Der Trost des Erwachten

Nach meinem unverzeihlichen Ausbruch von Aufbegehren gegen alles und jedes, ja sogar gegen den Tathagata hatte der mir soeben neuen Lebensmut gegeben – nicht durch irgendwelche weisen Worte, sondern einfach dadurch, dass er mir seine alles durchdringende wie überwindende Liebe ge­schenkt hatte. Jetzt ergriff er meine Rechte, streichelte sie besänftigend und fuhr schließlich mit seinen Erklärungen fort:

»Wir hatten vorhin das Thema ›Bedingtes Entstehen‹ behandelt. Lass uns von der dadurch gewonnenen Erkenntnis nun endlich den Bogen zu dem zuvor so lange Gesuchten spannen: zu deinem Ich, Selbst oder Atman. Da es sich bei dem, was wir üblicherweise als unser konstantes und unwandelbares Selbst betrachten, um eine Erscheinungsform des Seins handelt, unterliegt es genauso dem Gesetz vom Bedingten Entstehen wie sämtliche anderen Phänomene. In Wirklichkeit stellt das, was gemeinhin als Atman, Selbst oder Ich bezeichnet wird, daher lediglich ein Konglomerat voneinander abhängiger, sich fortwährend verwandelnder körperlicher wie geistiger Bestandteile dar: Organismus, Gefühle und Gedanken, aber auch unser Vermögen zur Wahrnehmung, Unterscheidung wie generell zum Denken, unsere Einstellungen und Gewohnheiten wie auch Wille und Bewusstsein – all dies unterliegt andauernder Umgestaltung …«

»Aber wenn sich das in der Weise verhält, wie von Euch geschildert, hört mit dem Tod ja jegliche Existenz auf!«, warf ich entsetzt ein.

»Diese Vorstellung, Kunika, wäre die Position eines grundsätzlich alles Verneinenden. Das bin ich jedoch nicht. Du erinnerst dich sicher daran, dass mein Erwachen damit begonnen hat, mich an sämtliche meiner unzähligen Vorleben erinnert zu haben. Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass unser Dasein nicht mit dem Tod endet. Das Geschenk der Rückschau auf meine vergangenen Existenzen hat es mir ermöglicht, die Wirkweise des Karmas über längste Zeitspannen hinweg zu beobachten. Hieraus ist mir die Erkenntnis erwachsen, dass Ursache und Wirkung wie bereits besprochen gesetzmäßig aus unseren Absichten entstehen. Und noch einmal: Als grundlegendes Gesetz ist Karma prinzipiell zeitunabhängig, obwohl es auf unsere Existenz und damit auf etwas in der Zeit Stattfindendes wirkt.

Doch zurück zum Tod: Aus der von mir gemachten wunderbaren Erfahrung meiner Vorleben ergibt sich, dass er keinesfalls das Ende unseres Daseins ist, ja es angesichts der Wirkweise des Karmas gar nicht sein kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass das vorhin erwähnte Konglomerat aus materiellen und immateriellen Bestandteilen, zu denen wie gesagt auch das Bewusstsein zählt, am Ende eines Lebens nicht in seiner bisherigen Form zu existieren aufhören würde – oder mit anderen Worten: Der Atman im Sinne eines ewigen und daher unveränderlichen, von einem Leben zum nächsten wandernden Selbsts ist eine Illusion.«

»Was aber wird stattdessen wiedergeboren?«

»Etwas Veränderliches, dessen Entstehen von den von uns in unseren Vorleben gefassten Absichten abhängt und das die von uns in der Vergangenheit angelegte Saat keimen lässt. Ach Kunika, jetzt schau doch nicht so verzweifelt verloren! Ich werde dir eine Brücke bauen, damit du es leichter verstehst: Fürs Erste denk dir etwas, das in der Mitte zwischen Selbst und Kein-Selbst liegt.«

»Ich fürchte, ich vermag Euch noch immer nicht zu folgen, Onkel Siddhartha.«

»Nun, das eine Extrem wird von der Auffassung gebildet, dass unser wahres Selbst unveränderlich, ewig und von be­stimmten Eigenschaften geprägt ist. Die Anhänger dieser Anschauung glauben, dass Erwachen erreicht werden kann, indem man sich die Fülle der vorgestellten Eigenschaften dieses idealen Selbsts zu eigen macht. Dass dem nicht so ist, haben wir in unserem Gespräch heute Nacht bereits festgestellt.

Bei dem anderen Extrem handelt es sich um die Vorstellung, dass es überhaupt keinen Atman, kein Karma und keine Wiedergeburt, sondern letztendlich nur vollkommene Zerstörung und Vernichtung gibt. Dass auch dies nicht der wahren Natur der Dinge entspricht, habe ich, wie gesagt, an mir selbst erfahren dürfen.

Wenn zwei gegensätzliche Extreme beide nicht wahr sind, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass man woanders nach der Wahrheit suchen muss. Das habe ich getan – und habe sie in der Mitte zwischen den Extremen gefunden.«

»Und was ist das, auf das Ihr da gestoßen seid?«

»Ich nenne es den ›Anatman‹ – das Nicht-Selbst. Diese Begrifflichkeit macht deutlich, dass ich weder davon rede, dass es überhaupt kein Selbst gibt, noch von dem Selbst, das wir mit der Idee eines dauerhaften, unveränderlichen und von allem anderen unterschiedenen Ich verbinden. Das Nicht-Selbst verfügt über keinerlei Eigennatur. Das heißt, es ist nicht durch irgendwelche ihm innewohnenden Eigenschaften gekennzeichnet. Vielmehr ist es vollkommen substanzlos – und zwar aufgrund seiner Abhängigkeit von den sein Entstehen wie seine Veränderung bedingenden Faktoren. Mit einem Wort: Es ist ›leer‹.

›Leerheit‹ ist das Ergebnis Bedingten Entstehens. Deshalb ist nicht nur der Anatman durch Leerheit gekennzeichnet, sondern sämtliche Erscheinungen der Welt sind es. Verstehst du das, Kunika?«

»Also, ich glaube begriffen zu haben, was ›leer‹ bedeutet und auch, was das Nicht-Selbst nicht ist. Dadurch weiß ich jedoch nach wie vor nicht, um was es sich beim Anatman nun wirklich handelt.«

»So lass uns den Anatman noch einmal genauer betrachten. Wir haben festgestellt, dass es sich dabei nicht um ein Nichts handelt, genauso wenig wie Leerheit ›Nichts‹ bedeutet. Es scheint vielmehr ein Etwas zu sein, über das wir keine positive Aussage zu treffen vermögen. Denn auch das gilt es zu erkennen: Zu sagen, das Nicht-Selbst sei durch Leerheit gekennzeichnet, stellt eine zum besseren Verständnis gedachte Hilfskonstruktion dar. Letztendlich würden wir diesem über keinerlei inhärente Attribute verfügenden vermeintlichen Etwas durch die Kennzeichnung als leer eine Eigenschaft verleihen, nähmen wir unsere Verständnishilfe allzu wörtlich. Um dem Anatman näherzukommen, kann man daher eigentlich bloß sagen, was er alles nicht ist.

Das Nicht-Selbst liegt in der Mitte zwischen einem beschreibbaren unveränderlichen Sein – dem Etwas – auf der einen Seite und einem hundertprozentigen Nicht-Sein – dem Nichts – auf der anderen. Was aber liegt zwischen Nicht-Sein und Sein?«

»Das Werden?«

»Ach, Kunika, ich wusste, dass du es zu begreifen vermagst! Sein und Nicht-Sein sind Zustände. Beim Werden aber handelt es sich um einen Vorgang, und zwar den, in dessen Verlauf sich Potenzial – also das bisher von uns angesammelte Karma – in Sein verwandelt. Allerdings ist dieser Vorgang niemals vollkommen abgeschlossen. Dies verhält sich so, weil unsere Welt dadurch gekennzeichnet ist, dass jegliches gegenwärtige Sein stets das Potenzial für ein verändertes zukünftiges Sein enthält. Diese Erkenntnis ist von größter Wichtigkeit, ermöglicht uns dieser Umstand doch, unsere vom Karma geprägte Zukunft durch Einflussnahme auf unsere Gegenwart zu verändern und dadurch letztendlich Befreiung aus dem Kreislauf leidvoller Wiedergeburten zu erlangen.

Wie man das macht, erkläre ich dir später. Vorerst gebe ich dir ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Werden und Sein: Der in einem Samenkorn als Potenzial enthaltene Baum wird durch Wachstum zu einem in unserer Realität manifestierten. Allerdings existiert Letzterer im Zustand des Seins ausschließlich innerhalb desjenigen Zeitbruchteils, den wir vermittels unserer Wahrnehmung aus allen möglichen Zeitpunkten auswählen. Insofern stellt das dauerhafte Sein des Baums, auf das wir von unserer Erfahrung des Augenblicks schließen, eine Illusion dar. Was den Baum für uns unverändert erscheinen lässt, ist eine von unseren geistigen Bestandteilen vollzogene Kombination aus unserer von den physischen Sinnen bestimmten Wahrnehmung und gedanklicher Abstraktion.

Auf Dauer hat jedoch nicht einmal unsere Vorstellung Bestand, während der unabhängig von unserer Imagination existente Baum ohnehin ständig entweder im Prozess des Werdens oder Vergehens befangen ist. Mit ›Vergehen‹ bezeichnen wir dabei ein Werden, das sich in unserer Wahrnehmung als eine Art Auflösung von Sein darstellt. Wie du siehst, verhält es sich mit dem Vergehen wie mit dem Selbst: Beides ist jeweils eine der Art unserer Wahrnehmung und unserer daraus abgeleiteten gedanklichen Abstraktion geschuldete Illusion von Wirklichkeit.

Lass uns in unserem Beispiel bleiben, das sich zwar mit der materiellen Seite befasst, genauso aber auch auf geistige Phänomene zutrifft, und du wirst verstehen, dass es ein Vergehen eigentlich nicht gibt, sondern ausschließlich das Werden existiert: Der Blitz schlägt in unseren Baum ein, Käfer befallen das Holz und am Ende der sichtbaren materiellen Verwandlung beinhaltet der zu fruchtbarem Erdboden gewordene ehemalige grüne Riese das Potenzial für das Wachstum einer neuen Pflanze, die ihrerseits wiederum potenzieller Humus oder auch potenzielles Futter für ein Tier ist.

Als Vorgang handelt es sich beim Werden um etwas sich auf einer relativen Ebene Abspielendes. Schließlich ist es zeitabhängig, wobei das von unserer Wahrnehmung augenblicklich erfasste kurzfristige Sein – wie z.B. der von uns erblickte Baum – in Bezug gesetzt wird zu dem von uns zu einem früheren Zeitpunkt wahrgenommenen Sein – in unserem Beispiel dem Samenkorn. Wie das jeweilige Potenzial in diesem Prozess gestaltet ist und welche Art der Verwandlung daraus im weiteren Verlauf stattfindet, oder mit anderen Worten gesagt: wie das Karma sich manifestiert – ob also aus dem Humus unseres Beispiels eine später abermals zu Erde werdende Pflanze entsteht oder eine einem Tier als Futter dienende, ob ein neuer Baum wächst oder bloß ein Strauch –, ist von der Beschaffenheit des Karmas und vom Bedingten Entstehen abhängig – wobei Letzteres vom karmischen Standpunkt aus betrachtet eine Interaktion des Karmas mit den am jeweiligen Werden beteiligten Phänomenen darstellt.

Auch das Wechselspiel der Bestandteile dessen, was wir in unbewusster Abstraktion üblicherweise als unser Selbst auffassen – also von Körper, Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungs-, Unterscheidungs- wie generellem Denkvermögen, Einstellungen, Gewohnheiten, Wille und Bewusstsein –, wird ausschließlich durch die Prinzipien des Bedingten Entstehens und des Karmas gelenkt – sowohl untereinander als auch mit der Außenwelt. Schließlich handelt es sich bei dieser Wechselwirkung um nichts anderes als das voneinander abhängige Werden der genannten Komponenten. Diese Erkenntnis ist ein weiterer Beleg dafür, dass der für das karmische Zusammenspiel dieser unserer Bestandteile zuständige Organisator, als den du dir deinen Atman vorhin noch vorgestellt hast, überflüssig ist.

 Wie du an dir selbst feststellen kannst, erschaffen wir bei dem Gedanken an unser Ich, Selbst oder unseren Atman für gewöhnlich alle möglichen Assoziationen über unser Sein. Im Gegensatz dazu geht es bei der Erkenntnis des stets im Werden befindlichen Nicht-Selbsts vor allem darum, nicht zutreffende Identifikationen aufzulösen.«

»Verstehe. Bisher haben wir lediglich über Atman und Anatman gesprochen. Betrachte ich nun die Beziehung zwischen Atman und Brahman …«

»Entschuldige, wenn ich dich hier sogleich unterbreche, Kunika. Doch mach bitte nicht den Fehler, das Nicht-Selbst für etwas Exklusives zu halten. Es ist nicht anders geartet als alle sonstigen Erscheinungen dieser Welt. Erinnere dich: Das Bedingte Entstehen führt zu einer Dynamik ständiger Veränderung. Dies aber heißt nichts anderes, als dass sämtliche Phänomene ständig im Werden begriffen sind.

Könntest du einen Augenblick dehnen und dadurch eine Pause in den stets fortschreitenden Wandel einschalten, würde dich das in die Lage versetzen, von allem Existierenden jeweils für diesen einen Augenblick zu sagen, wie es beschaffen ist – doch nur für ihn und lediglich in Abhängigkeit von unserer Wahrnehmung wie Verständnisfähigkeit. Allein die flüchtige Gegenwart kennt also das Vorhandensein des Etwas. Dies betrifft den Anatman genauso wie sämtliche sonstigen Erscheinungen.

Insofern hängt es einzig von unserer Betrachtungsweise ab, ob wir das Nicht-Selbst und alle anderen Phänomene jeweils als ein lediglich augenblicklich existierendes und daher auf längere Sicht im Wesentlichen unbeschreibliches Sein oder als ein sich über größere Zeiträume ständig veränderndes und daher ebenso wesentlich unbeschreibbares Werden auffassen.

Die vielen von uns gemachten Assoziationen wurzeln sämtlich in einem diesen Sachverhalt verkennenden Verhalten: Wir transferieren, was bloß augenblicklich ist, auf die Ebene des Grundsätzlichen, Absoluten. Genau das tust auch du, wenn du versuchst, vom Atman beziehungsweise Anatman auf das Brahman zu schließen.

Es ist von äußerster Wichtigkeit, dir Folgendes bewusst zu machen: Solange sowohl unsere Wahrnehmung also auch unser Verständnis der Beschaffenheit des Seins von dem das sogenannte Selbst konstituierenden Konglomerat aus physischen wie psychischen Komponenten abhängig sind, wird das Sein sich uns niemals anders darstellen, denn als etwas Relatives – oder anders ausgedrückt: Als aus den bereits genannten voneinander, ihrer Umwelt wie der Zeit abhängigen materiellen wie geistigen Bestandteilen zusammengesetztes Wesen vermag der Mensch nicht anders wahrzunehmen und zu verstehen als durch Vergleiche, das Herstellen von Zusammenhängen sowie daraus erwachsende Abstraktionen. Wie aber soll solch ein auf Relationen angewiesenes Wesen eine stichhaltige Aussage über das Absolute machen?«, lächelte Onkel Siddhartha mich an.

»Ja, das sehe ich ein«, gab ich ebenso lächelnd zurück.

»Doch bevor wir zu sehr abschweifen, mein Junge, lass uns auf das Nicht-Selbst zurückkommen. Es ist immens wichtig, stets im Hinterkopf zu behalten, dass der Anatman nicht unser ureigenstes Wesen darstellt, über das wir uns definieren und für das wir unser Selbst üblicherweise halten. Weißt du, was das für dich persönlich heißt, Kunika?«

»Dass ich nicht der bin, der ich bisher geglaubt habe zu sein?«

»Das auch. Doch bedeutet es unschätzbar viel mehr: Noch zu Beginn unseres Gesprächs hattest du gedacht, dein innerer Mensch sei vollkommen wertlos, dein ›Selbst‹ also ohne jeglichen Wert. Nun habe ich dir durch meine Ausführungen jedoch aufgezeigt, dass dieses dir so unendlich große Probleme bereitende Selbst überhaupt nicht existiert! Folglich kann es auch nicht bewertet werden – bei niemandem. Dies wiederum macht es vollkommen unmöglich, Menschen ihrem Wert nach zu vergleichen und in Hierarchien oder Kategorien einzuteilen.

Dies gilt selbstverständlich auch für dich, Kunika. Wie jeder Mensch verfügst du statt über den bisher von dir postulierten Atman über ein Nicht-Selbst in seiner Leerheit. Diese Erkenntnis ermöglicht es dir, dich von dem frei zu machen, was du bisher für das Herzstück deiner Existenz gehalten hast. Das, mein Sohn, das ist der erste Schritt auf dem Weg zur vollständigen Befreiung aus dem Kreislauf leidvoller Wiedergeburten.«

Nach dieser Erklärung schaute ich den Erwachten voller Erstaunen an. Er hatte soeben mein bisheriges Weltbild auf den Kopf gestellt. Trotzdem schien es mir, als habe er in meinem Inneren eine Tür geöffnet. Lag dahinter der Pfad, der mich von meinem bisherigen verzweifelten Lebensweg abbringen und in eine bessere Zukunft führen würde?