Nicht lange nach Platschus Entschluss zu versuchen, sich von einem Geflüchteten zu einem Traumyogi zu machen, zogen die Hirten mit ihren Schafen weiter und ließen den nunmehr Milampa Genannten mit seinem Mentor allein. Nur wenige Tage später brachte eine von den hilfsbereiten Schäfern benachrichtigte Gruppe junger Leute die von Namka bestellte Medizin einschließlich Verbandsmaterial, dazu Vorräte, Decken sowie einige andere zum Überleben wichtige Dinge zur Höhle. Von dieser bisher nicht gekannten Großzügigkeit zutiefst gerührt nahm sich der Genesende umso fester vor, die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht zu enttäuschen.
Von seinen körperlichen Verletzungen erholte der junge Mann sich außergewöhnlich schnell. Dies lag ebenso an der für ihn ungewohnt reichhaltigen Nahrung und der guten Pflege durch seinen betagten Kollegen wie an seinen stillen Naturbetrachtungen, von denen ihm nicht bewusst war, dass sie den Beginn einer sein weiteres Leben prägen sollenden Meditationspraxis darstellten. Mit nachlassenden Schmerzen wie wachsender Rückkehr seiner Körperkräfte ergriff den Gesundenden bald aber auch eine immer stärker werdende Unruhe. Da er seine ganze Hoffnung darin setzte, ungewöhnliche Träume durch betrachtendes Sitzen auszulösen, unterdrückte er diese ihn zunehmend peinigende Unrast jedoch mit aller Macht – bis sie eines Tages so stark wurde, dass sie ihn dazu brachte, aufzuspringen, zu einer Seitenwand der Höhle zu eilen und mit den Fäusten auf den Fels einzuschlagen. Dabei gab er unartikuliert schreiende Laute von sich, die mit nachlassender Kraft allmählich leiser wurden, bis er schließlich vor Erschöpfung an der Felswand hinabrutschte, an diese gelehnt sitzenblieb, das Gesicht mit den Händen bedeckte und in Tränen ausbrach.
Trotz der von der Heftigkeit dieses Ausbruchs hervorgerufenen Sorge hatte Namka schon länger etwas in der Art erwartet, war es doch unübersehbar gewesen, wie Milampa mit Fortschreiten seiner Bemühungen immer angespannter geworden war. Jetzt gesellte der betagte Heiler sich zu seinem Schützling und fragte mitfühlend:
»Was ist los, mein Sohn?«
Der klagte schluchzend:
»Ich habe mich geirrt. So funktioniert das nicht! Dieses ewige Nichtstun halte ich nicht länger aus! Ist dir eigentlich bewusst, Meister, was es heißt, auf der anderen Seite ein Lazarett zu leiten? Ich bin von frühmorgens bis spät in die Nacht im Dienst gewesen, habe operiert, mich um die Patientennachsorge gekümmert, meine Mitarbeiter motiviert, Krisensitzungen geleitet, um trotz allen Mangels wenigstens die allernotwendigsten Dinge zu organisieren, ja ich habe sogar eine eigene notdürftige Produktion von Medizin wie allem möglichen in einem Lazarett Gebrauchten betrieben. Um an das dafür notwendige Material zu kommen, habe ich mich gegen jede Vorschrift mit Schmugglern eingelassen. Gleichzeitig habe ich versucht, die Befehle der jeweils für mich zuständigen Kriegspartei zum Wohl meiner Patienten wie Mitarbeiter umzusetzen, habe die Bewegungen an der Front verfolgt, im Fall der Fälle für die Verlegung des gesamten Lazaretts gesorgt und dabei selbstverständlich auch mit angepackt.
Ich habe gehungert, gefroren, geschwitzt und denselben von schlechtem Essen, verfaultem Wasser sowie allen möglichen Erregern ausgelösten Krankheiten getrotzt wie Mitarbeiter und Patienten. Um die ewige Schläfrigkeit zu vertreiben, habe ich Körperübungen gemacht, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergeben hat. Schließlich habe ich mich mein ganzes Leben noch nie ausschlafen können wie hier.
Meine kostbaren medizinischen Gerätschaften ebenso wie unsere Vorräte habe ich mit der Waffe in der Hand gegen Marodeure verteidigen müssen. Mit meinen Mitarbeitern habe ich eigenhändig Zelte mitsamt Insassen aus dem Dreck ausgegraben, waren sie wieder einmal durch Angriffshandlungen verschüttet worden. Hatte ich beschlossen, das Feldkrankenhaus nicht zu verlegen, hörte jedoch die Front näher rücken, habe ich entsetzliche Ängste um meine Mitarbeiter, vor allem aber um meine Patienten ausgestanden. Schließlich wusste ich, dass die Verwundeten nicht so unantastbar sind wie wir Mediziner: Bei einer Lazarettübernahme durch den Feind werden sie jedes Mal sämtlich getötet.
Vermagst du dir vorzustellen, wie es ist, wenn du dabei zusehen musst, wie Menschen, um deren Leben du gerade noch trotz aller Widrigkeiten mit aller Kraft gekämpft hast, erschlagen, erwürgt oder erstickt werden, weil dies die billigsten Methoden sind, jemandem zügig das Leben zu nehmen? Weißt du, wie viele Berge von auf die Grube wartenden Patientenleichen ich von Kindesbeinen an gesehen habe? Wie es ist, von klein auf in Menschenblut zu waten, dir deinen Weg durch amputierte Gliedmaßen zu bahnen? Wie schmutzig, geschunden, krank und unglücklich all die Menschen und selbst die wenigen Tiere aussehen, denen man in meiner Welt begegnet? Wie raubtierhaft oder leer der Blick so vieler ist? Welch jammervollen Anblick die zerstörte Natur bietet?
Was meinst du, mit welchen Zweifeln ich angesichts dieses Elends tagtäglich gerungen habe? War es richtig, Menschen das Leben zu retten, für ihre körperliche Gesundung zu arbeiten, bloß damit sie anschließend erneut den Kampf aufnehmen konnten – mit der Waffe in der Hand gegen ihre Feinde genauso wie den von jedem gegen die Beschwernisse des Alltags geführten?
Ja, ich hatte von meinen Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten von klein auf und daher ungefragt die Tradition übernommen, Arzt zu sein. Doch welchen Segen bringt es, wenn man den Körper heilt, doch nicht die Seele, die gar nicht gesunden kann, weil man die Lebensbedingungen unverändert lässt? Quält man mit der Rettung von Verwundeten und Kranken diese in einer solchen Lage nicht auf gewisse Weise, indem man sie immer wieder aufs Neue zurück in ein Leben wirft, das diesen Namen in Wahrheit nicht verdient, weil es in allen Aspekten von Krieg und Gewalt bestimmt wird? Sollte man ihnen stattdessen nicht besser die von ihnen hart verdiente Ruhe des Todes gönnen? …
Wer könnte solche Fragen beantworten? Zumal nicht abzusehen ist, dass sich die in meiner Heimat herrschenden allgemeinen Lebensumstände in nächster Zukunft ändern werden oder gar von einem Feldchirurgen wie mir irgendwie positiv beeinflusst werden könnten!
Dort drüben, in dieser tagtäglichen Hölle habe ich, sobald ich endlich zum Schlafen kam, von grünen Paradiesen wie dem geträumt, in dem wir uns befinden. Hier jedoch erscheinen mir entgegen all unserer Hoffnungen keine Lösungen zur Heilung der Menschheit vom Leiden. Gequält von der ungewohnten Beschäftigungslosigkeit am Tag sehe ich des Nachts stattdessen nichts als Blut, Dreck, Schmerz, Gewalt und Tod, Tod, Tod!
Das würde ich verstehen, handelte es sich bei diesen Träumen um Erinnerungen an mein früheres Dasein. Zwar beginnt es stets damit, wie ich auf die Grube wartend zwischen den Leichen meiner ermordeten Patienten liege und später hier im Berg die Finsternis des Todes in mir verspüre, doch … doch geht es im weiteren Verlauf nicht darum. Vielmehr … Ich …«
Da Milampas Redefluss an dieser Stelle völlig abbrach, fragte Namka nach einer Weile geduldigen Wartens vorsichtig:
»Dein Träumen von Unbekanntem hat also bereits begonnen?«
»Ja.«
Da auf dieses einsilbige Bekenntnis abermals nichts weiter folgte, hakte der Ältere schließlich nach:
»Deine Klage von vorhin hat geklungen, als träumtest du von einem dir bisher unbekannten Krieg.«
Als der Traumyogi diese Vermutung lediglich durch ein Kopfnicken bestätigte, fuhr Namka mit seinen Erkundigungen fort:
»Doch bist du in diesem Krieg kein Heiler, sondern ein Kämpfer, nicht wahr?«
»Wie kannst du das wissen?«, fragte Milampa betroffen, worauf sein Mentor entgegnete:
»Ich weiß es nicht, sondern habe es bloß vermutet, da ich davon ausgehe, dass du dich gegen die Rolle des Heilers nicht dermaßen stemmen würdest … Spielt das, was du siehst, in der Gegenwart oder der Zukunft?«
»Das ist mir nicht bekannt. Betrachte ich es jetzt im Nachhinein, erscheint es mir eher als etwas aus ferner Vergangenheit, etwas, das irgendwie davon ›geweckt‹ wurde, dass wir uns in einer auf einem Berg gelegenen Höhle befinden. Doch wenn ich es träume, empfinde ich es als Gegenwart. In dieser erlebe ich mich allerdings nicht als mein tatsächliches Ich, also als Milampa, sondern als eine Person, die ich zwar sehe, als sei sie ein anderer Mensch, von der ich sonst aber alles weiß.
Nein, das stellt keine gute Beschreibung dar. Es verhält sich vielmehr so, dass, diesen Menschen im Traum zu betrachten, für mich so ist, als schaute ich mein Spiegelbild an. Dieses zeigt mir einen Mann, der mit dem hier vor dir Sitzenden nichts gemein hat. Trotzdem identifiziere ich mich im Traum vollständig mit diesem anderen, weil ich in Echtzeit seine Gedanken denke, seine Gefühle fühle und die Welt im Ganzen so wahrnehme, als sei ich er – ja, weil auch die Welt mich als ihn wahrnimmt. Das ist …«
Da Milampa selbst nach längerem Abwarten abermals nicht weitersprach, ergriff Namka schließlich das Wort:
»Dieser andere Mann, von dem du mir bisher lediglich gestanden hast, dass er ein Krieger ist, – was hat der getan, das es selbst einen wie dich verstummen lässt, der im Gegensatz zu mir daran gewöhnt ist, Zeuge unvorstellbaren Entsetzens zu sein?«
»Es ist dermaßen schockierend, dass ich nicht weiß, wie ich dir das mitteilen soll. Immerhin ist es durch meine Traumwahrnehmung zu meiner eigenen Erinnerung geworden … Statt von Heilung zu träumen, habe ich mich zu einem wahrhaft dämonischen Täter gemacht. Was macht das für einen Sinn? Es quält mich ungemein, entdecken zu müssen, dass ich offenbar weitaus stärkeren Schaden genommen habe, als wir beide das bisher realisiert hatten. Und es stellt das Traumprojekt als Ganzes in Frage …«
Hier unterbrach Namka seinen Schützling:
»Warte, halt ein, mein Sohn! Gib jetzt nicht auf! Durch deine Worte glaube ich begriffen zu haben, weshalb deine Träume diese neue Form angenommen haben: Wer der gesamten Menschheit Heilung bringen will, muss auch, ja möglicherweise sogar vor allem die Täter erreichen, oder nicht? Meinst du nicht, dass die Kämpfer auf der anderen Seite dich niemals ernst nehmen würden, hättest du die Welt nicht auch einmal aus ihrer Perspektive erlebt?«
Mit der Antwort auf diese Frage ließ Milampa lange auf sich warten. Da für seinen Freund deutlich zu sehen war, wie schwer der junge Mann mit sich rang, wartete er diesmal darauf, dass dieser sich äußere. Am Ende gestand der Traumyogi verzweifelt:
»Vermutlich hast du Recht, aber … Bitte, versteh doch: Ich bin ein Mensch mit festen moralischen Grundsätzen! Ich kann nicht … Nicht einmal im Traum …«
»So ist dies bereits das Ende deines Projekts?», fragte Namka trotz seines Verständnisses für Milampas Lage bitter enttäuscht. Der entgegnete:
»Als ich dich gewarnt hatte, dass ich den Krieg in mir trage, hatte ich die volle Dimension dieser Aussage selbst noch nicht erfasst. Ja, ich habe hier bereits zum Messer gegriffen. Doch ist das nichts im Vergleich zu den Taten des Traumkriegers. Was, wenn dieses andere Ich aus der Traumwelt in die Realität wechselt, weil ich es zugelassen habe, mich zu diesem zu machen? Ich würde mir nie verzeihen, würde dieser entsetzliche Albtraum Realität.«
»Mein lieber Milampa, wir kennen uns noch nicht besonders lange. Trotzdem glaube ich, ganz gut einschätzen zu können, mit was für einem Menschen ich es bei dem hier vor mir sitzenden zu tun habe. Du hast soeben selbst von deinen festen moralischen Grundsätzen gesprochen. Und du hast mir über deine Rolle in dem Krieg auf der anderen Seite erzählt. Beides hängt eng miteinander zusammen und trägt zu deinem Selbstverständnis als Heiler bei.
Lässt du dich mit der Absicht, Heilung herbeizuführen, auf das Abenteuer ein, in deinen Träumen ein Schreckenskrieger zu sein, setzt du diesem damit eine Grenze, die er nicht zu überschreiten wagen wird. Es macht einen großen Unterschied, ob du dich in jenen Krieger verwandelst, weil du dich insgeheim von seiner Grausamkeit angezogen fühlst oder weil du trotz deiner auch weiterhin bestehenden Ablehnung seiner Taten erfahren möchtest, wie er dir helfen kann, dich und uns andere zu heilen.
Niemand hat je gesagt, dass diese Übung leicht werden würde. Vielleicht ist dies der Preis, den wir dafür zu zahlen haben, dass wir hier im Grünen sitzen dürfen und von uns nicht erarbeitete Nahrung zu uns nehmen, statt ein Leben wie dein vorheriges als Lazarettleiter zu führen.
Diese Aussage mag mitleidslos klingen. Immerhin bin nicht ich derjenige, der deine Träume durchstehen muss. Doch verspreche ich dir, diese anschließend gemeinsam mit dir durchzugehen. Wenn du mir jeweils erzählst, was du geträumt hast, wird dich das erleichtern. Außerdem könnten wir es sogleich niederschreiben – zunächst mit einem Stock in den Staub und fertige Formulierungen anschließend auf von meinem Volk aus im Tal wachsendem Sumpfrohr hergestelltes Papier. Wir schreiben in deiner wie in meiner Sprache. Auf diese Weise machen wir deine Erfahrungen nicht nur einem weiteren Publikum zugänglich, du könntest dadurch auch meine Muttersprache wie die dazugehörige Schrift erlernen. Was hältst du von meiner Idee?«