Messermann und Hüter

»Sag mal, bist du schwul, oder was?«, fragte der Messermann von der Umarmung durch Tchampa peinlich berührt, da er noch nie Zärtlichkeit von einem Mann erfahren hatte. Obwohl dem Traumyogi bewusst war, weshalb der Bekannte seiner Eltern diese Frage gestellt hatte, rückte er angesichts der rechtlichen Brisanz dieser Frage sogleich von diesem ab und entgegnete vorsichtig:

»Wie kommst du denn darauf?«

»Nun ja, all die Damen, die seit Wochen vor Verliebtheit vergehend um dich herumscharwenzeln, lässt du freundlich abblitzen, und an mich alten Kerl machst du dich plötzlich heran. So unangenehm mir das ist, werde ich dich nicht verraten. Schließlich erinnere ich mich noch daran, dass du als Mädchen aufgewachsen bist.

Bisher hatte ich gedacht, dass das bei uns nicht viel heißt. Immerhin haben Mädchen dieselben Aufgaben wie Jungen und tragen mit den Uniformen, an denen man den Beruf der Eltern erkennt, auch keine andere Kleidung. Möglicherweise habe ich mich aber geirrt. Was du in deinem Buch so alles an Perversitäten beschreibst … Nach deinem Geschlechtswechsel hast du Schlimmes erlebt. Das hat dir vermutlich weit grö­ßeren Schaden zugefügt, als man dir anmerkt … Was ich damit sagen will, ist, dass es nicht deine Schuld ist, an dieser … besonderen Krankheit zu leiden, nur solltest du vorsichtig sein …«

Auf diese Ausführungen hin erklärte Tchampa:

»Entschuldige, du hast mich missverstanden. Ich hätte niemals gedacht, dass es jemandem unangenehm sein könnte, von einem Freund getröstet zu werden. Verzeih. Du hast mein Verhalten völlig falsch interpretiert … Eigentlich hatte ich nicht davon sprechen wollen, weil ich dachte, mein Privatleben sei eben privat … Dort, wo ich die letzten zwölf Jahre verbracht habe … Als ich weggegangen bin, habe ich viele mir sehr ans Herz gewachsene Menschen zurückgelassen – auch Frau und Kind …«

»Was?«, schrie der Messermann ebenso entsetzt wie verwirrt auf, bevor er Tchampa vorwarf:

»Du hast doch gesagt, du seist ein Mönch – und dass das bedeutet, Keuschheit gelobt zu haben! Ich hab dieses Versprechen ja von vornherein für eine seltsame Idee gehalten, doch wieso erzählst du mir, du würdest enthaltsam leben, wenn es gar nicht stimmt?«

»Es ist wahr. Doch habe ich dieses Gelübde nicht gleich bei meiner Ankunft in jener Welt abgelegt … Zu Beginn war es trotz der dort herrschenden wunderbaren Bedingungen sehr schwierig für mich. Zwar hatte ich sogleich einen väterlichen Freund gefunden, der mir ungemein geholfen hat, doch war ich anfangs trotzdem sehr einsam: Alles dort war vollkommen anders als hier. Und während ich noch mit dem zu kämpfen hatte, was ich hier hatte erleben müssen, litt ich bereits unter den dort geträumten Geschichten. Du hast diese bloß als Leser nachempfunden, ich aber habe sie erlebt, als seien sie die Realität. Mein Trostbedürfnis war daher ungemein groß, während ich mich gleichzeitig auf eine bis dahin ungekannte Art und in einem in meinem alten Leben schier unvorstellbaren Ausmaß lebendig fühlte …

Mein Mentor und ich haben abgeschieden von jeglicher Zivilisation in einer Höhle gelebt. Doch kamen immer wieder einmal Besucher zu uns, die uns Proviant oder andere kleine, nützliche Geschenke brachten. Unter ihnen gab es eine junge Frau, die mir gleich nach dem ersten Zusammentreffen nicht mehr aus dem Sinn gegangen ist. Da auch sie ständig an mich denken musste, kam sie das nächste Mal ohne jegliche Begleitung. Der alte Mann, der für mich so etwas wie ein Großvater war, ließ uns taktvoll allein, damit wir uns unter vier Augen unterhalten konnten.

Hatten wir beim ersten Mal bloß Händchen gehalten, kamen wir uns bei ihren nächsten Besuchen nicht nur geistig, sondern auch körperlich immer näher. Da brachte sie auf einmal ihre Eltern mit, weil die mich kennenlernen wollten, ich die weitere Umgebung der Höhle jedoch niemals verließ …

Nun ja, was soll ich sagen? Nach anfänglichem Erklärungsbedarf, der von meiner durch die mit dem Tod gemachten, in der Welt der Mediziner-Klans ganz selbstverständlich zum Alltag dazugehörenden Erfahrungen verursachten Gewohnheit hervorgerufen worden war, nicht mit allzu vielen und detaillierten Zukunftsplänen belastet zu leben, haben ihre Eltern uns ihren Segen gegeben. Dabei hatte ich sie genauso wie meine Liebste von Anfang an wissen lassen, dass ich mit größter Wahrscheinlichkeit eines Tages hierher zurückkehren würde, um die Hiesigen zu lehren, was ich aus meinen Träumen zu lernen erhoffte.

Die meisten Menschen in jener Welt sind sehr verständnisvoll. Daher hat meine neue Familie den Weg, zu dem ich mich berufen fühlte, von vornherein akzeptiert. Und niemand hat es später als Schande angesehen, als meine Gattin einen weiteren Mann geheiratet hat, der unser gemeinsames Kind in meinem Sinne aufgezogen hat. Es mag dir seltsam vorkommen, doch habe ich nie aufgehört, meine Frau und meine Tochter zu lieben – nur habe ich es später nicht mehr wie ein Ehemann getan … Alles in allem war es nicht leicht für mich, die von mir in jener Welt aufgebaute Existenz aufzugeben und so viele geliebte Menschen zurückzulassen.«

»Aber wieso hast du dieses Paradies denn überhaupt verlassen? Du hättest doch dableiben können!«

»Nein, das hätte ich nicht. Mein Gewissen hätte mir dies nicht verziehen – genauso wenig wie die Menschen dort drüben das getan hätten. Sie hätten zu Recht an sämtlichem mit mir Zusammenhängenden gezweifelt, hätte ich die Leidenden in diesem Teil der Welt um eines persönlichen Vorteils willen hilflos ihrem Schicksal überlassen. Der von mir gefundene Weg aus dem Leiden war von Anfang an für alle Menschen gedacht, nicht bloß für Paradiesbewohner …«

»Scheiße!«

»Nicht doch! Ein entsetzliches Wort.«

»Verzeih.«

»Schon gut.«

Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens fragte der Messermann schließlich:

»Und wie geht es jetzt weiter? Wie willst du dein Traumbuch unter die Leute bringen, ohne dass sie es dir um die Ohren hauen wie ich?«

»Gar nicht. Es war von vornherein ausschließlich für Menschen bestimmt, die es so unbedingt lesen wollen, dass sie darum bitten, es tun zu dürfen, für solche, die offen genug sind, von in dieser Gesellschaft für selbstverständlich Gehaltenem Abweichendes nicht sogleich zu verdammen, ja sogar die darin enthaltenen Tabubrüche verstehen zu wollen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Meinst du, ich wüsste nicht, dass der Boden für eine solche Saat wie diese Schrift erst geebnet werden muss? Durch deine Reaktion auf das Buch fühle ich mich in dieser Einschätzung bestätigt. Du hingegen hast den Test bestanden. Du hast den Job.«

»Was in aller Welt meinst du?«

»Messermann, ich möchte, dass du der Hüter des Traumbuchs wirst …«

»Nein, den Wunsch kann ich dir nicht erfüllen! Vor dir sitzt ein alter Mann, der sicher bald stirbt. Und außerdem – wer bin ich schon?«

»Du bist der Erste – der Erste, der mir so sehr vertraut hat, dass er das gesamte Werk gelesen hat – trotz allen Widerstands. Der Erste, der sich so sehr davon berührt gefühlt hat, dass er mich verprügelt hat …«

»Tut mir echt leid, Mann …«

»Schon gut. Überdies bist du der Einzige, dem ich diese über Jahre mühevoll beschriebenen Blätter anvertrauen kann, wenn ich bald verhaftet werde. Nein, sag jetzt bitte nichts. Ich weiß, dass dies in Kürze geschehen wird. Doch ist das nicht schlimm – solange du meinen Schatz hütest.

Ja, du bist alt, das ist wahr. Doch besteht neben den bereits genannten Punkten gerade darin deine Qualifikation: Du hast dir genau die Art Weisheit angeeignet, die es in dieser von Gewalt wie Unterdrückung geprägten Welt braucht, um zu überleben, ja sogar ein halbwegs gutes und anständiges Leben zu führen. Du hast die Deinen in diesem Sinne geprägt und erzogen. Solltest du sterben, wird deine älteste Tochter das Amt des Hüters übernehmen …«

»Wieso meine Tochter und nicht mein Sohn?«

»Weil sie deine durchtriebene Art in weit größerem Ausmaß geerbt hat als er. Mir geht es nicht um das Geschlecht oder das Alter, sondern um die Eignung. Das Traumbuch muss also nicht notwendigerweise von Tochter zu Tochter oder von Ältestem zu Ältestem weitergegeben werden. Hüter oder Hüterin sollte werden, wer es am besten zu beschützen weiß – und von dem man dies trotzdem am wenigsten vermutet.«

»Tchampa, du sprichts, als wolltest du das Buch nicht wieder an dich nehmen, wenn du entlassen wirst.«

»Ist man in diesem Land erst einmal verhaftet, weiß man nie, was geschehen wird. Daher ist es besser, Vorsorge zu treffen – insbesondere, da ich denke, dass es ohnehin vorteilhafter wäre, erlaubten wir den Mächtigen nicht gleich Zugriff auf beide Wissensspeicher. Insofern macht es Sinn, mich jetzt von dem Buch zu trennen. Nur eine Bitte hätte ich noch.«

»Und die wäre?«, fragte der Messermann seine Emotionen noch stärker als üblich zügelnd.

»Dass du heimlich eine Abschrift anfertigst. Die Existenz des Traumbuchs ist kein Geheimnis. Doch denkt da selbst­verständlich jeder an die von mir mitgebrachten Seiten. Im Notfall sollte der Hüter daher das Original opfern, sodass der Eindruck entsteht, damit habe man das Buch ein für alle Mal vernichtet. Gleichzeitig jedoch bewahrt der dieses Werk Schützende die unbekannte Kopie – sowohl für die Nachwelt als auch für die Vertrauenswürdigen, die bereit sind, sich auf diese Schrift einzulassen.

Messermann, hiermit frage ich dich noch einmal ganz direkt: Wirst du mir meine Bitte erfüllen und dich zum Hüter meines Schatzes machen?«

»Ja, Meister, das werde ich. Ich verspreche es dir und danke dir für das in mich gesetzte Vertrauen.«

»Ich danke dir, mein Freund.«

Von dem Tag an, da der Messermann der Bitte Tchampas nachgegeben hatte, sich zum Hüter des Traumbuchs zu machen sowie eine Kopie von diesem anzufertigen, stand er zu nachtschlafender Zeit auf. Solange die Welt um ihn herum noch ruhte, zog der Geschäftsmann sich in einen geheimen Raum zurück. Diesen hatte er vor langer Zeit zur Aufbewahrung von für den Widerstand gegen das Krieg führende Regime gedachten Artikeln angelegt, die niemals den Weg in die offizielle Produktionsstatistik gefunden hatten. Hier schrieb er mit großer Sorgfalt und um eine schöne Handschrift bemüht ab, was auf den von seinem erwachten Meister mitgebrachten Blättern stand. In seiner Vorstellung hörte er den Icherzähler dabei mit Tchampas Stimme sprechen: