Vom Traumyogi zum Lehrer

Namkas großmütiger Vorschlag, gemeinsam mit Milampa ein Traumbuch zu erstellen, hatte diesen tief bewegt. Trotzdem stimmte er nicht sogleich frohen Mutes zu, sondern entgegnete ehrlich:

»Deine Vision von unserer gemeinsamen nahen Zukunft gefällt mir – sehr sogar. Doch bevor ich deine Frage beantworte, muss ich dir noch etwas gestehen, liebster Namka: Der Krieger ist nicht der einzige Grund für die Unerträglichkeit meiner Träume. Es gibt noch jemanden, von dem ich zu träumen begonnen habe– oder sollte ich besser sagen ›etwas‹? Da geht es um eine Hölle und weitere Dinge, die für einen gebildeten Menschen ins Reich der Fantasie gehören …

Möglicherweise haben meine schrecklichen Erlebnisse auf der anderen Seite ja dafür gesorgt, dass ich allmählich den Verstand verliere. Was, wenn es sich bei meinen Träumen nicht wie von euch allen hier erhofft um den Beginn eines Pfads handelt, der mich zu der Erkenntnis führen wird, wie das Leiden zu überwinden ist, sondern um einen Ausdruck zunehmender geistiger Umnachtung?«

Trotz der von diesen Worten ausgelösten Betroffenheit versuchte der neue Mentor des Traumyogis, seinen Schützling zu beruhigen:

»Ach, Milampa, ich möchte dich nicht kränken, doch hängt das, was wir für realistisch oder fantastisch, möglich oder unmöglich halten, weniger von unserem Bildungsgrad ab als von unserer Erziehung. Obwohl ich wie du ein Heiler bin, lehne ich die Möglichkeit der Existenz von Daseinsbereichen, die von unserem menschlichen abweichen und daher auch anders geartete Bewohner haben, nicht von vornherein ab. Zwar denken nicht sämtliche Einwohner des Verborgenen Tals so, doch sind hier viele der Meinung, dass im geistigen Bereich so ziemlich alles möglich ist, wir als Körperwesen dafür jedoch grundsätzlich eher wenig empfänglich sind.

Dieser Auffassung zufolge hängt es lediglich von unserer Offenheit ab, ob Geistwesen für uns erfahrbar existieren. Schließt du diese Möglichkeit grundsätzlich aus, werden sie für dich zwangsläufig nichtexistent sein und bleiben. Öffnest du dich jedoch für diese Möglichkeit – ohne dass du nun wie die Leute, an die du bei deinen Zweifeln offenbar denkst, unbedingt gleich ohne jeden Sinn und Verstand Wunder wie Magie, Außer­irdisches und was sonst noch in allem und jedem erblickst, das du dir rational nicht zu erklären vermagst –, werden sich dir möglicherweise Dimen­sionen erschließen, die dein wissenschaftlich geschulter Verstand sich zunächst nicht hat vorstellen können.

In deinem Unterbewusstsein scheint es bereits derartige Erfahrungen zu geben, die dein Verstand allerdings zensiert. Dies ruft einen emotionalen Konflikt hervor, der dich zusammen mit den wundersamen Geschichten deiner Träume an deinem Verstand zweifeln lässt. Doch denke ich nicht, dass du dir Sorgen machen musst, solange du dich ohne jegliche Zensur für deine Traumbotschaften öffnest – so seltsam sie dir auf den ersten Blick auch immer vorkommen mögen.

Lass zu, dass sie von unbekannten Welten sprechen. Das hast du in deinem früheren Dasein doch auch getan. Immerhin hättest du dir aufgrund der Erfahrung deiner zerstörten Umwelt sonst verbieten müssen, von grünenden, blühenden Landschaften zu träumen. Daher frage ich dich noch einmal: Was hältst du von meinem Vorschlag?«

Nach einer längeren Zeit nachdenklicher Betrachtung der wunderbaren Natur in dem Tal unter ihm half Milampa letzten Endes eine Vision, seine Ängste wie Zweifel zu überwinden: Ein weiteres Mal erblickte er die Lichtgestalt. Diese legte ihm an den Stellen seines eigenen Lichtkörpers, an denen sein physischer Leib nun Brandnarben trug, goldene Schutzschilde an und nickte ihm anschließend aufmunternd zu. Von diesem ungewöhnlichen Ersatz für seine Täto­wie­rungen, von dem er sich für die Zukunft große Hilfe erwartete, zutiefst be­rührt erklärte der Traumyogi sich schließlich mit Namkas Plänen einverstanden.

Damit begann für ihn wie seinen Mentor eine mehrere Jahre währende Reise in ferne Vergangenheiten, die ihnen eine Gedankenwelt eröffnete, die sie sich zuvor niemals vorzustellen vermocht hätten. Gleichzeitig wurden sie aber auch Zeugen eines zähen Ringens der Traumgestalten mit diesen Vorstellungen. Dies sorgte dafür, dass sie diese nicht bloß als eine interessante, für ihre Zeit und die darin herrschenden Verhältnisse jedoch untaugliche Theorie einstuften, sondern sich intensiv mit deren Bedeutung für ihr eigenes Dasein auseinandersetzten.

Infolge dieses Geschehens veränderte sich insbesondere die Persönlichkeit des Traumyogis stark. Dadurch dass er sich vollkommen für seine verschiedenen Traum-Ichs öffnete sowie deren heilende Entdeckungen in dem Bestreben, seinen Mitmenschen ein Beispiel zu sein, aktiv auf sein eigenes Leben anwandte, gelang ihm eine geistige Entwicklung, die nach der Fertigstellung des umfangreichen Traumbuchs dazu führte, dass er sich dauerhaft in einem auch für andere heilsamen Geisteszustand befand, den er aufgrund seiner Traumerfahrungen »Erwachen« nannte.

Sobald er diesen erreicht und so weit gefestigt hatte, dass er seinen Energiekörper nunmehr ständig als weiße, von einem nachtblauen Pferde-Lotos gekrönte Lichtgestalt wahrnahm, verließ er mit seinem ihm seit langem sehr ans Herz gewachsenen Mentor die während der vergangenen Jahre von der Höhle aus durch­streiften Bergeshöhen und begab sich hinab zu den Talbewohnern. Als Namka sah, wie gut sein Schützling trotz der Eigenheit, sich stets bescheiden zurücknehmend zu verhalten, mit den Seinen zurechtkam, senkte sich tiefer Frieden in sein Herz. Milampa brauchte ihn nicht mehr. Der Traum­yogi hatte seinen Weg gefunden.

Ihn bei seiner Suche danach zu unterstützen, hatte den Hochbetagten am Leben erhalten. Doch nun verließen ihn die Kräfte. Daher bat er seinen Freund, ohne ihn über seine Erkenntnisse zu den Menschen zu sprechen, während er in eine Hütte zurückgezogen noch ein wenig anwenden wolle, was er durch den Yogi und dessen Träume gelernt habe.

Da Milampa wusste, was dieser Wunsch zu bedeuten hatte, verabschiedete er sich inniglich von Namka. Als der Greis wenige Tage später starb, war der Traumyogi nicht traurig, sondern von großer Dankbarkeit erfüllt – nicht nur, weil er mit diesem Mann einen uneigennützigen Helfer und wunderbaren Freund zur Seite gehabt hatte, sondern vor allem, weil er wusste, dass es seinem Mentor ganz zum Schluss ebenfalls gelungen war, die Erfahrung des Erwachens zu machen.

Nach Namkas Tod wanderte Milampa mehrere Jahre lang durch das Verborgene Tal und lehrte dessen Bewohner das von ihm Erfahrene. Aus Ehrfurcht hatten diese ihm allerdings bald einen neuen Namen gegeben: Weil sie ihn als ungewöhnlich liebevoll, freundlich und gütig empfanden, hatten sie ihn gleich zu Beginn seiner Wanderung gebeten, ihn »Tchampa« nennen zu dürfen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Traumbuch vollendet war, hatte der Yogi keinen Grund gesehen, der dagegen sprach, von nun an darauf zu verzichten, sich weiter als Träumenden bezeichnen zu lassen. Da ein Name in der hiesigen Kultur mit einer Lebensaufgabe gleichgesetzt wurde, fasste er die neue Bezeichnung als »Der Liebevoll und Freundlich Gütige« nicht als Beschreibung seines Charakters auf, sondern als Aufgabe, wie er den Menschen in Zukunft begegnen sollte – vor allen denen auf der anderen Seite.

Denn darin bestand sein nächstes Ziel: Nach den Bewohnern des Verborgenen Tals wollte er den Leidenden in seiner ursprünglichen Heimat helfen. In Anbetracht ihrer Lebensumstände, von denen Tchampa erwartete, dass die sich während der Zeit seiner Abwesenheit eher verschlechtert als verbessert hatten, stellte dies allerdings ein ungemein schwieriges, ja sogar lebensgefährliches Unterfangen dar – zumal er unbedingt vermeiden musste, dadurch die Paradiesbewohner in Schwierigkeiten zu bringen.

Aus diesem Grund lehnte er das ihm von mehreren seiner Schüler großmütig gemachte Angebot ab, ihn auf seiner Mission ins Kriegsgebiet zu begleiten. Falls er bei diesem Heilungsversuch sein Leben ließ, war dies seine Sache. Doch hätte er niemals das Leben anderer in Gefahr gebracht – und bedroht war dies bereits allein dadurch, dass die in dem von Felswänden geschützten Paradies Aufgewachsenen über keinerlei Erfahrung mit der Welt außerhalb ihres Talkessels verfügten. Daher meditierte der Rückkehrwillige lange darüber, wie er sein Ansinnen in die Tat umsetzen könnte.