffenen Ursache erst in einem anderen Leben zum Tragen kommt. Dies ist möglich, weil Karma aufgrund der Tatsache, dass es ausschließlich Kausalbeziehungen beschreibt, grundsätzlich nicht von irgendeinem Zeitfaktor abhängig ist. Es erscheint lediglich als zeitabhängig, da wir Menschen zeitgebundene Wesen sind und Ursachen in unserer Erfahrung daher vor Wirkungen auftreten.
Ein weiterer Grund dafür, dass Karma über den Tod hinaus Einfluss zu nehmen vermag, besteht darin, dass es nicht personengebunden ist. Diese Aussage wird dich vermutlich überraschen und dir im Augenblick noch unverständlich sein. Doch wirst du begreifen, wovon ich rede, wenn wir bei unserer Suche nach dem Selbst zu Antworten gekommen sind.
Fürs Erste lass mich an dieser Stelle zusammenfassen: Der ausschlaggebende Faktor dafür, wann und wie die von dir angelegten Samen zur Reifung kommen, ist einzig und allein die Art und Weise, in der die vielen von dir gefassten Absichten miteinander und der Umwelt agieren. Ein Richter über deine Taten hat damit also nichts zu tun.
Neben diesem außerordentlich bedeutsamen Punkt gibt es noch etwas weiteres Wichtiges über das durch unsere unzähligen Absichten geschaffene Karmanetz zu sagen: Aufgrund des Tatbestands, dass dieses Geflecht so unendlich kompliziert ist und noch dazu im Zusammenhang mit den Umständen betrachtet werden muss, unter denen die es konstruierenden Absichten gefasst worden sind, kannst du niemals, hörst du, niemals von einer karmischen Wirkung auf deren Ursache rückschließen. Begegnest du also jemandem, den ein Unglück getroffen hat, ist es vollkommen inkorrekt aufgrund dessen die Schlussfolgerung zu ziehen, dass diese Person in der Vergangenheit etwas Bestimmtes getan hätte.
Hast du die Wirkweise des Karmas verstanden, begreifst du, dass es keinen Eins-zu-Eins-Katalog gibt, in dem du nachsehen könntest, welche Handlungen jemand begangen haben muss, um das Leid, das ihn getroffen hat, vermeintlich zu verdienen. Aufgrund der Komplexität der Angelegenheit ist es niemals möglich, das in der Gegenwart zu Tage tretende Karma zu beurteilen. Nebenbei solltest du dies ohnehin nicht versuchen, da ein solcher Akt zutiefst herzlos wäre.
Kunika, vergiss nie, nie, nie, dass Mitgefühl ausnahmslos an erster Stelle steht! Rein intellektuelle, nicht von Mitgefühl getragene Betrachtungen haben in den meisten Fällen ungemein schädliche Auswirkungen!
Doch lass uns auf deine Vorstellung von einem Karmagefäß zurückkommen. Selbst wenn es so etwas gäbe, wäre es als eine Art Bewusstsein deiner selbst, wie du es vorhin beschrieben hast, nicht das, was man gemeinhin unter Atman versteht. Es wäre weder dein Selbst noch dein Ich, wie du soeben behauptet hast.«
«Ähm. Wohl nicht.«
»Wo aber ist es dann, dein Selbst-Ich?«
Vor lauter Verwirrung vermochte ich keine Antwort zu finden. Als ich daher bloß wortlos mit den Achseln zuckte, konstatierte Onkel Siddhartha:
»Gut. Halten wir fürs Erste fest: Das Ich ist nirgends zu entdecken.«