Im ständigen Fluss des Werdens

Nachdem ich mit der Suche nach meinem Selbst, Ich oder Atman gescheitert war, erhoffte ich mir die Antworten auf die vielen mir vom Tathagata gestellten Fragen nun von ihm. Doch so leicht machte der Erwachte es mir nicht. Entgegen meinen Erwartungen teilte er mir nicht mit, wo und wie ich mein wahres Ich würde finden können. Stattdessen spannte er den Bogen zum Beginn unseres Gesprächs:

»Nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen möchte ich nun auf das eingangs von mir erwähnte Kleinkind zurückkommen: Für einen solch jungen Erdenbürger ist alles neu, da er sich noch keine Gewohnheiten angeeignet hat – auch nicht seine Gefühle betreffend. Deshalb wechselt er wie in unserem Beispiel von der nicht erhaltenen Blume und dem faszinierenden Flötenspiel innerhalb von Sekunden von Enttäuschung und Wut zu freudiger Begeisterung. Wir haben alle schon erlebt, wie schnell Emotionen bei kleinen Kindern kommen und gehen. Ein Kindergesicht kann spannender sein als ein Schauspiel. Das verhält sich so, weil Gefühle, wie du richtig erklärt hast, Reaktionen auf äußere Reize darstellen.

Da ein Kleinkind wie gesagt im Gegensatz zum Erwachsenen noch keine Gewohnheiten im Umgang mit Stimuli entwickelt hat, reagiert es auf jeglichen Reiz vollkommen unmittelbar. Zwar ist dieses Muster bei Erwachsenen im Grundsatz dasselbe, doch ist es bei ihnen sowohl von Reizgewöhnung als auch von ihrer Erziehung überlagert. So geschieht es zum Beispiel, dass manche Menschen dazu angehalten werden, sich selbst zu verbieten, in bestimmten Situa­tio­nen gewisse Gefühle zu offenbaren. Wenn jemand von etwas emotional sehr stark getroffen wurde, wird die spontane Antwort auf einen neuen Reiz mitunter auch dadurch verhindert, dass die betreffende Person ihre traumatische Gefühlsreaktion nicht losgelassen hat. Beispielsweise versinken einige Menschen nach dem Tod ihres Ehepartners in eine Trauer, die sämtliche ihrer gefühlsmäßigen Reaktionen bestimmt …

Mein Sohn, ich sehe dir an, dass du dich fragst, was all das mit deinem Selbst zu tun hat. Nur Geduld. Lass uns zunächst einen kurzen Blick auf die Gedanken werfen. Wie entstehen die?«

»Im Grunde genauso wie die Gefühle, nur nicht gleichermaßen offensichtlich: Entweder besteht eine Situation, der ich gedanklich begegne, weil ich zum Beispiel ein Problem lösen muss. Oder ich reagiere auf die Gedanken anderer, so wie ich augenblicklich versuche, Eure Fragen zu beantworten.«

»Bist du dir also mit mir einig, dass Gedanken wie Gefühle jeweils durch unsere Wahrnehmung von etwas außerhalb unseres Selbsts Liegendem hervorgerufen werden, und sich aufgrund der unaufhörlich stattfindenden Veränderung der uns begegnenden Situationen unausgesetzt im Fluss befinden?«

»Ja, da kann ich zustimmen.«

»Nun schau deinen Körper an – oder besser noch den meinigen«, forderte Onkel Siddhartha mich herzlich lachend auf. »Bemerkst du die Veränderung?«

»Auch ich bin längst nicht mehr der kleine Junge, den Ihr bei Eurem ersten Besuch im Palast vorgefunden habt«, murmelte ich verzagt.

»Nein, wahrlich nicht«, entgegnete der Tathagata ernst. Als mir daraufhin erneut Tränen in die Augen steigen wollten, klopfte er mir begütigend auf die Schulter:

»Wir ändern das, mein Sohn, nur Geduld. Wie du siehst, ist Veränderung das, worum sich letztendlich alles dreht.

Also, Gedanken, Gefühle und auch unser Körper sind ständigen Veränderungen unterworfen. So bin ich zum Beispiel mittlerweile ein echter Greis. Das heißt allerdings nicht, dass mein Geist zusammen mit meinem Körper schwach geworden wäre. Meine Eingangsfragen habe ich weder ohne Absicht gestellt noch sie vergessen. Warum glaubst du, habe ich dich danach gefragt, ob es Nachkommen ohne Eltern, Frucht ohne Blüte oder Pfützen ohne Regen gibt?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Doch wenn ich darüber nachdenke, scheint Ihr mir abermals auf das Karma hinauszuwollen.«

»Nein, das war nicht, worauf ich abzielte, obgleich Karma, wie wir bereits gesehen haben, einen wesentlichen Bestandteil der wahren Natur der Dinge darstellt, der uns die Möglichkeit gibt, unseren zukünftigen Lebensweg durch die im Jetzt gefassten Absichten zu beeinflussen. Der Gedanke, dass nichts ohne Grund geschieht, ist allerdings eng mit dem verknüpft, worauf es mir mit meinen Fragen ankommt: Ich nenne es ›Bedingtes Entstehen‹. Wie es keine Frucht ohne Blüte und keine Blüte ohne entsprechende Pflanze gibt, so existiert nichts in der Welt allein aus sich selbst heraus und getrennt von allem anderen. Sämtliche Phänomene stehen in einer grundlegend wechselseitigen Abhängigkeit voneinander.

Für Gedanken wie Gefühle, die jeweils Reaktionen auf unsere Wahrnehmungen darstellen, diese gleichzeitig aber auch beeinflussen, haben wir dies bereits festgestellt. Und auch bei der Betrachtung, wie deine vielen unterschiedlichen Absichten dein Karma erschaffen, haben wir das Wirken dieses Prinzips beobachten können. Schließlich hast du deshalb gedacht, ich wolle mit meiner Frage über Frucht und Blüte etwas über das Karma äußern.

Wenn wir nun unseren Körper betrachten, ist es ein Leichtes zu erkennen, dass auch er nicht getrennt und unabhängig von allem existiert, sondern in Abhängigkeit von anderen Phänomenen entsteht. Das meine ich jetzt nicht nur in dem Sinn, dass er die Frucht unserer leiblichen Eltern ist. Übst du dich zum Beispiel im Kampf, wirst du den Leib eines Kriegers bekommen. Wirst du verletzt, trägst du Narben davon, fastest du übermäßig, magerst du ab und so weiter. Was aber, denkst du, ist mit deinen Einstellungen, deiner Haltung zum Leben?«

»Beides ist ebenfalls von unserem Erleben geprägt. So ist es mir jedenfalls mit meinen Zieheltern ergangen. Als ich sie noch für meine leiblichen Eltern hielt, habe ich ihnen blind vertraut. Durch die Aufdeckung ihres Betrugs an mir habe ich jedoch verstanden, dass man sich niemals auf irgendjemanden verlassen darf …«

»Scht. Das glaubst du doch selbst nicht. Sonst wärst du jetzt nicht hier und würdest mir zuhören«, unterbrach der Tathagata mich. Ich aber widersprach ihm:

»Ihr seid anders!«

Darauf entgegnete Onkel Siddhartha ernst:

»Nein, nicht deswegen hast du dich entschlossen, bei mir eine Ausnahme zu machen und mir dein Vertrauen entgegenzubringen, sondern weil deine innere Not dermaßen groß geworden ist, dass sie dich gezwungen hat, dich für meine Liebe zu öffnen!«

Die von mir als brutal empfundene offene Schonungslosigkeit des Erwachten weckte meinen Zorn. Am liebsten wäre ich ihm davongerannt. Doch fühlte ich mich dazu einfach zu müde. Ich war mein Leben entsetzlich leid. So widersprüchlich dies angesichts meiner Wut auf den Buddha auch klingen mag: Das einzig Schöne schien, hier in der liebenden Umarmung des alten Manns auf dem Boden zu sitzen. Wenn es doch nur immer so bleiben könnte! Stattdessen erzählte Onkel Siddhartha von der Vergänglichkeit allen Seins. Davon wollte ich nichts hören.

Offenbar spürte der Tathagata meinen inneren Widerstand. Nachdem er mir kurz begütigend über den Kopf gestrichen hatte, fuhr er nämlich fort:

»Ich verstehe, wie schwer es dir fallen muss, mir zuzuhören, ohne zu begreifen, worauf ich hinauswill. Du bist zu mir gekommen, weil du nach Antworten suchst. Daher will ich versuchen, sie dir zu geben. Dazu fassen wir zunächst ein weiteres Mal zusammen: Gegenseitige Bedingtheit ist sämtlichen Erscheinungen eigen und bewirkt eine Dynamik ständiger Veränderung. Ein dauerhaftes und unveränderliches Sein, in dem alles eine vollkommen eigene, von allem anderen unterschiedene Natur hat, kann es folglich nicht geben. Das Gegenteil ist der Fall: Durch diesen unablässig vor sich gehenden Wandel ist die gesamte Welt ständig im Werden begriffen.«