Da Tchampa trotz gründlichen Abwägens zu keiner Lösung fand, wie er bei einer Rückkehr in sein Geburtsland die Kriegswütigen dort dazu bewegen könnte, ihm zuzuhören, vertraute er am Ende einem diesbezüglichen Traum. Diesem folgend verließ er eines Nachts das Verborgene Tal über den einst von Namka erwähnten und nun mangels Alternative von seinen Helfern abermals gangbar gemachten zweiten Weg. Durch den bereits für einen Verhungernden fast zu engen Felsspalt, durch den der Flüchtling Platschu vor zwölf Jahren in dieses Paradies gelangt war, hätte der Erwachte mit seiner mittlerweile stattlichen Statur niemals mehr gepasst.
Nur mit ein wenig Proviant sowie einer Kopie des Traumbuchs ausgestattet begab er sich nach seinem Abschied auf die andere Bergseite, suchte sich ein geeignetes Versteck und wartete die Morgendämmerung ab, um von sicherer Warte aus die Gegend betrachten zu können, in der seit Generationen gekämpft wurde. Das Licht des neuen Tags offenbarte ihm, dass sein Traum ihn zumindest in einer Hinsicht nicht getäuscht hatte: Hier lagen nach wie vor Schlachtfelder, während sich hinter der jeweiligen Frontlinie wie gewohnt Lazarette befanden.
Sich eines davon auszusuchen in der Hoffnung, dort trotz der inzwischen vergangenen Zeit auf bekannte Gesichter zu treffen, war unmöglich: Bereits der Weg zum nächstgelegenen führte noch weit genug durch lebensgefährliches Terrain. Da sein Ansinnen nicht anders umzusetzen war, machte Tchampa sich nach kurzer Sammlung trotz aller Unwägbarkeiten mutig auf den Weg dorthin.
Für diesen Gang hatte er mit Bedacht das auffällig strahlend weiße Gewand der Mitglieder der von ihm im Verborgenen Tal gegründeten Mönchs- und Nonnengemeinschaften gewählt. In diesem würde er von allen Seiten sofort gesehen werden. Zwar ging damit das Risiko einher, getötet zu werden, doch setzte er auf den Überraschungseffekt: In der ihm von Kindesbeinen an bekannten Welt würde sich nur ein Wahnsinniger derart auffällig verhalten. Praktisch gesehen wäre es einem solchen allerdings unmöglich gewesen, an ein Gewand wie das von Tchampa getragene zu kommen: Kleidung aus weißem Stoff trug in seinem von den unterschiedlichsten Uniformen geprägten Heimatland nicht nur niemand, weil man sich dadurch sogleich zur Zielscheibe machte. Einerseits stellte Zivilkleidung etwas nahezu Unbekanntes dar, andererseits gab es schlicht kein Material, das sich bis zur Weiße bleichen ließ. Daher war Tchampa sich sicher, dass er mit seinem Auftreten Verwirrung wie Unsicherheit auslösen würde.
Sein Kalkül ging auf: Noch bevor die Kampfhandlungen für den Tag aufgenommen wurden, marschierte der Rückkehrer erhobenen Hauptes durch das umkämpfte Gebiet, als sähe er keinen einzigen der mit ihren Waffen auf ihn zielenden Soldaten, und gelangte so wie erhofft unversehrt zu seinem ersten Ziel, dem seinem Versteck nächstgelegenen Lazarett. Und auch hier bestätigte sich das im Traum Erblickte: Kaum hatte er einen Fuß in das Lager gesetzt, als ein Arzt mittleren Alters aus einem der Zelte trat, in denen die frisch Operierten versorgt wurden. Sobald der Chirurg zu der sich nähernden, alle Blicke auf sich ziehenden weißgekleideten Gestalt schaute und die markante Narbe in deren Gesicht erblickte, wich ihm mit einem Mal sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Stammelnd rief er:
»Platschu! Das kann nicht sein! Du bist seit zwölf Jahren tot! Als junger Mann habe ich selbst gesehen, wie sie deinen Leichnam zu den anderen Toten auf den Haufen geworfen haben. Oh Geist, warum kommst du heute zu uns?»
Der vermeintliche Untote entgegnete darauf milde lächelnd:
»Bitte verzeih mir, dass ich deinen Namen vergessen habe, werter Stabsarzt – und auch, dass ich dir einen Schreck eingejagt habe. Ich bin kein Geist. Doch bin ich seit damals auch nicht mehr Platschu. Dort, wo ich herkomme, nennt man mich Tchampa …«
»Ich verstehe nicht recht, was mit dir geschehen ist, Platschu – entschuldige, ich meine Tchampa. So wie du aussiehst, muss der Ort, an dem du die Zeit nach deinem Verschwinden aus unserer Welt verbracht hast, wunderbar sein. Weshalb aber kehrst du da von dort in dieses Elend zurück?«
»Weil ich mit euch, die ich hier zurückgelassen habe, teilen möchte, was ich in jener anderen Welt gelernt habe. Bisher scheint es an der Front noch ruhig zu sein. Hast du daher ein wenig Zeit für mich?«
»Da wir Mediziner, wie du weißt, niemals wirklich Muße haben, ist der Augenblick in der Tat günstig. Bitte begleite mich in meine Stube im OP-Zelt. Dort können wir reden.«
Mit dem Stabsarzt hatte Tchampa eine gute Anlaufstelle gefunden. Von der Veränderung des einst so verschlossenen Lazarettleiters zu der charismatischen Persönlichkeit, die er vor sich hatte, aber auch von dessen kraftstrotzend-gesundem, wohlgenährtem wie junggebliebenem Aussehen zutiefst beeindruckt organisierte er für Tchampa eine Transportmöglichkeit ins Hinterland. Dort kannte der Mediziner einen Hersteller chirurgischer Instrumente – einen vor vielen Jahren wegen einer Verwundung aus dem aktiven Sanitätsdienst ausgeschiedenen älteren Herrn, den er für einen aufgeschlossenen Menschen hielt. Um den ersten Kontakt zu erleichtern, gab er Tchampa ein Begleitschreiben mit.
Dies wäre allerdings nicht nötig gewesen: Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Manufakturleiter um einen Bekannten von Tchampas Eltern, den man »den Messermann« nannte. Die Mitglieder der Mediziner-Klans waren traditionell eng vernetzt. Über das Übliche hinaus hatte die für einen Nicht-Kämpfer ungewöhnliche Narbe Platschus zusammen mit der Empörung über den durch seine Folterung und Ermordung ausgelösten Skandal jedoch bewirkt, dass die vielen, die während verschiedener Lebensphasen in Kontakt mit ihm gekommen waren, ihn sogar dann nicht vergessen hatten, wenn sie ihn lediglich vom Sehen her gekannt hatten. Entsprechend hatte auch der Messermann seinen Besucher schnell als den Sohn seiner Bekannten identifiziert.
Von dem ehemaligen Arzt erfuhr Tchampa, dass seine Eltern kurz nach dem Anschlag auf sein Leben durch einen Angriff umgekommen waren, dem ihr Lazarett als sogenannter Kollateralschaden zum Opfer gefallen war. Obwohl der sensible Heiler dies intuitiv längst gewusst hatte, traf in diese Nachricht schwer: Jetzt vermochte er denen, die ihm das Leben geschenkt und erst dadurch wie durch ihre elterliche Liebe sämtliches im Verborgenen Tal Erfahrene ermöglicht hatten, weder die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse mitzuteilen, noch würde er ihnen ihr Dasein erleichtern können. Doch sah er auch das Gute an der Bestätigung der von ihm gehegten Ahnung: Seine Eltern hatten nie erfahren, was ihrem Sohn angetan worden war, und hatten daher auch nicht darunter leiden müssen.
Trotz seines martialischen Namens und des stets nach außen getragenen mürrischen Gehabes handelte es sich beim Messermann wie bereits vom Stabsarzt im Lazarett angedeutet nicht um einen unzugänglichen Menschen. Ohne allzu viele Worte darum zu machen, war er vom Auftreten Tchampas dermaßen beeindruckt, dass er diesen nicht nur beherbergte, sondern ihn sogar bald nach seiner Ankunft bat, das Traumbuch lesen zu dürfen.
Während er damit beschäftigt war, sprach er allerdings nicht mit dem Verfasser, sondern jagte ihn gleich bei dessen erstem Besuch in seinem Büro wütend aus diesem hinaus. Erst als er ausgelesen hatte, ließ er Tchampa rufen, der während der zwischenzeitlich vergangenen Wochen zunächst nur mit den Arbeitern der Werkstatt gesprochen hatte, später jedoch von immer mehr Menschen aufgesucht worden war. Entgegen jeglicher Gepflogenheit hatten die glücklicherweise bald begonnen, ihm Essbares mitzubringen, und dem vom gesellschaftlichen Standpunkt aus Tatenlosen so das Überleben ermöglicht.
Kaum hatte der Leiter der kleinen Manufaktur nun die Tür hinter sich und Tchampa geschlossen, ging er auf diesen los:
»Du verdammter Scheißkerl! Wie konntest du mir das antun? Glaubst du etwa, wir würden in unserem Alltag nicht bereits genug leiden? Wir müssen uns jede einzelne für den Luxus des Lesens verwendete Minute hart abringen. Von uns kann es sich niemand leisten, einfach wie du herumzusitzen, kluge Reden zu schwingen und sich dafür von anderen durchfüttern zu lassen! Hast du eigentlich auch nur die geringste Ahnung, was es mich bisher an Bestechungen gekostet hat, dass du noch nicht als Faulenzer verhaftet worden bist? Oder hast du etwa vergessen, dass die Wüste auf diejenigen wartet, die dieser Gesellschaft nichts geben?«
»Selbstverständlich habe ich das nicht vergessen«, antwortete Tchampa leise, bevor er in demselben unaufgeregten Ton fortfuhr:
»Doch denke ich, dass auch ich dieser Gesellschaft etwas gebe – nur tue ich das auf meine Art …«
»Eine verdammte Scheiß-Art ist das!«, unterbrach der Messermann seinen Gast aufgebracht, nahm die wertvollen Papiere und fragte mit diesen in der Luft umherwedelnd in herausforderndem Ton:
»Weißt du, was ich mit diesem Pamphlet hier machen werde? Ich werde es in kleine Stücke reißen und unter den Mitarbeitern für ihren Latrinengang verteilen. Du hast mich getäuscht. Dein Auftreten ist so anders als das der Leute hier, so sanft und freundlich, so verständnisvoll. Und dann das hier! Du bist ein Dämon, der einen dazu verführt, so werden zu wollen wie du, weil man glaubt, du seist so etwas wie ein Heiliger. Doch wenn man liest, was du schreibst, dann …«
»Was dann?«
»Dann stürzt man in die Hölle! Ich hatte Geschichten voller Sanftmut und Freundlichkeit erwartet, aber doch nicht so etwas! Das ist ja schlimmer als alles, was wir tagein tagaus erleben. Ich frage dich noch einmal: Weshalb willst du das den Menschen hier antun? Was wir brauchen, ist ein uns ein wenig Frieden schenkendes Gegenstück zu unserer Welt. Dein Machwerk aber wühlt einen auf. Es tut weh, lässt einen nicht schlafen. Was soll das?«
»Ja, du hast Recht,« entgegnete Tchampa auf diese Vorwürfe mit offenem Blick, doch völlig aggressionsfrei, »dieses Werk lullt dich nicht sanft ein, damit du dich für ein paar Minuten gut fühlst. Immerhin musst du anschließend in deinen Alltag zurück. Und was nützt dir da eine Heile-Welt-Geschichte? Beim Traumbuch handelt es sich um zu vollständiger Heilung gedachte Medizin. Du bist Arzt, auch wenn du diesen Beruf nicht mehr ausübst. Daher ist dir bekannt, dass die beste Medizin meist bitter zu nehmen ist …
Trotzdem verstehe ich deinen Widerstand gegen dieses Heilmittel. Schließlich ist es mir anfangs nicht anders ergangen. Du hast es selbst gesagt: Es liegt an der falschen Erwartung. Medizin muss man mit der Einstellung einnehmen, gesunden zu wollen, nicht mit der, von ihr eine kurze Zeit Euphorie schenkenden Vergessens ermöglicht zu bekommen. Will man Letzteres, muss man zu Rauschgift greifen. Dass man von dem allerdings letztendlich nur noch kränker wird, brauche ich dir ebenso wenig zu sagen …
Du hast sehr lange geschwiegen. Doch hast du das Werk trotz all der mir soeben gemachten Vorwürfe in seiner Gänze gelesen. Weshalb?«
»Ich wollte wissen, wie es weitergeht.«
»Ist das wirklich alles?«
Der Messermann benötigte etwas Zeit, bevor er sich zu einer Antwort durchrang:
»Nun gut, man hat gemerkt, dass du einmal einer von uns gewesen bist …«
»Willst du damit sagen, dass du dich, deine Umwelt und die hier herrschenden Probleme ernstgenommen gefühlt hast?«
»Ja schon, aber wer will denn etwas über Probleme lesen, wenn er selbst mehr als genug davon hat?«
»Hat es geholfen?«
»Ich weiß nicht … Ich glaube nicht, dass ich diesen Weg gehen könnte.«
»Und deshalb bist du so wütend?«
»Mh.«
»Du bist also eigentlich wütend auf dich selbst – weil du dich fürchtest.«
»Ich fürchte mich vor gar nichts, du verdammter Wichtigtuer!«
»Oh doch! Du hast Angst vor dem Schmerz, den es mit sich bringen würde, dich deinen Verletzungen zuzuwenden – und da rede ich nicht unbedingt von deiner körperlichen Invalidität …«
»Du verdammter Mistkerl, dir hat wohl schon zu lange keiner mehr deine Grenzen aufgezeigt!«, schrie der Messermann daraufhin erzürnt, stürzte sich hinkend auf Tchampa und hieb auf ihn ein. Der aber wehrte sich nicht, sondern ließ sich geduldig treten und schlagen, bis der alte Mann sich abreagiert hatte. Anschließend setzte er sich auf, wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel, atmete tief durch, zog seine Kleider zurecht und bedachte seinen ersten Leser auf dieser Seite der Berge mit einem ebenso traurigen wie mitfühlenden Blick.
»Hör auf, mich so anzugucken!«, forderte dieser daraufhin eher verzweifelt als wütend von ihm. Doch erreichte er mit seinem Widerstand nicht das Geringste: Tchampas Blick drang ihm auch weiterhin in die Seele. Da ließ der Manufakturleiter sich schließlich seinem Gast gegenüber auf dem Boden nieder und sagte:
»Also gut, wir sind quitt. Doch solltest du deine Leser warnen. Wegen der Medizin. Damit sie nicht wie ich Falsches erwarten und dann enttäuscht sind …
Weißt du, von einem Dreckskerl, wie es hier so viele gibt, enttäuscht zu werden, ist nicht wirklich schlimm. Eigentlich kann so jemand dich gar nicht enttäuschen. Schließlich erwartest du von so einem ohnehin nichts. Doch wenn einer kommt wie du, und man seine ganze Hoffnung daran hängt, den von dir ausgestrahlten Frieden für sich selbst zu erlangen, die innere Stärke zu gewinnen, die du mir soeben bewiesen hast, indem du nicht zurückgeschlagen hast … also wenn man von so einem enttäuscht wird, dann sitzt das dermaßen tief … Das macht so unglaublich wütend, … dass es auch nichts nützt, wenn der Verstand begriffen hat, was du da alles geschrieben hast.
Bloßes Verstehen reicht nicht aus, man muss es auch fühlen können – und das tun wir hier nicht. Du kennst das aus deiner eigenen Erfahrung, und ich habe es dir soeben noch einmal vorgeführt: In dieser Welt besteht die einzige Antwort auf alles in Gewalt. Wenn man das von klein auf nicht anders kennt, fällt es einem schwer, ja erscheint es einem geradezu unmöglich zu glauben, dass es anders sein könnte. Du aber hast mir heute an deinem eigenen praktischen Beispiel bewiesen, dass das, was du mir mit deinem Buch an Geschichten aufgetischt hast, tatsächlich auch von einem umsetzbar ist, der hier bei uns geboren und aufgewachsen ist.
Das ist so … wunderbar … Hoffnung stiftend … Verfluchte Scheiße, jetzt flenn ich dir doch tatsächlich was vor!«
Auf dieses Bekenntnis entgegnete Tchampa zunächst einmal nichts, sondern begab sich zu dem Gequälten hinüber und umarmte ihn sanft.