»Ich bin nicht krank, wie du gesagt hast, Meister, ich bin tot«, erklärte Platschu dem betagten Heiler nach seinem auf die Messerattacke erfolgten ausgedehnten Schlaf. Während er sprach, schaute er den alten Mann nicht an, sondern blickte in das von unzähligen Bäumen begrünte Tal. Nach einer Weile des Schweigens erklärte er sich genauer:
»Zwanzig Jahre sind seit meiner Geburt vergangen – und doch habe ich bisher noch nie echtes Leben kennengelernt. Das mag sich absurd anhören, bedenkt man, dass es von Kindesbeinen an meine Aufgabe gewesen ist, Leben zu retten. Doch was ist das für ein Leben, das nichts anderes kennt als Gewalt?
Du hast Recht, Meister: Dort, wo ich herkomme, grünt und blüht nichts – nicht in der die Menschen umgebenden Landschaft, aber auch nicht in ihren Herzen. Die Mitglieder der Mediziner-Klans sind die Einzigen, die überhaupt jemals Mitleid mit irgendjemandem empfinden. Doch ist es auch für sie selbstverständlich, dass einem Menschen das Recht zu leben abgesprochen wird, sobald er keinen offensichtlichen Nutzen bringt.
Aufgrund meiner Träume, die mich neben anderen Gegenden auch dieses Tal haben sehen lassen, habe ich mich unendlich lange nach der hier von der Natur vorgemachten Art zu leben gesehnt – einem Blühen, Grünen und Gedeihen, das nicht nach Sinn oder Verdienst fragt, sondern einfach dem Drang folgt, den mit diesen Handlungen einhergehenden Segen zu verbreiten. Und jetzt ich tatsächlich in einer solch fruchtbaren Gegend angekommen bin, weiß ich nicht, wie ich mit Menschen umgehen soll, deren Herzen einfach so vor Liebe überquellen wie die sie umgebende Natur …
Bisher hatte ich gedacht, kein allzu schlechter Mensch zu sein. Doch ist mein Herz genauso verdorrt wie die Landschaften auf der anderen Seite. Da blüht und grünt nichts. Als Arzt weiß ich, was ich zu tun habe, doch als Mensch weiß ich es nicht – habe es noch nie gewusst. Weil ich schon immer anders war, gleichzeitig aber auch nicht so sein wollte wie meine Mitbürger, sondern lieber wie die Menschen in meinen Träumen, ist es mir schwergefallen, private Beziehungen einzugehen. Daher weiß ich nicht … Ich kann nicht …«
»Glaub mir, mein Sohn, du wirst es schnell lernen. Das Einzige, das du dazu brauchst, sind die richtigen Schlüssel. Einige besitzt du bereits, so zum Beispiel die Einsicht, unter schlimmen Beeinträchtigungen zu leiden, sowie den Willen zur Veränderung. Damit Letztere gelingen kann, benötigst du allerdings noch einen dritten Schlüssel: Vertrauen. Lass dich von mir an die Hand nehmen und uns die nächsten Schritte gemeinsam unternehmen. Was hältst du davon?«
Nach einigem Nachdenken antwortete Platschu:
»Ich werde nicht eher einen Fuß in dieses Tal da unten setzen und Kontakt zu den Menschen dort aufnehmen, als bis es mir gelungen ist, den Stein aufzuweichen, der sich mein Herz nennt, sowie meine unterschwellige Gewaltbereitschaft zu überwinden, die – wie wir gesehen haben – zu gefährlichen Situationen für meine Mitmenschen führen kann. Hast du die Zeit und Geduld, Meister, mir dabei zuzuschauen, wie ich diese wunderbar heilende Natur betrachte, ihr zuhöre und mich in sie einfühle, um von ihr zu lernen?«
»Nicht nur das, mein Sohn. Ich werde dich bei deinen Selbstheilungsversuchen mit aller Macht unterstützen. Schließlich bin ich Arzt. Du aber solltest wissen, dass die Weissagung, die dein Kommen angekündigt hat, auch davon spricht, dass der Mensch, dem es gelingen wird, sich aus der Hölle des Kriegs auf der anderen Seite hierher zu flüchten, durch die Überwindung seines eigenen Leidens ein großer Heiler für die gesamte Menschheit werden wird.«
»Na, ich weiß nicht …«
»Deine Bescheidenheit ehrt dich. Andererseits ist es niemals falsch, sich ein ehrgeiziges Ziel zu setzen, will man etwas erreichen … Sag einmal, mein Sohn, jetzt haben wir bereits so viel miteinander besprochen und erlebt, und ich kenne nicht einmal deinen Namen. Wie heißt du eigentlich?«
»In meiner Muttersprache nennt man mich Platschu, also ›den Weinenden‹.«
»Aber das ist doch kein Name!«
»Bis in jungen Jahren ein Junge mit einem Messer auf mich losgegangen ist und mir die Wange aufgeschlitzt hat, hatte ich einen anderen Namen. Doch erinnere ich mich nicht an ihn. Niemand tut das, weil ich damals noch sehr klein war. Seit diese Narbe zu meinem Erkennungsmerkmal geworden ist, hat mich ein jeder Platschu genannt – selbst meine Eltern. Was ist dagegen einzuwenden?«
»Nun, selbstverständlich ist es möglich, jemanden nach solchen Äußerlichkeiten zu benennen. Hier bei uns ist es allerdings üblich, einem Kind mit seinem Namen ein Lebensziel zu setzen. Heißt einer ›Der Glückliche‹ bedeutet dies also nicht, dass seine Umwelt meint, dieser Mensch zeige bereits eine glückliche Grundstimmung, sondern dass man dem Kind wünscht, es möge ihm gelingen, sich in entsprechender Weise zu formen.«
»Darf ich fragen, wie du heißt, Meister?«, erkundigte Platschu sich daraufhin. Da erklärte der betagte Heiler:
»Man nennt mich Namka. In deine Sprache übersetzt bedeutet das in etwa ›Weit wie der Himmel‹. Der hinter dieser Bezeichnung verborgene Wunsch ist der, dass Geist wie Herz bei mir stets vollkommen offen für alles sein sollen. Erst eine solche Einstellung ermöglicht tiefgreifende Heilung. Verurteile ich meine Patienten für Verhaltensweisen, die sie krank gemacht haben, spüren sie das und reagieren mit Widerwillen auf meine Ratschläge. Nun ja, jedenfalls glaube ich, dass sich dies so verhält …«
»Namka – das ist ein sehr schöner Name. Denken hier alle Menschen so tief über alles nach wie du, Meister?«
»Aber nein! Auch bei uns wirst du bei den meisten Oberflächlichkeit und sogar Unzufriedenheit antreffen. Weißt du, wenn man nicht gerade aus solch einer Hölle kommt wie du, sondern an ein Paradies wie das sich zu unseren Füßen erstreckende gewöhnt ist, findet man selbst daran eine Menge zu kritisieren. Ich fürchte, damals, als die Vergiftung der Welt dazu geführt hat, dass unsere Vorfahren diesen unseligen Krieg begonnen haben, ist auch der menschliche Geist stark vergiftet worden. Unersetzbare Wissensschätze sind während des generationenübergreifenden Kampfs ums reine Überleben unwiederbringlich verlorengegangen. Daher sind auch hier viele Menschen krank und benötigen einen Heiler. Jahrzehntelang habe ich mich bemüht, ihnen ein solcher zu sein. Doch trotz aller Anstrengungen fehlt es leider auch mir am nötigen Wissen«, seufzte Namka.
Da Platschu begriff, dass sein Mentor soeben nicht von physischen Krankheiten und entsprechenden Behandlungsmethoden gesprochen hatte, fühlte er sich angesichts des Geständnisses, dass das, was ihm als Paradies erschien, im Grundsatz ebenso von menschlichem Unwissen und daraus erwachsenden Verirrungen geprägt war wie seine Heimat, ratlos und deprimiert. Wieso vermochten es die Hiesigen nicht, die wunderbare sie umgebende Natur zu ihrer Heilung zu nutzen?
Da er diese Frage nicht auszusprechen wagte, schwieg Platschu. Doch regte sich sogleich weiterer Zweifel: Wenn schon ein Mensch wie der neben ihm sitzende weise, alte Mann kein Heilmittel gefunden hatte, wie sollte dann ausgerechnet er, der selbst zutiefst an der Welt litt, ein großer Heiler für die Menschheit werden?
Namka schien Gedanken lesen zu können: Obwohl Platschu seine Zweifel nicht laut geäußert hatte, sagte sein Kollege plötzlich:
»Möglicherweise leiden die Menschen hier – mich eingeschlossen – nicht genug, um das Durchhaltevermögen zu entwickeln, das es braucht, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man dem Leiden in der Welt entkommen kann. Und vermutlich fehlt ihnen darüber hinaus die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die außerhalb ihres alltäglichen Erfahrungshorizonts liegen. Du aber verfügst über beides: das von der anderen Seite mitgebrachte Leiden sowie über die Begabung, dir Wissen zu erträumen, das die Menschheit sich bereits einmal erarbeitet, dann jedoch wieder verloren hat.
Bitte denk darüber nach, ob du den von mir vorgeschlagenen Weg gehen willst. Solltest du dies tun, kannst du auf meine uneingeschränkte Unterstützung zählen. Doch bedeutet dies selbstverständlich nicht, dass du nicht die Freiheit hättest, etwas anderes für deine Zukunft zu wählen.«
»Glaubst du wirklich, dass es möglich ist, Träume zu steuern? Schließlich wäre dies die Grundvoraussetzung dafür, dass ich mir Antworten auf unbeantwortete Fragen erträume – also ich meine solche, auf die zumindest wir heutigen Menschen nicht zu antworten wissen. Bisher sind meine Träume mir eher durch Zufall gekommen. Dabei ist mir zwar aufgefallen, dass sie oft durch etwas am Tag von mir Erblicktes ausgelöst werden. Doch wie soll ich wissen, was ich sehen muss, damit sich deine Hoffnung erfüllen kann?«
»Ich muss gestehen, dass ich das ebenso wenig weiß wie du. Dies ist ein Schlüssel, den du erst zu finden hast. Möglicherweise ist es aber auch gar nicht so kompliziert, wie wir denken, und es genügt, wenn du dich deiner Begabung einfach einmal mit aller Kraft zuwendest. Da dein Alltag bisher von den Verpflichtungen eines Sanitätsoffiziers geprägt war, hast du deinen Träumen eventuell nur noch nicht ausreichend Entfaltungsmöglichkeit eingeräumt. Hier zu sitzen, um sich von der Natur heilen zu lassen, wie du das ins Auge gefasst hast, ermöglicht deiner Traumbegabung vielleicht, sich viel stärker zu entwickeln als bislang. Der einzige Weg herauszufinden, was funktioniert, besteht wahrscheinlich darin, einmal einiges auszuprobieren, meinst du nicht auch?«
»Da könntest du Recht haben, Meister Namka. In Anbetracht deiner Großzügigkeit, mir deine uneingeschränkte Unterstützung zuzusagen, will ich nicht engherzig sein und wenigstens den Versuch unternehmen, meinem Leben hier oben eine entscheidende und hoffentlich nicht nur für mich heilsame Wendung zu geben. Doch hätte ich zunächst einen Wunsch«, murmelte Platschu vor Verlegenheit errötend.
Von dieser Bescheidenheit gerührt, gleichzeitig aber auch neugierig, was des jungen Mannes Begehr sein könnte, entgegnete Namka:
»Wenn ich dazu in der Lage bin, werde ich ihn dir erfüllen. Sag, was wünschst du dir?«
»Ich würde gern wissen, ob es in deiner Sprache ein Wort für einen Träumer gibt.«
»Wir würden so jemanden einfach als ›Milampa‹ bezeichnen – einen Mann, der träumt.«
»Milampa … Das gefällt mir. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich dich bitten, mich von nun an so zu nennen. Und auch die Hirten sollen das bitte tun.«
»Milampa, du bist ein weiser Mann. Durch diese Bitte, die wir dir alle liebend gern erfüllen werden, hast du trotz deiner dich augenblicklich stark beeinträchtigenden Verletzungen aufgehört, der Flüchtling von der anderen Seite zu sein, und dich stattdessen zu einem von uns gemacht. Das wird dir ganz sicher sogleich alle Herzen öffnen. Komm, lass dich endlich umarmen!«